Das Selfie hat mehr mit Kapitalismus zu tun als mit Narzissmus

Das Smartphone-Selbstporträt, kurz Selfie genannt, ist weniger Ausdruck unserer Selbstverliebtheit als vielmehr Selbstvermarktung in ökonomisch schwierigen Zeiten. Frontkameras von Smartphones gepaart mit Social-Media-Diensten wie Facebook und seiner Tochter Instagram haben einen Trend ausgelöst, der sogar offiziell im Oxford Dictionary steht und 2013 zum englischen Wort des Jahres gewählt wurde: Selfie. Die Selbstporträts auf Armlänge, die vom Teenager bis zum Hollywoodstar schon viele Millionen Menschen gemacht haben, sind ein Ausdruck des weit verbreiteten Narzissmus, wird oft analysiert. Doch diese Erklärung greift zu kurz. Denn Selfies haben weniger mit Selbstverliebtheit als vielmehr mit Selbstvermarktung zu tun.

Das Selfie sei eine „Momentaufnahme unserer Seele„, die „Demokratisierung des Starkults„, ein „neues visuelles Genre„, liest man derzeit. Allesamt spannende Gedanken zu den Selbstporträts, doch eine gute Erklärung, warum so viele Menschen Selbstporträts im Netz veröffentlichen, liefern sie nicht. Oft kreist die Selfie-Debatte – auch durch mein Zutun, wie ich zugeben muss – um den Narzissmus als Ursache des Phänomens. „Übertriebene Selbstbezogenheit, ein unersättliches Bedürfnis nach Anerkennung sowie die Übersteigerung des eigenen Selbst ins Grandiose“ – Selfies, die gerne an schönen Orten mit schönen Menschen und schönen Bildfiltern gemacht werden, passen gut zu der Definition von Narzissmus, wie sie etwa der deutsche Pädagoge Heinz-Peter Röhr in seinem Buch „Narzißmus – das innere Gefängnis“ gibt.

Unter Leistungsdruck

Doch sind nun wirklich alle Menschen, die auf den mehr als 200 Millionen mit dem Hashtag #me gekennzeichneten Instagram-Fotos zu sehen sind, Narzissten, die sich selbst über alles lieben und süchtig nach Bewunderung sind? Warum sieht man dann auch viele nachdenkliche, gelangweilte, ungeschminkte, übermüdete oder gestresste Leute auf den Bildern? Leute, die so aussehen, als würden sie gar nicht so recht wissen, wie sie posieren sollen, als wären sie unfreiwillig in den Fokus geraten? Und dann aber trotzdem auf “Upload” klicken? Wie kommen dann folgende Selfies zustande, wie ich sie kürzlich in den Social-Media-Streams sah: Einer, der sich selbst am Samstag auf dem Weg in die Arbeit fotografiert, eine andere hielt ihr Diplomzeugnis in die Kamera, ein anderer winkte von einer exklusiven IT-Konferenz?

Wer ein Selfie veröffentlicht, den treibt nicht allein seine innere Selbstverliebtheit, der wird auch von außen getrieben. Menschen in den USA, Europa oder Asien, wo die meisten Selfies gemacht werden, leben heute de facto in von Leistungsdruck und Gewinnstreben geprägten Gesellschaften, in denen immer stärker um immer weniger Ressourcen (v.a. Jobs, siehe Arbeitslosenraten in Südeuropa) konkurriert wird. Der Narzissmus, den wir in den Millionen Selfies sehen, hat seine Wurzel im Kapitalismus. „Gier ist ein zentrales Symptom der narzisstischen Bedürftigkeit der meisten Bürger der westlichen Konsumgesellschaften. Besonders ausgeprägt ist sie bei den Trägern gesellschaftlicher Macht anzutreffen: bei Politikern, Managern und Stars„, schreibt etwa der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz in seinem Buch „Die narzisstische Gesellschaft„.

Ökonomie der Aufmerksamkeit

Im Kapitalismus, oder sagen wir Marktwirtschaft, das ist leichter verdaulich, steht das Streben nach Gewinn an erster Stelle. Die Profilseiten auf Social-Media-Diensten, die von der staatlichen Behörden über Arbeitgeber bis zu Lehrern permanent gescreent werden können, werden von immer mehr Menschen als ihre Visitenkarte im Netz angesehen und dementsprechend gestaltet. Gut geführte Profile bei Facebook, Twitter oder Instagram sind Tools, mit denen der Einzelne versucht, aus der Masse zu stechen, indem er Reichweite (viele Follower, Fans, Freunde etc.) aufbaut und sich seine Ich-Marke im Netz schafft. Die Botschaften, die dann via Selfie verbreitet werden können, lauten nicht: „Seht her, wie schön ich bin!„, sondern: „Seht her, wie fleißig/erfolgreich/zielstrebig ich bin!“ In Jobanzeigen wird das, wofür das Selfie im Digitalen stehen, meist implizit gefordert, (kommunikativ, ausgezeichnetes Netzwerk, einwandfreies Auftreten, etc.), die Nachrichtenseite Stern.de hat das bei der Suche nach neuen Online-Journalisten Anfang des Jahres sogar explizit gemacht:

Sie wollen in einer Redaktion arbeiten, in der Kreativität, Experimente, humorvolle und unkonventionelle Zugänge zu Themen und Projekten erwünscht statt verboten sind? In der Ihr Instagram-Kanal, Ihr Blog oder Ihre Twitter-Credibility mehr zählen als Ihr formeller Lebenslauf? In der Ideen und Engagement wichtiger sind als Hierarchien?

Der Einzelne und die Masse

Damit sind Selfies wichtiger Teil einer Maschinerie, die über Erfolg und Nichterfolg entscheidet. Im Online-Journalismus, etwa bei Stern.de, ist eigene Social-Media-Reichweite bereits Grundvoraussetzung, um einen Job zu bekommen, und beim Online-Journalismus wird es nicht bleiben. Überall dort, wo Menschen mit anderen Menschen zu tun haben, wird Social-Media-Reichweite Teil des Humankapitals, vom Bankangestellten bis zum Kellner. Und damit haben Selfies ihre Wurzel nicht bloß im Narzissmus, sondern sind Vehikel zur Selbstvermarktung in einer Wettbewerbsgesellschaft, in der sich der Einzelne gegen die Masse durchsetzen muss.

Machen wir ein Gedankenexperiment: Würden wir morgen jedem Nordkoreaner, die in einem Land leben, in der der Einzelne nichts zählt und der Staat alles, ein Smartphone in die Hand drücken – würden sie überhaupt auf die Idee kommen, ein Selfie von sich im Internet zu veröffentlichen?


Image (adapted) „Selfie“ by Anke Allaert (CC BY 2.0)


ist seit 2006 publizistisch auf Papier und Pixel tätig. Er arbeitet in Österreich als Journalist und hat die beiden Sachbücher "Phänomen Facebook - Wie eine Webseite unser Leben auf den Kopf stellt" (2010) und "Digitaler Frühling - Wer das Netz hat, hat die Macht?" (2012) veröffentlicht. In seinem Blog “Jakkse.com” und in Vorträgen schreibt und spricht er gerne über die Menschen und ihr Internet – von Social Media über Mobile Business und Netzpolitik bis zu Start-ups.


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