Open Source-Prinzipien mit deutscher Ingenieurskunst kombinieren

Die Automobilwirtschaft steht vor dem größten Wandel seit der Einführung des Verbrennungsmotors. Die Grenzen der Geschäftszweige verschwimmen, branchenfremde Anbieter wie Apple und Google definieren den Markt noch einmal auf neue Art und Neulinge wie Tesla demonstrieren, wie man Elektroautos richtig Szene setzt. Wertschöpfungsketten werden neu konfiguriert und digitale Plattformen treiben die Vernetzung der Fahrzeuge voran. Und was passiert in Deutschland? Da dominieren Teflon-Statements der Industrie-Lobbyisten. Es ist unfassbar, wie selbsternannte Autoexperten hierzulande reagieren, wenn sie den Ansturm der Kunden auf das massentaugliche Model 3 von Tesla erläutern sollen. Etwa Klaus Schmitz, Partner beim Beratungsunternehmen Arthur D. Little im Interview mit Spiegel Online: „Die deutschen Hersteller sind weiter als viele denken. Fertige Entwicklungen liegen in den Schubladen und warten wie weitere Kooperationen in der Zellfertigung nur darauf, dass der Markt wirklich reif ist für E-Fahrzeuge. Und erste Modelle gibt es bereits seit einiger Zeit. Mit bisher nicht einmal einer Million strombetriebener Autos weltweit bei weit mehr als einer Milliarde zugelassener Fahrzeuge ist die Nachfrage noch recht überschaubar. […] Der Preis stimmt, die Eckdaten des Autos auch. Trotzdem sehen wir nach wie vor ein großes Problem, das die E-Mobilität ausbremst: die Ladeinfrastruktur.“ Das erinnert das Notiz-Amt ein wenig an ein Interview mit einem Vertreter des ifo-Instituts in München, der erläuterte, es gebe zu wenig Nachfrage nach schnellem Internet in Deutschland. Deshalb komme auch der Breitbandausbau nicht so richtig von der Stelle.

Vergreisung der Automobilindustrie

Was für Defensivkünstler. Der Ökonom Joseph Schumpeter würde das so kommentieren: Der Zwerg von gestern ist der Riese von heute und der Greis von morgen. Die deutsche Automobilindustrie ist auf dem Weg in die Vergreisung. Es sind Routine-Unternehmen, die nicht in der Lage sind, einen neuen Markt zu erschließen. Entscheidend für den Innovator ist die Durchsetzungsfähigkeit. Es ist nicht die neue Idee an sich, das neue Wissen, die Erfindung, die etwas bewirkt und verändert. Es ist die Durchsetzung, die den Wandel bewirkt. Es ist die Bereitschaft, Bestehendes radikal in Frage zu stellen. Der dynamische Unternehmer orientiert sich nicht an bestehenden Märkten oder vorhandener Nachfrage der Konsumenten. Naserümpfende Bemerkungen über die netzökonomischen Visionen, die vor allem im Silicon Valley ausgebrütet werden, sind daher fehl am Platz, mahnt der Kölner Wirtschaftshistoriker Klemens Skibicki. Man sollte die kalifornischen Riesen nicht unterschätzen, so Skibicki gegenüber dem Wirtschaftsmagazin Boardreport: „Apple & Co. bauen keine Autos, sie etablieren vernetzte Mobilitätssysteme.“ Vor allem etablieren sie eine Open Source-Kultur im Management, die sich von den traditionellen Industriekonzernen deutlich unterscheiden. So reizt der Autobauer Local Motors die netzökonomischen Hebel perfekt aus und setzt nicht weiter auf Heerscharen von Ingenieuren, die unter strengster Geheimhaltung an neuen Modellreihen arbeiten. Local Motors verfügt gerade mal über ein gutes Dutzend fest angestellter Fachleute, die in der Lage sind, ein Fahrwerk oder einen Antrieb zu entwickeln.

Die besten Köpfe in Online-Communities gewinnen

Im Gespräch mit dem Wirtschaftsmagazin Boardreport wird Internet-Experte Willms Buhse deutlich: „Das Kernteam kann sich darauf verlassen, dass zu den Fahrzeugen, die Local Motors entwickelt, mehrere Tausend Experten ihr Wissen beisteuern. Nur arbeiten diese eben nicht in einer Werkshalle oder Büroetage, sondern im Netz. Eine Online-Community, die mehr als 36.000 Autofans und Fachleute rund um die Welt vernetzt, ist das Herzstück des Unternehmens.“ Alle Baupläne sowie Entwürfe stehen im Netz und sind als CAD-Dateien einsehbar. Jeder darf die quelloffene Software nutzen und verbessern, wie man das sonst nur von Linux kennt. Und Buhse führt weiter aus:

Mal steuern autobegeisterte Designer aus Rumänien, Brasilien oder Uganda Entwürfe für die Form eines Karosserieteils zu einem Fahrzeug bei, dann wieder lassen professionelle Fahrzeugentwickler aus Frankreich oder den USA in ihrer Freizeit ihr Wissen zur Konstruktion von Motorelementen in ein kollaboratives Entwicklungsprojekt einfließen. So kann Local Motors Fahrzeuge sehr viel schneller realisieren als ein klassischer Autobauer.

Bei Branchengrößen wie Daimler werde dagegen Besuchern aus Sorge vor Industriespionage sogar die Kamera am Smartphone mit Klebeband versiegelt, selbst wenn man nur Konferenzräume besucht. Kann ein Vernetztes, liquides und offenes Unternehmen jenseits von tradierten Hierarchien überhaupt erfolgreich sein? Für Deutschland klingt das noch ziemlich utopisch. Wie viel Kreativität und Raum für Neues erlaubt der Arbeitstag einer Führungskraft und wie viel ist Administration? Wie können Manager Compliance und Governance Anforderungen gerecht werden und dennoch schneller auf Marktveränderungen reagieren, stärker auf Dialog setzen und Kontakte im Social Web ausbauen, um so Schneeballeffekte für die eigene Organisation zu nutzen?

Die besten Ingenieure in offenen Strukturen vernetzen

Buhse ist der Überzeugung, dass die Menschen Mithilfe des Internets ihr Wissen teilen und mehren können – und somit altgediente Hierarchien und Systeme ergänzen oder gar überwinden. Mit offenen und flüssigen Strukturen könnte man mit in Kombination mit der deutschen Ingenieurs-Kompetenz auch die Silicon-Valley-Konzerne besiegen. Während neue Serien und Modelle in der klassischen Autoindustrie eine Vorlaufzeit von fünf bis sieben Jahren haben, dauerte es beim Rally Fighter nur 18 Monate, bis aus der 2-D-Zeichnung und der Konzeptstudie ein Fahrzeug wurde, das ein Kunde abholen konnte. Doch damit nicht genug: Local Motors ist nicht nur schneller, sondern benötigt auch nur den Bruchteil des Kapitals eines klassischen Herstellers, um aus einer Konzeptstudie ein Fahrzeug zu machen. Lediglich 3,6 Millionen Dollar waren für die Entwicklung des Rally Fighters notwendig. Weil die Entwicklungs- und Produktionskosten für jedes Fahrzeug gering sind, braucht Local Motors nach eigenen Angaben lediglich 1000 verkaufte Autos, um damit Geld zu verdienen. Sogar das amerikanische Verteidigungsministerium habe das Hummer-Nachfolgemodell von der Local Motors-Community konzipieren lassen. Ein Monat wurde für die Entwicklung angesetzt und drei Monate für die Ausführung. Deshalb muss man nicht sofort die gesamte Organisation auf den Kopf stellen, Mitarbeiter entlassen und ausschließlich auf das Internet setzen. Es reicht nach Erfahrungen von Buhse aus, wenn man bislang praktizierte Verfahren hinterfragt, stärker auf eine Kultur der Beteiligung setzt, vernetzte Elemente in den Arbeitsalltag aufnimmt, offener mit Informationen umgeht und enger mit Kunden kooperiert.


Image (adapted) „Engineering“ by DaveBleasdale (CC BY 2.0)


ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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