Linda Kozlowski (Evernote): „Die Idee von Arbeit hat sich verändert“

Im Interview spricht Linda Kozlowski, Vizepräsidentin von Evernote, über die Veränderungen in der Arbeitswelt und was Evernote in Zukunft sein will. // von Tobias Schwarz

Linda Kozlowski, Vizepräsidentin von Evernote (Bild: Mirko Lux/Netzpiloten, CC BY 4.0)

In den vergangenen Jahren haben neue Technologien die Arbeitswelt wesentlich verändert. Apps sind da keine Ausnahme, besonders da sie uns ermöglich, von überall auf der Welt mobil zusammenzuarbeiten. Ein Beispiel dafür ist die Produktivitäts-App Evernote, eine der bekanntesten Tools, das den Wandel weg vom klassischen ‚Nine-to-Five‘-Job unterstützt. Evernote hat heute mehr als 100 Millionen Nutzer weltweit, 16.000 Unternehmen nutzen Evernote Business. Im Interview erklärt Evernotes Vizepräsidentin Linda Kozlowski wie weit die Transformation der Arbeitswelt schon ist, welchen Platz Evernote im Alltag haben kann und welchen Trends das Unternehmen folgen will.

Tobias Schwarz: Ich habe gelesen, dass Philip Libin, CEO von Evernote, in einem Interview gesagt hat, dass er aus Evernote ein hundertjähriges Startup machen möchte. Können Sie sich vorstellen, was er meint und wie passt das in Ihre persönliche Work-Life-Balance?

Linda Kozlowski: Das Konzept eines hundertjährigen Startups ist eigentlich das Konzept davon, dass wir nicht nach einem Exit suchen, sondern wir wollen, dass das Unternehmen für eine lange Zeit existiert. Wir wollen, dass es sehr lange besteht. Ein hundertjähriges Startup ist nicht nur ein Unternehmen, das sich über diese Zeit selbst erhält, so dass sich die Menschen auf die Technologie verlassen können, sondern auch das Wort ‚Startup‘ bedeutet hier, dass wir immer innovativ bleiben und vorausdenken, immer aggressiv bleiben wollen. Wir wollen nicht selbstgefällig werden. Das bedeutet es. Ich denke, es ist sehr wichtig, in einem Unternehmen zu arbeiten, das ein tolles Produkt für eine lange Zeit entwickelt hat, und nicht einfach etwas, dass man schnell an ein anders Unternehmen verscherbeln oder damit möglichst schnell an die Börse gehen kann. Es geht darum, für die Nutzer ein tolles Erlebnis zu schaffen. Das passt auch gut zu meiner eigenen Work-Life-Philosophie. Ich tue etwas, dass ich liebe und von dem ich weiß, dass es noch lange existieren wird.

TS: Gab oder gibt es ein Unternehmen, das dafür ein Vorbild war? Wir kommen aus Deutschland und hier gibt es Firmen wie Mercedes Benz, die seit über 100 Jahren auf dem Markt sind und immer noch ziemlich gutes Produkte machen. Ist es das, was Libin gemeint hat, so etwas wie der Mercedes der Apps?

LK: Das ist witzig, denn genau so ist es. Es gibt so viele Länder, in denen Unternehmen auch gut hundert oder sogar dreihundert Jahre existieren. Tatsächlich kam die Inspiration auch zum Teil aus Japan, hier gibt es eine Menge Unternehmen, die schon einige Jahrhunderte existieren, nicht nur eins, und genau wie bei Mercedes suchen wir nach genau so etwas. Etwas, das von aller erster Güte ist, eine gute Qualität hat, zeitlos designed und ein Maximum an Funktionalität repräsentiert, und vor allem soll es wirklich angenehm sein. Ich denke, Mercedes ist wirklich ein gutes Beispiel für die Art der Unternehmen, die eine lange Zeit bestehen, sich aber immer weiter entwickeln.

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TS: Ich habe in einem Coworking-Space hier in der Nachbarschaft gearbeitet. Als ich meinem Großvater davon erzählt habe, war er ziemlich erstaunt, wie man heute arbeitet. Ich habe ihm vom WLAN und anderen Technologien erzählt. Er teilte mir mit, wo er das Telefon hinstellen würde. Denken Sie, die Idee von ‚Arbeit‘ hat sich ebenfalls verändert?

LK: Ich denke, die Idee von Arbeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ziemlich verändert. Ich glaube, ein Teil davon kommt daher, wie sich die Talente verändert haben und die Leute, die arbeiten. Es hat sich von einer Arbeitswelt, in der die Unternehmen sozusagen diktatorisch angegeben haben, was die Angestellten tun sollten, verändert. Jetzt haben die Angestellten die Möglichkeit, den Tonfall mitzubestimmen und sich die Arbeit nach ihren Leidenschaften auszusuchen. Egal, ob sie jetzt als Teil eines Unternehmens arbeiten oder es als Freelancer tun, was auch immer populärer wird, manche machen sogar ihr eigenes Geschäft auf. Es gibt heute keine wirklichen Grenzen mehr, die Leute können alles tun. Ich glaube, das bereitet ein einmaliges Arbeitsumfeld, bei dem es weniger um ein fest strukturiertes ‚Nine-to-Five‘- oder ‚Nine-to-Six‘-Arbeiten geht, wo man zu bestimmten Zeiten vor Ort sein muss. Es geht mehr darum, wann die beste Zeit zum Arbeiten ist und mit welchen Leuten man sich am liebsten umgibt, wer einen jeden Tag neu inspiriert.

TS: Evernote hat mehr als 400 Angestellte, die rund um die Welt für das Unternehmen arbeiten. Wie nutzen sie das Tool und welche anderen Tools helfen ihnen, um zusammenzuarbeiten?

LK: Wir haben Evernote hauptsächlich für uns selbst gebaut. Wenn wir Evernote weltweit benutzen, testen wir die Grenzen unserer App aus, und außerdem versuchen wir herauszufinden, was die Nutzer im täglichen Umgang damit anstellen wollen. Wir nehmen ständg Feineinstellungen vor, reichen Fehler ein und suchen durch eigene Nutzung neue Wege, um das Nutzererlebnis noch zu verbessern. Teil dessen ist, weil Evernote immer weiter wächst, dass wir versuchen, auch immer mehr Büros rund um die Welt zu eröffnen. Darum müssen wir mit Menschen in über 50 Sprachen kommunizieren können. Es geht nicht nur um Verkaufszahlen und Marketing, sondern auch um Weiternentwicklung. Wir bauen unser Podukt unter anderem in Zürich aus und denken nicht nur darüber nach, wie wir den Markt weiter erobern können, sondern wie wir unser Produkt mit weltweitem Input noch verbessern können.

TS: Ich habe oft gelesen, dass Evernote ein Produktivitätstool ist. Ich benutze es aber eher als Organisationstool, denn es hilft mir, alles im Blick zu haben. Was denken Sie darüber? Nutzen Sie Evernote, um organisiert opder produktiv zu sein?

LK: Ich nutze Evernote für beides. Bei mir beginnt es mit der Organisation, ich kann alles finden, aber ich finde den Teil mit der Produktivität für mich am Besten, denn man findet alles sehr schnell. Wegen unseren Aspekten der Augmented Intelligence, die in das Produkt integriert sind, können wir die gesuchte Information schnell bereitstellen, wenn sie gebraucht wird. Das wird auch weiterhin verbessert. Wir versuchen also alles, um ein Erlebnis zu schaffen, bei dem man nicht nur die Dinge wiederfindet, sondern auch, sie so aufzubereiten, dass man produktiver sein kann.

TS: Für mich hört sich das an, als wäre Evernote der Ort, an dem man seinen Tag beginnt und beendet. Was ich sehr interessant finde, ist Ihre Native-App-Policy, denn es scheint, als wäre es Ihnen sehr wichtig, Native Apps auf jedem System voreingestellt zu haben. Was haben Sie daraus gelernt? Ich kenne nicht viele Unternehmen, die so etwas tun.

LK: Zuerst einmal, Evernote ist der Ort, an dem wir wollen, dass man den Tag beginnt und beendet. Wir betrachten es als den modernen Arbeitsplatz, an dem man alles erledigen kann. Man kann schreiben, Infos sammeln, man kann alles wiederfinden, was man später braucht und es sogar seinen Kollegen und Freunden zeigen, damit sie verstehen, woran man gerade arbeitet. Das ist ein wichtiger Teil. Wir wollten einen Ort schaffen, an den man gehen kann, ohne den Kontext verlassen zu müssen. Die Multi-App-Strategie funktioniert hier gut, und der Fakt, dass wir ein Erlebnis schaffen, an das der Nutzer der entsprechenden Plattform schon gewöhnt ist. Statt ein Teil über alle Plattformen hinweg zu entwickeln, haben wir den Windows-Client wie einen Windows-Client aussehen lassen. Jeder, der sich mit Windows auskennt und wohlfühlt, wird sich schnell einfinden. Das selbe auf dem Mac und dem iOS. Sie sehen also alle ein kleines bisschen verschieden aus, weil wir versucht haben, auf jeder Plattform das beste Erlebnis zu schaffen. Wenn man Evernote startet, versteht man intuitiv, wie man die App nutzen soll.

TS: Vor zwei Jahren haben ich jemanden getroffen, der von Evernote aus gebloggt hat und die Links dann öffentlich geteilt hat. Ich war sehr verwundert darüber, wieso er ausgerechtent Evernote dafür benutzt hat. Aber im vergangenen November hat Evernote 20 Millionen US-Dollar vom japanischen Medienkonglomerat Nikkei erhalten. Was hat Nikkei davon und wieso sind sie an Evernote interessiert?

LK: Daran ist nichts ungewöhnliches, wenn wir in einer Partnerschaft Geld vom Partner bekommen, denn das bedeutet, dass dieser an dem Joint Venture interessiert ist und darin investiert. Nikkei ist auch unser Partner auf der Context-Plattform, die ein großer Teil unser Initiative der Augmented Intelligence ist. Wir integrieren Dritte und Medieninhalt, wie bei Nikkei, und bieten es auf Japanisch schreibenden Nutzern an, damit man auch an sie relevante Artikel weitergeben kann. Das ist also eine Möglichkeit für Nikkei, mehr Kunden zu gewinnen, aber es ist auch ein wichtiger Teil ihrer Strategie, die digitale Sphäre bis zur Grenze auszureizen. Ihre Investition ist also ein großer Vertrauensbeweis, der uns hilft und diese Verbindung stärkt.

TS: Was hat es mir der Augmented Intelligence auf sich? Sie haben es jetzt bereits zweimal erwähnt. Können Sie mir ein wenig mehr darüber erzählen?

LK: Für Evernote ist Augmented Intelligence ein wichtiger Teil der Zukunft, und das ist ein Schlüsselaspekt, der uns von anderen Unternehmen unterscheidet. Viele Unternehmen reden über Künstliche Intelligenz, also die Idee, einen Menschen mit einer Maschine zu ersetzen. Wir denken, dass es wichtiger ist, dass Menschen und Maschinen zusammenarbeiten, und wir glauben, dass das der beste Weg ist, um erfolgreich zu sein und Dinge anzukurbeln. Also nennen wir es Augmented Intelligence, denn es ist immer ein Mensch beteiligt. Wir wollen, dass die Technik den Menschen klüger macht, beinahe übermenschlich, sie sollen alles machen können, alles aufrufen können, produktiver sein, viel produktiver als sie alleine oder nur eine Maschine je sein könnten.

Das Besondere an Augmented Intelligence ist, dass es für den Nutzer gedacht ist. Viele Unternehmen reden davon, dass sie viele Daten haben und diese Daten nutzen, um Profit daraus zu schlagen, Werbeplattformen bedienen und solche Dinge. Die Menschen haben keine Kontrolle mehr über ihre Daten und wollen nicht, dass sie so genutzt werden. Unser Augmented-Intelligence-Programm ist dafür gedacht, die besten Suchergebnisse zu finden, die besten Erlebnisse bei den Aufzeichnungen zu haben, den besten Kontext geboten zu bekommen, so dass man alle Informationen da hat, aber die Daten nicht herausgegeben werden. Das ist also ein wenig anders, als die meisten Leute ihre Nutzerdaten betrachten. Wir betrachten unsere Nutzerdaten als etwas sehr privates, sie gehören den Nutzern. Wir suchen nicht nach anderen Nutzungsmöglichkeiten, aber wir nutzen Augmented Intelligence, um die Daten noch relevanter für ihre tägliche Produktivitätwerden zu lassen.

TS: Aber sind Sie dann nicht sozusagen ‚blind‘ in Zeiten von Big Data, wenn Sie sich nicht die Kundendaten anschauen? Wissen Sie, wer Ihre Kunden sind und was sie wollen?

LK: Wir glauben an ein einfaches Geschäftsmodell. Wir bauen eine App, machen daraus die bestmögliche Version und die Leute zahlen Geld, um sie zu nutzen. Es ist sehr sauber, direkt und transparent für die Nutzer. Wir könnten natürlich auch die Daten durchsuchen und nutzen, aber das würde bedeuten, dass die Nutzer vielleicht weniger Informationen in Evernote eingeben würden, weil sie der Plattform nicht mehr vertrauen würden. Es ist also lohnender für uns, sehr klar und deutlich zu sagen, was wir bauen und wofür die Leute zahlen, anstatt die Daten am Ende noch zu Geld machen zu wollen. Gleichzeitig nehmen wir uns viel Zeit, mit unseren Kunden zu sprechen und herauszufinden, was sie suchen und wie sie das Produkt nutzen. Wir haben Botschafter in der ganzen Welt, die ständig mit uns darüber sprechen, wie sie die App in ihrem Alltag nutzen, aber auch wie die Menschen, mit denen sie sprechen, sie benutzen. Wir bekommen auch Feedback aus unserem Kundenservice, um herauszufinden, wo Probleme auftauchen, und wo noch etwas eingestellt oder ausgetauscht werden muss. Wir haben entschieden, mit den Kunden zu reden, anstatt ihre Daten zu nutzen, um herauszufinden, was sie brauchen und wie wir ihnen besser dienen können.

TS: Privatsphäre hört sich wie ein sehr deutsches Thema an, aber was erzählen Ihnen die Botschafter aus anderen Ländern? Existiert diese Diskussion über Privatsphäre auch bei Evernote?

LK: Ich glaube, dass es immer Diskussionen über Privatsphäre und Sicherheit geben wird. Das ist ein wichtiges Thema und wir wollen auch, dass die Menschen sich klar machen, wie Daten genutzt werden und wie wir auf ihre Daten aufpassen. Es ist in vielen Ländern auf viele unterschiedliche Weise wichtig, aber allgemein ist es eine wichtige weltweite Diskussion.

TS: Manchmal übersieht man als Journalist das Gesamtbild eines Unternehmens. Darum meine Frage, was habe ich noch vergessen, über Evernote zu fragen?

LK: Ich denke, das Interessanteste bei Evernote ist, wie wir Design in das Konzept des Alltags integriert haben. Wenn man über Apps für mehr Produktivität redet, denken viele Leute an die Standards, an die sie gewöhnt sind, wenn sie einen Job in einem neuen Unternehmen anfangen. Meistens sind sie nicht sehr begeistert und oft irgendwie langweilig. Evernote packt viel Aufwand in das Erlebnis, das dafür designed ist, dass man produktiver sein kann. Denn je mehr man es genießt, ein Produkt für sich und sein Team zu benutzen, desto mehr verpflichtet man sich diesem und umso mehr wird man erfolgreich sein. Ich denke, es gibt viele Unternehmen, die ein Konzept erstellen, bei dem man sich auf das Design-Erlebnis konzentriert, das die Menschen noch produktiver werden lässt, und nicht nur ein Stück Software. Das beinhaltet, alles vom ergänzenden Gerät, das man benutzt bis hin zum Trend der Wearables, der gerade angefangen hat. Wie wir mit all diesen Erlebnissen arbeiten und die Menschen nicht nur produktiver machen wollen, sondern dass sie auch genießen, produktiver zu sein.

TS: Evernote scheint ein wenig vom allem zu sein, wie eine Mischung aus Google Docs und Slack. Wie sehen Sie die Zukunft von Evernote?

LK: Ich glaube, Sie haben es schon vorher ganz gut getroffen, als Sie gesagt haben, man wacht morgens damit auf und geht damit ins Bett. Man weiß, dass man Evernote den Tag über genutzt hat und dass es der moderne Arbeitsplatz ist. Die Leute bewegen sich auf freier Mitarbeiterbasis, in unterschiedlichen Arbeitszeiten oder in Büros, die offen sind und zusammenarbeiten. Es muss nicht immer eine Person an einem festen Ort sein. Man will also alle Informationen immer verfügbar haben. Wir bauen ein Erlebnis, an dem all das zusammenkommt. Es ist nicht nur ein Nachrichten-Client, nicht nur ein Ort für Notizen, nicht nur ein Ort für Web-Clippings oder an dem man Texte und Bilder suchen kann – es ist alles an einem Ort. Man spart Zeit, denn man muss nicht immer umschalten. Die Idee der Produktivität hat damit nicht nur etwas zu tun, das alles bedeutet Produktivität. Wir wollen alles in einem Paket anbieten, auf das man sich konzentrieren kann. Das ist der neue Arbeitsplatz, an dem man alles regelt, so dass man seine Arbeit genießen kann.

TS: Vielen Dank für das Interview.


Teaser & Image by Mirko Lux/Netzpiloten (CC BY 4.0)


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ist Coworking Manager des St. Oberholz und als Editor-at-Large für Netzpiloten.de tätig. Von 2013 bis 2016 leitete er Netzpiloten.de und unternahm verschiedene Blogger-Reisen. Zusammen mit Ansgar Oberholz hat er den Think Tank "Institut für Neue Arbeit" gegründet und berät Unternehmen zu Fragen der Transformation von Arbeit. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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