Warum Daten-Forensik im Politik-Betrieb relevanter wird – Von der Unberechenbarkeit der öffentlichen Meinung

Wie die Piranhas hat sich die Netzgemeinde auf den Politiker Guttenberg gestürzt. Der Fall des Ministers macht deutlich, wie stark das Netz mittlerweile auf die Politik einwirkt. Massenmedien wie die Bild-Zeitung können ihre Agenda kaum noch setzen. Das schrieb ich in einer Kolumne vor über fünf Jahren: Mit dem Guttenwahn-Drama werden sich Medien, Politikwissenschaft und Demoskopie noch lange beschäftigen. Eingeübte Politikrituale, wie man sie in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten kennt, funktionieren nicht mehr. Man braucht zum Regieren mittlerweile nicht nur „Bild, BamS, Glotze“ und Meinungsumfragen. So funktionierten die Leitplanken von Altkanzler Gerhard Schröder und Helmut Kohl. Die politische Willensbildung ist durch das Internet schwieriger und unübersichtlicher geworden. „Wir erleben ein Ende der Leitmedien“, so der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Interview mit WDR 2.

Ein Medium wie die Bild könne einen Politiker wie Guttenberg in einer linearen Weise nicht mehr durchsetzen oder halten. Die massive Positivkampagne des größten Boulevardblattes für den baronesken Welterlöser war nicht von Erfolg gekrönt, da man die sich selbst organisierende Netzöffentlichkeit nicht mehr unter Kontrolle bringt.

Schwarmintelligenz contra Bild-Zeitung

„Die Schwarmintelligenz im Netz benötigte gut zwei Tage, um Guttenbergs Dissertation bis auf die Knochen abzunagen“, so FAZ-Redakteur Volker Zastrow. Die blitzschnelle Recherche des GuttenPlag-Wikis habe auch die Qualitätsmedien des Landes beeindruckt, sie mit Material und der nötigen Entschiedenheit versorgt, meint Pörksen. Und nicht zuletzt die Wissenschaftscommunity auf die Barrikaden gebracht.

Die Netzöffentlichkeit positionierte sich sofort gegen den freiherrlichen Plagiator, erst danach setzten die klassischen Medien nach und zerbröselten die bizarren Scheinwelten des ehemaligen Selbstverteidigungsministers. Umfragen im Internet fielen für Guttenberg katastrophal aus. Die Meinungsbefragungen der Demoskopen per Telefon boten ein ganz anderes Bild. Hier votierte eine große Mehrheit für den adligen Propheten und wertete die Plagiatsaffäre als entschuldbare Entgleisung, die eigentlich nichts mit dem Ministeramt zu tun habe.

Das vielfache Meinungsklima

Welche öffentliche Meinung ist also noch relevant? Der Tenor der Massenmedien oder die vielstimmige Netzöffentlichkeit? Was erlebten wir beim Aufstieg und Untergang des adligen Polit-Shootingstars? „Bild“ und „BamS“ scheiterten beim Versuch, den erlauchten Minister im Amt zu halten.

Die Mehrheit der Deutschen trauerte um den Abgang eines Heilsbringers und die Schwarmintelligenz des Netzes entzauberte den Meister der Camouflage. Heute muss man wohl von einem vielfachen Meinungsklima sprechen. Die zunehmende Fragmentierung der Medienwelt und damit auch der Verlust der gemeinsamen Informationsbasis führen auch zu einem Verlust einer gemeinsamen öffentlichen Meinung.

Der YouGov-Triumph

Die traditionellen Meinungsforschungsinstitute und auch die Kommunikationswissenschaften haben das noch nicht vollumfänglich erforscht. Das konnte man bei der britischen Unterhauswahl wieder gut beobachten. Kaum ein Umfrage-Institut hatte die herbe Niederlage von Tory-Chefin Theresa May und den Überraschungserfolg von Labour-Spitzenkandidat Jeremy Corbyn auf der Rechnung – außer YouGov.

Zu einem Zeitpunkt, als alle anderen Umfragen noch von einer satten Mehrheit für die Tories ausgingen, sagte YouGov als erstes Institut einen Verlust der absoluten Mehrheit der Konservativen voraus. Daraufhin griffen Experten und Politikberater die neue Analysemethode öffentlich an. Jim Messina, Berater der Tories, bezeichnete die YouGov-Methode gar als „idiotic“.

„Die Wahlergebnisse vom 8. Juni waren folglich nicht nur ein Erdbeben für die Konservativen in Großbritannien, sondern auch für die klassische politische Meinungsforschung. YouGov errechnete mit seinem neuen Modell für 632 Wahlkreise im Vereinigten Königreicht – ohne die 18 Wahlkreise für Nord-Irland – eine eigene Schätzung für jeden Wahlkreis. Für 93 Prozent dieser Wahlkreise sagte das Modell den tatsächlichen Gewinner richtig voraus. Darüber hinaus prophezeite YouGov, dass die Konservativen den Wahlkreis Canterbury an Labour verlieren würden. Das war eine Sensation, denn die Tories hatten hier seit 1918 bisher jede Wahl gewonnen“, teilt YouGov in einer Presseverlautbarung mit.

Das eingesetzte Berechnungs- und Analysemodell von YouGov verwendet Daten aus kontinuierlichen Befragungen und kombiniert diese entsprechend eines Big-Data-Ansatzes mit weiteren Informationen aus verschiedenen Quellen. Ergänzt um demographische und psychografische Informationen konnten so Schätzungen für die jeweiligen Wahlkreise errechnet werden. „Die Kombination dieser Daten ermöglichte YouGov die außergewöhnlich gute Vorhersage des Wahlausgangs“, teilt das Unternehmen mit. Und das umfasst eben auch das Meinungsbild im Internet.

Social Media-Kampagne von Labour

Früher rühmten sich wie in Deutschland die auflagenstarken Printmedien, Wahlen entschieden zu haben. „Diesmal hatte der Versuch des Boulevards, Corbyn als Terroristen-Freund und marxistischen Extremisten zu entsorgen, keinen durchschlagenden Erfolg. Im Netz machte man sich nach der Wahl über die Zeitungen lustig“, berichtet das ZDF-Auslandsjournal. Etwa John Niven. „This morning I reignited the British spirit with the newsagents entire stock of Suns and Daily Mails.“

Seine Botschaft fand auf Twitter mit rund 11.000 Retweets und 31.000 Gefällt mir-Bekundungen einen riesigen Anklang. Ein Faktor für den Erfolg von Labour lag an der Social Media-Kampagne, so die Süddeutsche Zeitung:

„Das eindeutige Vorbild für die Wahlkampagne von Jeremy Corbyn ist der Wahlkampf von Bernie Sanders in den USA – und hier spielt Social Media eine große Rolle. Corbyn sieht sich als Anführer einer Bewegung, an deren Spitze er steht, und seine Anhänger posten auf Facebook und Twitter im Minutentakt kurze Videos über ihren Helden Corbyn. Das Internet wurde nicht nur genutzt, um Spenden zu sammeln – online wurden auch die Aktivisten rekrutiert und geschult, die für den 68-jährigen Corbyn trommelten.“

Dank Youtube konnte jeder sehen, wie der bärtige Abgeordnete Corbyn 1990 die damalige Premierministerin Thatcher attackierte und die herrschende Armut im Königreich als „nationale Schande“ bezeichnete – oder wie er 2003 vor den Folgen der Invasion in den Irak warnte und sich damit gegen den Parteifreund Tony Blair stellte. „Der war damals Premierminister – und hatte bei seinen Wahlsiegen 1997 und 2001 mit 43 beziehungsweise 40,3 Prozent ähnliche hohe Stimmenanteile erreicht“, so die SZ. Die David-gegen-Goliath-Story war damit rund. Mit kleinem Budget und einer enthusiastischen Fan-Gemeinde im Netz erzielte Labour mehr Wirkung als die staatstragende Kampagne der Tories.

Wo ist nur die repräsentative Stichprobe geblieben?

Mit den klassischen Instrumenten der Wahlforschung lassen sich diese Effekte wohl nicht mehr messen. Gemeint sind damit nicht die Hochrechnungen an den Wahlabenden, sondern die Telefonumfragen im Vorfeld der Wahlen.

„In den 1990er Jahren war es relativ einfach, über Telefonumfragen mit zufällig generierten Festnetznummern repräsentative Stichproben zu ziehen für die Grundgesamtheit, die man untersuchen wollte“, erläutert Johannes Mirus von Bonn.digital: „Das Smartphone ist zwar personalisiert und beseitigt die Herausforderung, die richtige Zielperson ans Telefon zu bekommen. Die Mobilfunk-Nummern sind aber schwerer zu erfassen. Zudem ist eine örtliche Eingrenzung für die Stichprobe nicht möglich.“

Gefragt sind eher Ansätze wie von Professor Simon Hegelich von der TU-München. Er verbindet in seiner Forschung Politikwissenschaft und Computerwissenschaft zu Political Data Science. Dabei geht es sowohl um Themen der Digitalisierung, deren politische Relevanz untersucht wird, als auch um klassische politikwissenschaftliche Fragen, die mit Methoden wie maschinellem Lernen, Data Mining, Computer Vision oder Simulationen bearbeitet werden.

Folgende Fragen sind dabei interessant: Welchen Einfluss haben Bots auf die politische Willensbildung? Wie agieren kleine und besonders aktive Gruppen im Social Web und welche Netzwerkeffekte erzielen sie? Welche Rolle spielen Fake News? Wie oft werden Inhalte von klassischen Medien rezipiert und welchen Stellenwert haben Quellen jenseits des Journalismus? Wie groß ist die Relevanz von digitalen Diensten – also News Aggregatoren, Suchmaschinen, Bewertungsplattformen?

Das Notiz-Amt empfiehlt den Politik-Analysten in Medien, Wissenschaft und Denkfabriken, schleunigst Kompetenzen in der Daten-Forensik aufzubauen. Ansonsten wird man eben weitere Überraschungen im Polit-Geschehen erleben.


Image (adapted) „Britain-20526“ by PublicDomainPictures (CC0 Public Domain)


ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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