Schöne neue Welt: Wir leben in einer Dystopie

Die orwellianische Dystopie vom Doppelsprech ist, aufgrund von Bedenken wegen Trumps „alternativen Fakten“ gerade ziemlich in Mode. Alternative Fakten, die mehr auf die weichen Gehirnwäschetechniken von Aldous Huxleys Roman Schöne Neue Welt als auf die strengen stalinistischen Unterdrückungen und propagandistischen Tricksereien von 1984 zurückzuführen sind, stellen jedoch nur die Spitze des dystopischen Eisberges dar.

Um die auf Huxley basierende Idee von aktuellen Ereignissen zu begreifen, müssen wir sie als einen Teil einer Kultur sehen, welche zunehmend von den Prinzipien der Neurowissenschaft eingenommen wurde, die ich als Neurokultur bezeichnet habe.

Die Anfänge der Neurokultur finden sich in anatomischen Zeichnungen und der darauffolgenden Neuronendoktrin des späten 19. Jahrhunderts. Dies war das erste Mal, dass das Gehirn als ein nicht kontinuierliches Netzwerk von Zellen, dessen Verbindung als synaptischer Spalt bezeichnet wird, verstanden wurde. Wissenschaftler nahmen zunächst an, dass diese Spalten mit elektrischen Ladungen verbunden werden, entdeckten jedoch später die Existenz neurochemischer Übertragungen. Gehirnforscher fanden weiterhin mehr über die Funktionalität des Gehirns heraus und haben später angefangen, in die zugrunde liegenden chemischen Prozesse einzugreifen.

Auf der einen Seite zeigen diese chemischen Eingriffe einen Weg zu möglichen Maßnahmen, um einige wesentliche Fragen, wenn es beispielsweise um psychische Gesundheit ging, zu verstehen. Auf der anderen Seite warnen sie jedoch vor dem Potential einer bevorstehenden dystopischen Zukunft – und zwar nicht, wie wir denken, durch die gewaltsame Erzwingung von Hirnuntersuchungen im geheimen Hinterzimmern, sondern durch weitaus subtilere Vermittlertätigkeiten.

Soma

Huxleys Schöne Neue Welt (erstmals erschienen im Jahr 1932) dreht sich um eine dystopische Gesellschaft, die nicht durch Furcht kontrolliert wird, sondern durch Glücks folgsam gemacht wird. Das Motto dieser Gesellschaft lautet, dass jeder jederzeit glücklich sei. Wie Alex Hern im Guardian argumentiert, präsentiert Huxley eine relevantere autoritäre Dystopie im Vergleich zu 1984, für die „das Leben für die überwiegende Mehrheit sehr angenehm ist und nur wenig Widerstand entsteht“. Die besten Dystopien sind oft als Utopien getarnt.

Huxley appelliert an emotionale Konditionierung, die mit heutigen dystopischen Neurokulturen am ehesten im Einklang ist. Er erwähnt die eindeutigen Vorteile der Vermeidung einer geistigen Auseinandersetzung, stattdessen appellierte er an emotionale Beeinflussbarkeit, um Absichten zu manipulieren und eine Nichtkonformität zu überwältigen.

Als solche kombiniert die Gesellschaft der Schönen Neuen Welt zwei zentrale Kontrollmodi. Zunächst durch den verbreiteten Konsum des Freude spendenden Pharmazeutikums Soma und zweitens durch eine hypnotische Medienpropagandamaschine, die weniger mit Logik als vielmehr mit „gefühlsbetonten“ Treffen arbeitet.

Heutige Neurokulturen korrespondieren mit diesen Technologien mittels auffälliger Methoden. Zunächst ergab sich aus der wachsenden Beliebtheit von Neuropharmazeutika wie Prozac ein Bedürfnis nach selbstverordnetem Glück innerhalb der Gesellschaft. Genauso alarmierend ist der Anstieg von Verschreibungen für ADHS-Behandlungen wie beispielsweise Ritalin, das aufmerksamkeitsregulierend wirkt und gleichzeitig sozial schwieriges Verhalten eindämmen soll. Der mentale Status eines ADHS-Betroffenen ist der einer paradox gefügigen Aufmerksamkeit.

Das Institut der emotionalen Konstruktion

Es können ebenso Vergleiche zwischen Huxleys Institut für emotionale Konstruktion und heutiger sozialer Medien hergestellt werden. In Huxleys Buch ist das Institut eine wichtige akademische Einrichtung, die sich im gleichen Gebäude befindet wie das Büro für Propaganda und einen einzigartigen Fokus auf emotionale Beeinflussbarkeit hat. In dieser Situation werden gefühlsbetonte Szenarien, emotionalen Parolen und hypnopädische Reime geschrieben. Diese Art von Propaganda ist für den Massenkonsum bestimmt, heutige emotionale Konstruktion findet in intimeren und ansteckenden Arenen sozialer Netzwerke statt.

Facebook nahm beispielsweise im Jahr 2014 an einem Experiment teil, das konzipiert wurde, um positive und negative Emotionen viral zu verbreiten. Forscher manipulierten die Nachrichtenticker von über 600.000 Benutzern, um die Weitergabe von positiven und negativen Emotionen an andere Benutzer in ihrem Netzwerk zu testen.

Die Idee, dass soziale Medien als Träger für sowohl ansteckende positive als auch negative Emotionen agieren, kann uns vielleicht helfen, zu verstehen, wie Trump es scheinbar geschafft hat, in die negativen Gefühle einiger desillusionierten Wähler der Vereinigten Staaten einzudringen. Die Vergiftung durch Fakenews ergibt eine gefährliche Mischung aus Angst und Hass. Der Großteil des populistischen Reizes, der Trump (und ebenso den Brexit) ausmacht, spielte mehr auf freudige Treffen mit prominenten Politikern an als auf solche, die mit der staubtrockenen intellektuellen Elite der konventionellen Politik vertraut sind.

Rosen oder Orchideen

Die Verbreitung der heutigen Neurokultur startete mit dem neurowissenschaftlich emotionalen Wandel der 1990er. Wissenschaftler realisierten, dass Emotionen sich nicht von purer Logik unterscheiden, sondern mit den kognitiven Netzwerken verstrickt sind. Es wird nun angenommen, dass die Art, wie wir denken und uns verhalten, zu einem nicht geringen Teil davon beeinflusst wird, wie wir uns fühlen.

Die seismische Beeinflussung dieser intensiven Verschiebung hat sich über die Wissenschaft hinaus auf ökonomische Theorien ausgebreitet, die sich mit den Neurochemikalien beschäftigen, die Käuferentscheidungen beeinflussen können. Es unterstreicht ebenso neue Modelle der Verbraucherwahl, die sich auf den „Schnäppchenjägeranteil“ in unserem Hirn fokussiert. Der Aufstieg der Neuroökonomie, und danach auch dem Neuromarketing, ergab weitere Unterkategorien wie Produktdesign und Markenbildung. Die Verbraucherentscheidung einer Marke wird nun anhand der Frequenz von Gehirnwellen gemessen, die mit bestimmten aufmerksamkeitstechnischen und emotionalen Zuständen korrelieren.

Vielleicht beinhaltet die Neurokultur nichts Neues. Werbetreibende versuchten, die Gefühlen seit dem Aufstieg der Werbung zu beeinflussen. So haben schon immer Politiker Säuglinge abgeküsst, um Nähe auszustrahlen. Vielleicht ist meine Idee der Neurokultur ein Beispiel der zynischerweise benannten Neurospekulation. In einer Zeit, die sich durch soziale Netzwerke und Medikamentenbeigabe kennzeichnet, gibt es eine dystopische Intensivierung, Verseuchung und emotionale Manipulation, die nicht ignoriert werden kann.

Nicht jeder stimmte mit Huxleys Voraussagen über eine neurowissenschaftliche Diktatur überein. Ein literarischer Kritiker verglich ihn einmal mit einem Hasen, der in seinen Bau verschwand, und daraus schloss, dass die ganze Welt schwarz sein musste.

Es war jedoch die Aufmerksamkeit, die er von Wissenschaftlern erhielt, die uns vor seiner Dystopie warnen soll. Im 20. Jahrhundert behauptete der Wissenschaftshistoriker Joseph Needham, dass wissenschaftliches Wissen nicht immun sei gegenüber politischen Interferenzen. Needham bezeichnete Huxleys Schöne Neue Welt als einen „Orchideengarten“ – was zeigt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse kein Zuckerschlecken sind. Huxley hilft uns dabei, „zu erkennen, was am Ende der verlockenden Pfade kommen mag“.

Dieser Artikel erschien zuerst auf „The Conversation“ unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Image (adapted) „Drogen“ by katicaj (CC0 Public Domain)


The Conversation

ist Lektor für digitale Kultur und Kommunikation an der University of East London. Außerdem ist er Mitgründer des Club Critical Theory.


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