Macht das Arbeiten in Startups krank?

Es ist zwei Uhr morgens in Colorado. Sarah Jane Coffrey schreckt hoch und checkt panisch ihre E-Mails. Sie hat Angst, dass sie eine wichtige Nachricht verpasst hat – obwohl sie mal wieder bis in die Nacht gearbeitet hat. Sie ist nicht nur müde, sie ist erschöpft, am Ende ihrer Kräfte. So hatte sie sich das glamouröse Startup-Leben nicht vorgestellt. Rückblickend erinnert sie sich an ihre schlimmsten Momente ihrer ersten Startup-Erfahrung: „Bald fing ich an, bei der Arbeit zwei oder drei Mal die Woche auf der Toilette zu weinen. Es gab zwar manchmal konkrete Gründe für die Tränen, aber meistens weinte ich aus dem starken Gefühl der Überwältigung heraus.“

Wenn der Mythos Startup zu bröckeln beginnt

Das widerspricht eigentlich komplett dem Image der Gründerszene. Denn wohin man schaut, Startups sind der letzte Hype. Gründer sind die neuen Rockstars. Sie sind kreativ, verändern die Welt und durchbrechen festgefahrene Strukturen der Arbeitswelt. Wer möchte nicht in so einem Umfeld arbeiten?

Menschen wollen, dass ihre Arbeit bedeutungsvoll ist. Sie wollen etwas beeinflussen, ihre Talente nutzen, wertgeschätzt werden. Und sie wollen natürlich auch mit ihrer harten Arbeit die Karriereleiter schneller erklimmen als sie das je in einem klassischen Unternehmen könnten.“ So erklärt zumindest Sarah Jane Coffrey im Netzpiloten-Gespräch die Faszination, die die Gründerszene auf viele ausübt. Doch was, wenn dieser Mythos anfängt, zu bröckeln?                                           

sjseriousheadshot
Sarah Jane Coffrey by Sarah Jane Coffrey

Sarah Jane Coffrey ist nicht die einzige, die mit viel Enthusiasmus bei einem Startup zu arbeiten anfing und dann, nach Monaten oder sogar Jahren, in denen 60-Stunden-Wochen die Norm sind, in ein tiefes Loch fällt. Miriam Goos, Neurologin und Gründerin von Stressfighter Experts, einer Burnout-Prävention-Firma, kennt viele solcher Beispiele aus ihrer täglichen Arbeit: „Je höher wir fliegen, desto tiefer können wir fallen“, sagt Goos. Was so poetisch klingt, ist für Betroffene aber alles andere als romantisch. Denn sie leiden meist unter Burnout, Depression, sozialer Vereinsamung – oder allem zusammen. 

Gerade Gründer haben nach Meinung von Goos diese große Fallhöhe. „Anders als Angestellte in einem langweiligen Bürojob, um es mal ganz platt zu sagen, wissen Gründer sehr genau, warum sie arbeiten. Sie verwirklichen ihre eigenen Ideen und oft steckt natürlich auch noch viel Eigenkapital im Startup. Da ist die Motivation natürlich sehr hoch“, erklärt Goos gegenüber den Netzpiloten.

Hohe Ideale, große Ziele und persönliche Investitionen sind natürlich riesige Antriebe, um voll durchzupowern. Das wäre an und für sich etwas sehr Positives. Problematisch wird es aber dann, wenn diese hohen Erwartungen nicht erfüllt werden. Gerade bei Startups, wo vieles noch im Anfangsstadium ist und Gründer sich selbst unter sehr viel Zeit- und Gelddruck setzen, können diese Erwartungen schnell enttäuscht werden. Die Folge: Burnout.

Wie eine Sucht

Deshalb vergleicht Miriam Goos die Vorgänge von Burnout im Gehirn durchaus mit einem Suchtverhalten. „Wenn Gründer ihre ersten Ideen umsetzen und Erfolge haben, wird das Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert und es kommt zur Dopaminausschüttung. Dieses Glücksgefühl macht süchtig und ist so stark, dass Gründer weitermachen. Wenn dann aber die Stimuli überraschend ausbleiben, weil etwa der gewünschte Umsatz oder ein bestimmtes Ziel nicht erreicht wurden, sinkt die Dopaminkonzentration stark ab. Man fällt in ein Loch. Daraus entsteht eine Unsicherheit und auch Angst vor dem ausbleibenden Erfolg, das Immunsystem leidet und auch die emotionale Stabilität und die geistige Leistungsfähigkeit sinken ab.“

Nicht selten führt das bei Gründern tatsächlich auch zu Drogenkonsum. Vor allem Drogen, die die Performance steigern, seien bei Gründern beliebt, sagt Goos. Sarah Jane Coffrey hat in der Startup-Szene in Denver vor allem exzessiven Alkoholkonsum erlebt. Der eine oder andere Drink nach der Arbeit sei sicher okay, doch die Trinkkultur, die sie erlebt hat, deute darauf hin, dass man mit Alkohol tiefere Probleme kaschiere, sagt Coffrey: „Wenn das Team sich regelmäßig betrinkt und das Dampf ablassen nennt, weil alle kontinuierlich Überstunden schieben, dann ist das kein Stressventil, dann ist das ein Zeichen dafür, dass etwas gewaltig kaputt ist.“

Tabu-Thema Burnout in der Gründerszene

miriam-goos-by-philipp-goos
Miriam Goos by Philipp Goos

Goos ist überzeugt davon, dass die Erlebnisse von Coffrey auch auf Deutschland zutreffen, auch wenn das Thema „Drogenproblematik“ in der Startup-Szene hierzulande noch absolut Tabu ist. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass es zum Beispiel noch nicht mal eine offizielle Anlaufstelle für Gründer gibt, die über Probleme wie Stress oder Burnout sprechen möchten.

Dabei wäre es wichtig, die Burnout-Symptome früh zu erkennen. Zu Miriam Goos kommen die meisten Kunden erst, wenn sie am Ende sind. Sie leiden unter Schlaflosigkeit, hohem Blutdruck, ernähren sich mangelhaft, arbeiten ohne Unterlass und gehen dabei sehr hart mit sich selbst ins Gericht. Die meisten ihrer Klienten beschweren sich aber darüber, dass sie nicht abschalten können. „Sie haben eine ständige Autobahnfahrt ihrer Gedanken im Gehirn und müssen erstmal lernen, das Tempo wieder herauszunehmen. Ich nehme sie dann zum Beispiel mit zu einem Spaziergang und dann üben wir bewusst ganz, ganz langsames Gehen. Das allein schon fällt den meisten unglaublich schwer.“

Leider wird diese „Always-On-Mentalität“ selten als etwas Problematisches erkannt, sagt Coffrey: „Was das Ganze noch schlimmer macht ist ja gerade die Tendenz dazu, diesen sehr intensiven Lebensstil als etwas Glamouröses darzustellen. Ich zucke jedes Mal zusammen, wenn ich einen Tweet über die Arbeit um drei Uhr morgens mit dem Hashtag #startuplife sehe. Das ist doch nicht sexy, das ist  sehr traurig.“

Coffrey selbst hat ebenfalls lange gebraucht, um sich einzugestehen, dass ein solches Leben ungesund ist. Mittlerweile arbeitet sie bei Reboot, einem Unternehmen, das Startups coacht. Doch der Prozess der Selbsterkenntnis ist lang und schwierig. Daher wäre es wichtig, die Anzeichen von Burnout in Startups nicht zu verherrlichen oder zu ignorieren, sondern offen zu diskutieren.

„Manchmal reichen auch 80 Prozent“

nora-wohlert-und-susann-hoffmann-2016-by-jennifer-fey
Susann Hoffmann und Nora-Vanessa Wohlert by Jennifer Fey

In Deutschland trauen sich mittlerweile, wenn auch noch sehr vereinzelt, die ersten Gründer, offen über die Schattenseiten von Startups zu sprechen. Dazu gehört auch Nora-Vanessa Wohlert, Mitgründerin des Webmagazins Edition F. Im ersten Unternehmensjahr versuchten sie und ihre Geschäftspartnerin Susann Hoffmann ein tolles Magazin auf die Beine zu stellen, ein kleines Team zu leiten, eine Unternehmenskultur aufzubauen und Investoren zu finden – und all das natürlich auf einmal. „Die Wahrheit ist: Gründen ist herausfordernd. Immer wieder kommen Zweifel. Ängste. Harte Entscheidungen. Die Sorge um das Geld. Die Sorge um den Erfolg. Erwartungen. Zeitmangel“, schreibt Wohlert über ihre eigene Erkenntnis, dass das Startup-Leben nicht immer so glamourös ist, wie es klingt. 

Etwa ein Jahr ging das so, bis Wohlert klar wurde, dass sie so nicht mehr weitermachen wollte: „Ich hatte in dem Jahr keinen Urlaub, habe mir kein Gehalt gezahlt und mir selbst auch einfach nichts gegönnt. Ich habe mir zum Beispiel in eineinhalb Jahren wirklich gar nichts für mich selbst gekauft“, erinnert sie sich im Gespräch mit den Netzpiloten. Erst als ein Unbekannter sie bei Facebook fragt, wann sie anfangen würde zu leben statt zu arbeiten, macht es Klick bei Nora-Vanessa Wohlert.

Sie hatte die Warnungen ihres Umfelds größtenteils ignoriert, sich selbst nie eine Pause gegönnt und sich selbst auch nie die Zeit genommen, sich zu den vielen kleinen und großen Erfolgen als Gründerin zu gratulieren. „Ich habe zum Glück mittlerweile einen Weg gefunden, mir selbst das Abschalten zu erlauben. Ich habe erkannt, dass ich ersetzbar bin – und dass das eine Entlastung ist. Auch habe ich meinen Perfektionsdrang etwas gedrosselt, manchmal reichen auch 80 Prozent.“ Das scheinen bei Wohlert keine leeren Worthülsen zu sein – sie bereitet sich gerade auf ihren Urlaub nach Thailand vor.


Image „burnout“ by moritz320 (CC0 Public Domain)


begann ihren journalistischen Werdegang bei kleinen Lokalzeitungen und arbeitete dann während ihres Studiums als Reporterin für den Universitätsradiosender. Ihr Volontariat machte sie bei Radio Jade in Wilhelmshaven. Seit 2010 hat sie ihren Rucksack gepackt und bereist seitdem rastlos die Welt – und berichtet als freie Journalistin darüber. Über alle „inoffiziellen“ Geschichten schreibt sie in ihrem eigenen Blog fest. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

2 comments

  1. Vielen Dank für die ehrlichen Worte zu Erfahrungen im Start up – Unternehmen. Ich kann mir gut vorstellen, welchem Druck man dort ausgesetzt ist. Mein Schwiegersohn ist FSMA-Moderator. Er überlegt geraade, ob er in das neu gegründete Unternehmen seines Onkels wechseln soll. Gut, dass ich diese Seite gefunden habe.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert