Selektorenliste: Wie sich das Kanzleramt hinter den USA versteckte

Mitarbeiter der US-Regierung widersprechen der bisherigen Darstellung der Bundesregierung, der zufolge die USA Deutschland die Offenlegung der kontrovers diskutierten Selektorenliste vor dem NSA-Untersuchungsausschuss untersagt haben. Man habe zwar Bedenken angemeldet, die Entscheidung aber den Deutschen überlassen, heißt es aus Kreisen der Obama-Regierung. Wenn das stimmt, hat die Bundesregierung die Bevölkerung – nicht zum ersten Mal – angelogen und sich feige hinter angeblicher Repression durch die USA versteckt.

Die NSA-Selektorenliste: Beweis für erhebliches Fehlverhalten der Geheimdienste

Die fragliche sogenannte Selektorenliste dokumentiert die Zusammenarbeit des US-Geheimdienstes NSA und des Bundesnachrichtendienstes (BND) im Rahmen der “Operation Eikonal”. Auf ihr sind rund 40.000 Suchbegriffe, IP-Adressen und andere sogenannte Selektoren hinterlegt, nach denen sich der BND bei seiner Telekommunikationsüberwachung richten und die Ergebnisse an die NSA weitergeben sollte, die jedoch vom BND als unzulässig aussortiert wurden.

In dieser Selektorenliste verbergen sich sehr brisante Informationen, die beweisen, wie sehr das Verhalten der NSA teilweise europäischen Interessen zuwider lief. So gab der BND-Mitarbeiter Brigadegeneral Dieter Urmann im NSA-Untersuchungsausschuss zu, dass die NSA mit “Eikonal” unter anderem Informationen über strategisch wichtige Unternehmen wie EADS und Eurocopter, sowie über die Behörden von Deutschlands Nachbarländern (vor allem Frankreich) erlangen wollte.

Davon abgesehen, dass hier – wieder einmal – der Verdacht der Wirtschaftsspionage durch staatliche Stellen im Raum steht, scheinen die Informationen auch strategisch eher auf eine Konkurrenz mit Europa als auf die viel zitierte Zusammenarbeit heraus zu laufen (keine Überraschung angesichts der US-Diplomatie und -Außenpolitik der letzten Jahre, offen gelegt unter anderem durch WikiLeaks und “Cablegate”). Zumal ja die Frage bleibt, welche Selektoren dem BND womöglich “durchgerutscht” sind oder als weniger kritisch eingestuft wurden, aber dennoch deutsche und/oder europäische Interessen berühren. Es gab auf jeden Fall mehrere Fälle, in denen europäische Ziele auch mit Hilfe des BND ausspioniert wurden. Das aber heißt, dass Deutschland und Europa ein Interesse daran haben sollten, sich vor dem übergriffigen, um nicht zu sagen imperialistischen Verhalten der USA zu schützen und gleichzeitig ihre eigenen Geheimdienste stärker zu kontrollieren. Davon allerdings ist derzeit nicht viel zu sehen.

Herausgabe an den NSA-Untersuchungsausschuss verboten?

Die Selektorenliste ist – richtiger Weise, dokumentiert sie doch ein potentiell erhebliches Fehlverhalten der Geheimdienste – auch Thema im NSA-Untersuchungsausschuss. Dieser allerdings bekam die Liste selbst nie zu Gesicht. Der Einzige, der die Selektorenliste einsehen durfte, war bislang ein – durchaus kontroverser – Sonderermittler. Die Begründung der Bundesregierung: die US-Regierung unter Barack Obama habe die Herausgabe der Selektorenlisten an den NSA-Untersuchungsausschuss verboten, habe gar gedroht, die Geheimdienst-Kooperation komplett einzustellen, wenn die Selektorenlisten in dieser Form weiter gegeben werden.

Dem widerspricht nun ein Artikel der Zeitung “Die Zeit”. In diesem werden Mitarbeiter der Obama-Regierung mit der Aussage zitiert, das Weiße Haus habe der Bundesregierung niemals untersagt, dem Ausschuss die Selektorenlisten vorzulegen. Zwar habe die US-Regierung diesbezüglich Bedenken geäußert (die Kritik “bei euch steht doch alles am nächsten Tag in der Zeitung” kann übrigens in meinen Augen durchaus als großes Lob an Deutschlands Journalisten und Aktivisten durchgehen), ein Verbot habe es jedoch niemals gegeben. Die letzte Entscheidung über eine Freigabe der Liste sei letztendlich der Bundesregierung überlassen worden. Auch sei es eine “absolute Mär”, dass die US-Regierung für den Fall einer Offenlegung der Liste mit einer Einschränkung der Geheimdienstkooperation gedroht habe.

Feige Lügen des Kanzleramts

Natürlich ist es möglich, dass es sich bei den Aussagen der US-Offiziellen um gezielte Desinformation handelt (immerhin reden wir vom notorisch unehrlichen, schmutzigen Geheimdienst-Geschäft). Allerdings klingen die Aussagen glaubwürdig und es lässt sich auch nicht ohne weiteres erkennen, wie die US-Regierung von einer diesbezüglichen Lüge profitieren würde.

Wenn die Aussagen der US-Offiziellen stimmen, hieße das allerdings, dass die Bundesregierung die deutsche Bevölkerung dreist belogen hat. Durchaus vorstellbar, wäre es doch nicht das erste Mal, dass ein solches Ausmaß an Unehrlichkeit an den Tag gelegt wird, um die eigene Unfähigkeit (oder eher mangelnde Motivation), etwas gegen den Geheimdienst-Wildwuchs zu tun, zu vertuschen. Man nehme nur einmal die dreisten, feigen Lügen über die angebliche Bereitschaft der USA zu einem No-Spy-Abkommen. Ähnlich wie damals scheint der Fall auch jetzt wieder gelagert zu sein: die Bundesregierung lässt die USA in allzu vorauseilendem Gehorsam (und wahrscheinlich in der Hoffnung auf eigene Vorteile) gewähren und lügt darüber gegenüber der Bevölkerung. Im aktuellen Fall zeigt sich eine bestürzende Bereitschaft, den USA nicht nur erhebliche undemokratische Exzesse durchgehen zu lassen, sondern sie auch noch als Sündenbock vorzuschieben, wenn man selbst eine unpopuläre und wenig demokratische Entscheidung trifft. Um die USA muss man sich keine Sorgen machen, aber die Rückschlüsse, die dieses Verhalten auf Ehrlichkeit, Demokratieverständnis und Verantwortungsbewusstsein unserer Regierung zulässt, sind alles andere als erfreulich.

Nun, da die Lüge des Kanzleramts ans Tageslicht kam, sollten wir erheblichen Druck auf die Regierung ausüben, die Selektorenliste doch noch dem Untersuchungsausschuss vorzulegen. Wir haben das Recht, zu wissen, was politisch vor sich geht, und das Gremium, das in diesem Fall am ehesten ein wenig Transparenz schaffen kann, ist der NSA-Untersuchungsausschuss. Fordern wir die Wahrheit – und, wann immer wir können, auch Konsequenzen aus dieser. Nicht nur unsere Geheimdienste, sondern auch unsere Regierung belügt uns und betreibt Machtspiele im stillen Kämmerlein. Lassen wir es ihr nicht unwidersprochen durchgehen.


Image (adapted) „Surveillance“ by Jonathan McIntosh (CC BY-SA 2.0)

 

schreibt regelmäßig über Netzpolitik und Netzaktivismus. Sie interessiert sich nicht nur für die Technik als solche, sondern vor allem dafür, wie diese genutzt wird und wie sie sich auf die Gesellschaft auswirkt.


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