Digitalisierung und Wertesplit: An welche Zukunft glaubst du?

Ruhe sanft, öffentlicher Diskurs, du warst der größte Gastgeber aller Zeiten, hattest immer Platz an deinem Tisch, warst für lebhafte Abendessen oder Kneipenbesuche stets zu haben, konntest Kampf sein und Spiel, aber auch Heimat und Ziel.“

So schön verabschiedet sich Juli Zeh in ihrem aktuellen Buch „Leere Herzen“ von dem öffentlichen Diskurs. Fragt man die Schriftstellerin und Juristin, wer Schuld an der oben genannten Entwicklung haben könnte, so sind es ihrer Meinung nach: wir alle. Auch die Bundestagswahlen waren für sie ein Beispiel dafür, dass wir heutzutage an den wichtigen Fragen vorbeireden. Wofür stehen wir als Menschen noch? – diese Frage steht in dem Politthriller im Vordergrund. Doch wie realistisch ist so ein Zukunftsszenario wohl?

Daniel Dettling ist der Meinung, dass die Deutschen in zwei unterschiedlichen Wertewelten leben. In einem Kommentar zur Bundestagswahl schreibt er: Studien zufolge sind 20 Prozent der Deutschen weltoffen und sprechen sich für Zuwanderung und Freihandel aus. Exakt so viele setzten auch auf Kooperation, Konnektivität und Kommunikation in Zukunft – jeder Zehnte lehnt jedoch Freihandel und Flüchtlinge ab. Das bedeutet: Zwei Drittel (70 Prozent) der Deutschen sind orientierungslos. Dettling glaubt, dass die Parteien die Angst vor der Zukunft geschürt haben: „So wenig Zukunft war selten in einem politischen Ideenwettbewerb.

Der Verlust der geteilten Öffentlichkeit

Technologischer Wandel bringt auch immer einen gesellschaftlichen mit sich. Manch einer, wie der Philosoph David Richard Precht, mag sogar behauptet haben, es sei der einzige Wandel, der unaufhaltsam ist. Der Wertewandel, den wir heute erleben, ist anders als je zuvor – denn er wird maßgeblich von der Digitalisierung beeinflusst. 

So erlauben die digitalen Medien eine noch nie dagewesene Meinungsvielfalt und punktuelle Vernetzung, bedrohen jedoch gleichzeitig die geteilte Öffentlichkeit. Denn nach der Philosophin Susanne Hahn sind die Menschen nicht mehr auf die öffentlichen Medien angewiesen. Vielmehr finden sie sich in Communities zusammen und tauschen dort Informationen aus. 

Was damit anhergeht, ist die Gefahr, sich eine persönliche, wasserdichte „Filterblase“ im Netz aufzubauen – man hört nur noch das, was durch den Filter dringt und die Nutzer-Algorithmen je nach Mindset erlauben. Diese Blase erlaubt es nicht, dass die eigene Identität mit anderen Wertewelten konfrontiert und das eigene Mindset weiterentwickelt oder hinterfragt wird. Zudem stellt diese Entwicklungen auch einen Verlust „längerfristigen Bindungen“ dar: Dies kann zu einem Problem für das Gesamtgefüge der Gesellschaft werden, wenn es um Mitwirkung und Respekt geht.

Der Werte-Split der Deutschen

Die Studie „Next Germany“ hat es sich zur Aufgabe gemacht die Wertelandschaft Deutschlands aufzuzeichnen. So kristallisieren sich aus ihren Datenerhebungen zwei kulturelle Wertewelten heraus, die Definitionen lauten folgendermaßen:  

  • Die Gruppe der „starken Gemeinschaft“: Sie wird von Schlagwörtern wie Kooperation, Zusammenhalt und Zukunftshoffnung beschrieben. Menschen mit geringer Bildung sind leicht überrepräsentiert.
  • Die Gruppe der „starken Individuen“: Sie wird von Schlagwörtern wie individuelle Leistung, Wettbewerb, vielen Zukunftsperspektiven beschrieben, denken jedoch in individuellen Kategorien. Menschen mit höherem Einkommen sind in dieser Gruppe leicht überrepräsentiert.

Um zu sehen, welcher Kategorie man angehört, kann man hier den Test machen. Die Datenanalyse der Studie zeigt somit auf, dass Deutschland tief gespalten ist – gleichzeitig wollen die Menschen jedoch auch einen Paradigmenwechsel in Form einer umfassenden Transformation der Gesellschaft und des Lebens. Nach Christian Schuldt muss eine neue Zukunftserzählung her, die eine überzeugende Alternative zu den unterkomplexen „rechten“ oder „linken“ Utopien darstellt. So zeigen die Auswertungen, dass wir als Gesellschaft eine neue Position des „progressiven Wir“ anstreben: Eine Position, die Gemeinschaft will, dafür jedoch auch die Stärke des Einzelnen nutzt. Fakt ist, dass dafür jedoch erst ein neues Mindset entwickelt werden muss.

Dass diese Annahme nicht nur von Datenanalysen getragen wird, zeigt zum Beispiel auch das jüngste Buch des Ökonomen Jeremy Rifkin „Null-Grenzkosten-Gesellschaft“, das von Optimismus nur so strotzt: Hier vertritt Rifkin die Meinung, dass der Kapitalismus, der nur von Effizienz bestimmt ist, an seinen Gegensätzlichkeiten scheitern und von einer gemeinwohlorientierten Gesellschaft ersetzt werden wird. Rifkins Vision ist eine neue und nachhaltige Form der Lebensqualität und eine Besinnung auf das Gemeinsame und das Teilen in der Gesellschaft. Und wie soll das Ganze jetzt genau gehen?

Ein Weg in die Wir-Gesellschaft

Nach Daniel Dettling ist nun vor allem emotionale Intelligenz für das nächste Deutschland gefragt. Dafür hat er drei Vorschläge:

  1. Ein Wettbewerb der Leitkulturen hätte das Ziel, eine möglichst breit akzeptierte Vision des gemeinsamen Zusammenlebens zu ermöglichen. Integration als neue Sicherheit für soziale Katastrophen.
  2. Mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie würde den Menschen helfen, sich mehr zuzumuten und ihre eigenen Bizonen zu vertreten – mit Politikern die offen und ehrlich mit ihnen in eine gemeinsame Richtung gehen wollen.
  3. Die Politik der Glokalisierung kann dabei helfen, dass lokale, regionale und globale Identität einander bedingen können und eine kluge Subsidiarität, eine Aufwertung der kleinen Einheiten, entstehen kann.

Dettlingt sagt: “Es geht um das aktive Gestalten der eigenen Lebenswelt, um individuelle und kollektive Sinnstiftung und neue Freiheiten.“

Hello future: Das Prinzip der Selbstorganisation

Für die mögliche Entwicklung eines “progressiven Wir“, wo Veränderungen innerhalb sowie außerhalb der Gesellschaft stattfinden und andere Formen der Solidarität und Gemeinsamkeit hervorgebracht werden, spricht auch ein Muster, das sich in der Auswertung der nextpractice-Daten abzeichnet: die Ausprägung des Prinzips „Selbstorganisation“. Dieses scheint abseits institutioneller und politischer Akteure immer mehr an Bedeutung zu gewinnen und geht mit einem höheren Grad an Selbstverantwortung einher.

Auch „Handelsblatt“-Herausgeber Gabor Steingart schreibt in seinem Buch „Weltbeben. Leben im Zeitalter der Überforderung“, dass sich Umrisse einer Gesellschaft zeigen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen will und mehr verändern wird als alle Wahlen der vergangenen Jahrzehnte. Ein „selbstbewusstes Bürgertum“ wird entstehen, das die Gewinnung und Ausübung von Macht grundsätzlich verändern wird. Für Steingart werden Transparenz, Teilhabe, Kommunikation und Mitbestimmung als Zeitbegriffe der stillen Revolution gelten.

Dennoch ist es aufgrund des Wertesplits immer noch eine Frage des Blickwinkels. Je nach Wertebasis rückt die Gesamtlage einer expansiven, neuen Entwicklung („Wir gestalten bottom-up alles selbstständig neu!“) oder die restriktive Gegenbewegung („Es ist wichtig, dass das jemand von oben in die Hand nimmt!“) näher. Denn beide ohne Spannung zu vereinen gestaltet sich sehr schwierig.

Die Sehnsucht nach Einigkeit

Die Position der Wir-Gesellschaft stellt meines Erachtens ein Verlangen dar, das mit der Entwicklung der Digitalisierung einhergeht. Die Vielfalt der Meinungen, Lebensstile und Glaubensansätzen führen zu einer Überforderung – die Sehnsucht nach Einheitlichkeit, Gemeinschaft und Kohärenz wird größer. Dennoch wollen die Menschen ihre erlangte Individualität und Freiheit des Denkens und Handels durch den technologischen Fortschritt nicht aufgeben. Sie sollten es auch nicht. Denn Gesellschaften entstehen seit langer Zeit nicht mehr nur analog.

Doch wie realistisch ist so eine Vision für nachfolgende Generationen? Als ich ein Kind war, wollte ich Bäuerin oder Ärztin werden, heute wollen die 8-Jährigen Youtube-Stars werden. Ob sich die Teenies von morgen überhaupt noch für Geschichte interessieren werden? Die Digitalisierung lässt auch Werte verkümmern – die der Nachkriegsgenerationen zum Beispiel.

Während also handwerkliche, soziale Berufe immer uninteressanter und schlechter bezahlt werden, sprießen neue Startups ohne ‚Social Profit‘ und mit kapitalistischen Beigeschmack aus dem Boden. Können Influencer und der Gründungshype in Zukunft eine bessere Gesellschaft formen? Wohl kaum. Und ist der Mensch nicht faul, solange es ihm gut geht? Aber das wäre wohl ein weiterer Artikel.


Image (adapted) „Split“ by Pablo Heimplatz (CC0 Public Domain)


hat im Juli ihr Bachelorstudium in Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation in Berlin abgeschlossen. Momentan arbeitet sie in der Netzpiloten-Redaktion.


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2 comments

  1. Danke für den schönen Beitrag, der zum Nachdenken anregt.

    Aber verpufft ein „progressives Wir“, wenn man Konzepte bottom-up und lokal ansetzt, nicht vor dem großen Ganzen, vorbei am Rest unseres Landes?
    Und sind die Hürden für einen Mindset-Wandel in der etablierten Politik nicht viel zu groß, um irgendwann neuen Wind in die Gesellschaft zu bekommen?

    Ich sehe das irgendwie eher pessimistisch – auch, weil mein Umfeld den Bedarf eines baldigen Wandels gar nicht wahrnimmt, alles läuft doch super.

  2. Schöner Beitrag! Ich denke, der Weg zur Wir-Gesellschaft ist nicht einfach in der heutigen Zeit. Die Gesellschaft muss wachgerüttelt werden, und das passiert erst, wenn das Ich in seiner Existenz bedroht ist.

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