Die Musik-Zukunft gehört den Social Media-Bands

(Not so) Bold Prediction: Die Zukunft der Musik gehört den Bands, die auch auf Social Media zu überzeugen wissen. Und ja, eigentlich gehören soziale Medien bereits zum Standard Repertoire, da sie abseits der Bühne das wichtigste Kommunikationsmittel von Künstlern sind. Wer die sozialen Medien gut beherrscht, kann mittlerweile aber auch längst den steinigen Weg nach oben deutlich abkürzen. Nirgendwo sonst kann man mit vergleichsweise kleinen Mitteln auf sich aufmerksam machen.

Trotzdem kann ich verstehen, wenn einigen der steigende Fokus auf Social Media-Präsenz nicht schmeckt. Auch ich bin jemand, der vor allem die Live-Szene der Musik liebt – vorwiegend das Mittelalter-Genre. Mittelalter! Ja, das ist die Musik, die euch mit altertümlichen Instrumenten, wie dem Dudelsack quält. Und ausgerechnet dieses Mittelalter zeigt sich stellenweise außerordentlich modern.  

Als Corona plötzlich die Musik veränderte

Gut zwei Jahre stand die Musikkultur weitgehend still. Livekonzerte fanden weitgehend nicht statt. Plötzlich gab es Streaming-Konzerte oder man kam in antiquiert anmutender Form des Autokinos zusammen, um aus dem Auto heraus seine Lieblings-Bands zu genießen. Teils saß man auch in Strandkörben, die mal eben für Konzerte zweckentfremdet wurden.

Amüsanterweise hatte ich das Gefühl, dass die Mittelalter-Szene sich mit modernen Alternativen besser arrangierte, als manch andere Genres. Es dauerte nicht lange, bis es die ersten Konzerte im Stream gab. Die Band Feuerschwanz machte für ihr Album-Release dank Crowdfunding sogar einen gestreamten Open Air-Gig auf einer Burg klar, die sonst Bühne eines alljährlichen Festivals ist. Dann gab es auch mal Streaming-Events irgendwo zwischen Konzert, entspanntem Talk und Spieleinlagen. Es war sicherlich nicht optimal, hat in mancher Hinsicht die Nähe zu den Fans womöglich noch etwas bestärkt.

Vieles hing in der Pandemie auch einfach davon ab, wie gut Bands ohnehin mit den sozialen Medien vertraut und sie schnell als Zwischenlösung annehmen konnten. Für jeden Künstler ist es wohl schöner, auf der Bühne zu stehen und das direkte Feedback zu bekommen. Ein Bildschirm mit Zoom-Teilnehmern des Konzerts kann einfach nicht das direkte Feedback einer Crowd ersetzen, die zusammen mit der Band singt, tanzt und schwitzt. Und doch sind bestimmt auch für die Künstler denkwürdige Momente entstanden, wenn sie plötzlich auch in die Wohnzimmer der Zuschauer schauen konnten.

Für mich als Fan haben die zwei Jahre des Konzertzölibats jedenfalls auch einige sehr erinnerungswürdige Momente gehabt. So zum Beispiel der Songmarathon des Comedy-Trios Eure Mütter, die für jedes abgesagte Konzert einen Song spielten, den Zuschauer im Vorfeld per Spende bestimmen durfte. Nach 12 Stunden und 144 Stücken war nicht nur der Stream, sondern auch die drei Mütter völlig am Ende.

Europäische Musikszene hält zusammen

Vielen Bands halfen aber auch Kooperationen durch die schwere Zeit. Vor allem bei europäischen Bands scheint das besonders ausgeprägt zu sein. Ich schaue gerne Musik-Reactions des YouTubers Tank the Tech, ein ehemaliger Roadie, der in seinen Videos auch seine jahrelange Erfahrung mit Bands und Equipment einfließen lässt. Bei seinen Reactions wurde ihm aber erst richtig der Unterschied zwischen amerikanischen und europäischen Bands deutlich. Die US-Bands machen da offenbar eher ihr eigenes Ding, während die europäische (Rock- & Metal-) Szene da deutlich mehr zusammenarbeitet.

Besonders deutlich wird es beim Label Napalm Records, die offenbar besonders gerne Gastauftritte ihrer Künstler bei anderen Bands ermöglichen. Die Cross-Promotion tut am Ende schließlich beiden Bands gut, wenn potentielle Fans auf die andere Band aufmerksam werden. Bei den Mittelalter(rock)-Bands ist das aber auch ohne Label Gang und Gebe. Da erlebt man in aller Regelmäßigkeit, dass Musiker anderer Bands des Festivals einfach mal für 1-2 Lieder mitmachen. In einem recht neuen Video der Mittelalter-Rocker Feuerschwanz sind übrigens gleich 3 Frontsänger*innen anderer Bands mit vertreten – was dem Video bereits mehrere Millionen Klicks einbrachte:

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Aber wo ich schon einen Reaction-Kanal erwähnt habe: Reaction-Videos, wo YouTuber auf Videos reagieren, sind aktuell ein großer Wachstumsfaktor. Auch hier haben europäische Bands davon profitiert, dass Reactions in der Corona-Zeit beliebter wurden und sich viele internationale Kanäle auch mal nach Europa, bzw. Deutschland ausgestreckt haben.

Es gibt aber auch noch Künstler, die sich auf YouTube selbst einen Namen gemacht haben und nun entweder selbst auf der großen Bühne stehen oder regelmäßige Gastauftritte haben. Die Drehleier-YouTuberin Patty Gurdy sah ich schon bei vielen Szene-Größen mitspielen. Nebenbei hat sie mal eben noch zwei starke Songs der Amazon-Serie „Carnival Row“ beigesteuert.

Lindsey Stirling zeigte schon vorher wie es geht

Sollte ich Patty Gurdy szenefremden Personen Beschreiben, wäre die Kurzbeschreibung: „Sie ist die Lindsey Stirling der Drehleier“ – mit einer anschließenden Erklärung, was das überhaupt für ein Instrument ist. Lindsey Stirling ist ohnehin ein Paradebeispiel für Künstler, die es vor allem durchs Internet weit gebracht haben. Mit ihrer Mischung aus Geige mit Dubstep-Beats und Tanzchoreographie hat sie es zum Welterfolg geschafft.

Zugegeben – ihr Auftritt bei „America‘s got Talent“ hat bestimmt auch geholfen, aber dort kam sie nicht sehr weit und ihr wurde nahegelegt, sich mehr auf die Musik zu konzentrieren und weniger dabei zu tanzen. Lindsey Stirling hat auf YouTube jedoch weiter ihr Ding durchgezogen und ist dank hochwertig produzierter Musikvideos schnell zu einer Internetsensation aufgestiegen.

Etwas aktueller und noch erfolgreicher ist die US-amerikanische Singer-Songwriterin Billie Eilish. Zusammen mit ihrem Bruder schrieb sie Songs und veröffentlichte sie „Just for fun“ auf SoundCloud, wo sie schließlich durch die Decke gingen. Zusammen mit späteren YouTube-Videos entstand auch bei ihr die Grundlage für einen schnellen Welterfolg. 

ESC, Electric Callboy und eine verpasste Chance

Für mich war der Eurovision Song Contest dieses Jahr eine spannende Achterbahn-Fahrt. Auf der einen Seite zeigte der ESC 2022 bei seiner Rückkehr vors große Livepublikum viele Bands und überhaupt Interpreten, die ihre Songs selbst geschrieben hat. Das sorgte für einen sehr bunten Mix über das Einheits-Tralala vieler andere Jahre hinaus. Doch dann war da auch noch der deutsche Beitrag, bei dem man womöglich eine große Chance vertan hat.

Schon im Vorfeld gehörte die Band Electric Callboy für die deutsche Vorauswahl klar zu den Favoriten. Die Band hat die Corona-Zeit produktiv für mehrere Musikvideos genutzt, die zwar humorvoll, dabei aber auch hochwertig produziert waren. Ein kometenhafter Aufstieg noch bevor ihr neuer Sänger erstmals auf einem Livekonzert auftreten konnte. 

Doch in den Vorentscheid schaffte sie es nicht. Grund war im Kern: Die sind nicht radiotauglich genug. Zugegeben: Die spaßige Metalcore-Truppe aus Castrop-Rauxel hätte sicherlich auch für viel Kopfschütteln gesorgt, aber: Sie ist verdammt erfolgreich. Ihr Video steht bei 13 Millionen Aufrufen. Zudem gab es auf change.org eine Petition mit über 100.000 Unterschriften, um die Band doch noch in den Vorentscheid zu bringen. Nicht einmal unser letztlicher Sieger Malik Harris brachte es bis zum Vorentscheid auf eine YouTube-Aufrufzahl in Höhe der Unterschriften.

Das sagt einiges über das Musikverständnis der Verantwortlichen aus: Eine während Corona durch Musikvideos international durchgestartete Band wurde nicht genommen, stattdessen viele unbekannte Interpreten mit weitgehend ähnlichen Songs, die radiotauglich vor sich hinplätschern, waren dafür am Start. Nicht ideal für einen Wettbewerb in dem man 3 Minuten hat, um in Erinnerung zu bleiben. Ob wir mit Electric Callboy besser abgeschnitten hätten, kann niemand genau sagen, aber die Chance bekamen sie leider nicht.

Ohne Social Media wird es künftig schwer

Kann man in Zukunft auch noch große Social Media-Arbeit als Musiker*in erfolgreich sein? Möglich ist das bestimmt. Aber der harte steinige Weg von Bars und den ranzigsten Clubs auf die wirklich großen Bühnen macht man sich damit nicht einfacher. 

Als Musiker gehört das Social Media-Game mittlerweile zum Standard-Werkzeug. Das trifft umso mehr zu, je jünger die Zielgruppe ist und je neuer man im Business ist. Aber es ist eben auch selten damit getan, einfach nur ein Video zu posten. Es muss gut gemacht sein und am besten entsprechend beworben werden. Auch Coverversionen aktuell populärer Songs helfen oft weiter, neue Fans für sich zu gewinnen. Und ja, auch im Internet braucht es manchmal trotzdem neben dem Fingerspitzengefühl auch etwas Glück, um unter all den großen Namen selbst gefunden zu werden.

Spannend wird es für die Social Media-Bands, wenn sich irgendwann tatsächlich das Metaverse etabliert. Dann schmilzt die Grenze zwischen Vor-Ort-Gefühl und virtueller Erfahrung noch ein gutes Stück. Dann zeigt sich außerdem erneut, welche Musiker*innen sich am besten auf den neuen Trend einstellen.


Image by ververidis via Adobe Stock

Das Internet ist sein Zuhause, die Gaming-Welt sein Wohnzimmer. Der Multifunktions-Nerd machte eine Ausbildung zum Programmierer, schreibt nun aber lieber Artikel als Code.


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