Livestreaming: Journalismus und Kampagnen in Echtzeit

Die neuen Möglichkeiten, die Livestreaming bietet, haben einen Hype ausgelöst. Aber verändern sie auch politische Kommunikation und Berichterstattung? Es begann mit der Einführung der iOS-App Meerkat beim diesjährigen Szene-Treff “South by Southwest” (SXSW), nun hat Periscope ebenfalls mit einer Anwendung für das mobile Livestreaming via Twitter nachgezogen. Obgleich die Video-Übertragung von Ereignissen mittels Smartphone kein neues Phänomen darstellt, wird von den aktuellen Anwendungen sowie speziellen Geräten ein Durchbruch erwartet, der auch Bürgerjournalismus und Kampagnenkommunikation betrifft. Experten gilt der individuell erstellte Livestream gar als Game Changer für den anstehenden Wahlkampf um die US-Präsidentschaft.

Nach seinen Innovationen für die digitale Regierungskommunikation von Obama hatte Dan Pfeiffer gerade den Dienst für das Weiße Haus quittiert, da entdeckte er beim Festival SXSW in Austin etwas Neues. “How Meerkat is Going to Change the 2016 Election for Every Campaign, Reporter and Voter”, erklärte er in einem Mini-Manifest. Darin zeigte er sich spontan begeistert von der Möglichkeit, die Gatekeeper-Funktion der Massenmedien auch im Bereich der Live-Berichterstattung weiter zu relativieren. Ähnlich wie bei den von ihm arrangierten Interviews des Präsidenten mit Plattformen wie Buzzfeed und Vox, hat er dabei vor allem den Strukturwandel der Öffentlichkeit im Auge: Die audio-visuellen Inhalte sind nun für das Endgerät optimiert, das für wichtige Zielgruppen im Zentrum ihrer Mediennutzung steht.

The revolution will be livestreamed!

Die Integration in das Twitter-Universum unterscheidet die Apps auch von anderen Optionen, die schon länger genutzt werden, deren Videos aber den Umweg über den Browser gehen. Bereits der Arabische Frühling und die Occupy-Bewegung wurden mit Livestreams auf Plattformen wie Bambuser und Ustream begleitet. Periscope sieht sich selbst in dieser Tradition des medialen Empowerment, wie das von Twitter erworbene Startup in einem Beitrag zur Einführung der App nahelegt: “What if you could see through the eyes of a protester in Ukraine?”. Der Livestream im sozialen Netzwerk steigert dabei die Unmittelbarkeit sowie die virale Verbreitung der Übertragung, gleichzeitig ist eine bruchlose Interaktion via Chat mit dem Ein-Personen-Sender möglich.

Derweil liegen schon spezifischere (Hardware-)Lösungen vor: Die Plattform Livestream.com hatte bereits eine App für Google Glass programmiert und stellte kürzlich ein neues Gerät vor. “Broadcaster mini” ist eine kleine Box, die Kameras mit HDMI in Verbindung mit einer Smartphone-App kabelloses HD-Livestreaming ermöglicht. CNN berichtet darüber, dass dieses System in den USA zum professionellen Tracking im Wahlkampf genutzt wird: Der politische Gegner wird von einem einzelnen Kameramann bei seinen öffentlichen Auftritten gefilmt und das Material in einer Zentrale direkt ausgewertet. So kann jede problematische oder peinliche Äußerung in wenigen Minuten zum viralen Video des Negative Campaigning werden.

Das panoptische Potenzial des Periskops

Andere feiern die neuen Anwendungen als Killer-Applikation des Bürgerjournalismus:

We’re ready for the new news, and that’s the promise that Periscope, Meerkat and whatever else comes next delivers. News told as first-hand streams: this is what I’m seeing, you can see it too. (…) It’s the hundreds of potential cameras live on the scene before the media truck arrives. It’s the citizens‘ right to record materialized

, schreibt Sarah Perez. Das erinnert dann allerdings schon an die Dystopie, die Dave Eggers in seiner Google-Kritik “The Circle” entwirft: Zu Beginn des Romans stellt das Unternehmen “SeeChange” vor, eine Mini-Kamera, deren Livebilder mittels des sozialen Netzwerks verbreitet werden und zu einer umfassenden politischen Transparenz führen sollen, die freilich Überwachungscharakter hat.

“Livestream ist der neue Mainstream„, meint Richard Gutjahr, der Periscope vorab getestet hat und die Nutzung der App wenig später am Beispiel einer Gasexplosion in New York diskutiert. Sein Fazit relativiert vor allem die zu vermutende Diskrepanz zwischen Profis und Amateuren hinsichtlich einer informativen Berichterstattung. Dirk von Gehlen erkennt in den diversen Live-Formaten hingegen einen Trend, bei der die Berichterstattung nur eine Facette eines übergreifenden Livejournalismus darstellt: “Durch die Digitalisierung werden Inhalte nicht mehr nur dokumentierbar, man kann sie erleben”, proklamiert der Leiter des Bereichs “Social Media/Innovation“ bei der Süddeutschen Zeitung auf seiner gerade gelaunchten Website LIVEjournalismus.de. Von Gehlen präsentiert unter diesem Titel eine Sammlung von Ideen für ereignishafte und kollaborative Angebote mit dem Ziel, neue “Geschäftsmodelle im digitalen Raum” zu eruieren. Die Livestreaming-Apps sind also ein weiterer Anwendungsfall des durch digitale Medien evozierten Wandels, der eine echte Herausforderung für viele etablierte Akteure darstellt.


Image (adapted) „Jaros?aw Kaczy?ski“ by Piotr Drabik (CC BY 2.0)


ist Politikwissenschaftler und zu seinen Schwerpunkten zählen Erinnerungskultur 2.0, Netzpolitik und politische Online-Kommunikation. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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