Interview: „Wissenschaft muss öffentlicher werden“

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Die Themen Wissenschaft, Bildung, Lebenslanges Lernen und Co. blitzen immer mal wieder in der öffentlichen Debatte auf. Gerade in Wahlkampfzeiten wird gerne mehr Geld für Forschung und Lehre, Wissenschaft und Bildung gefordert oder von der Politik versprochen. Egal, ob aus diesen Absichtsbekundungen auch tatsächlich Projekte werden oder nicht, lassen sich neben diesen politisch motivierten und medial plakativ inszenierten Bildungsoffensiven beim wissenschaftlichen Nachwuchs im Bildungssektor selbst Innovatoren ausmachen, die wirklich etwas bewegen. So zum Beispiel Dr. Christian Spannagel, Juniorprofessor von der PH Ludwigsburg. Im Interview mit den Blogpiloten erläutert er sein Selbstverständnis als „öffentlicher Wissenschaftler“ und erklärt, wie er durch das Social Web zusammen mit anderen Innovatoren ein Netzwerk aufgebaut hat, das die Art und Weise wie wir über Lehren und Lernen nachdenken revolutionieren könnte.

Christian, im April hat das 3. EduCamp – ein BarCamp zur Zukunft des Lernens – stattgefunden. Du warst bei allen drei Camps dabei. Business as usual oder neue Impulse? Wie sind Deine Eindrücke?

spannIch würde sagen beides, also business as usual und neue Impulse – wobei ich ersteres positiv meine: Das dritte EduCamp war – genau wie die beiden EduCamps zuvor – eine einfach gut gemachte Veranstaltung mit äußerst interessanten Teilnehmern und inspirierenden Gesprächen. Wie immer gehe ich sehr gestärkt und mit vielen Ideen aus dem EduCamp heraus, was enorme gedankliche und vernetzungsmäßige Auswirkungen auf meinen Alltag hat. Das Zentrale beim EduCamp ist für mich mittlerweile die Tatsache, dass ich mich hier zahlreichen Menschen vernetzen kann – auch virtuell übers EduCamp hinaus -, und dass ich dieses Netz für meine Innovationen in der Lehre brauche. Mit einem starken Netz aus Top-Leuten im Hintergrund ist man einfach mutiger, neue und außergewöhnliche Wege im Bildungsbereich zu gehen. Sollte man mal auf die Nase fallen, wird man von seinem „Netz aufgefangen“. Und wenn es klappt, wird man von den Menschen in seinem Netzwerk bestärkt – und das macht unglaublich stark.

Wie sehen diese Innovationen in der Lehre aus, die Du in den vergangen Jahren selbst und mit Hilfe Deines Netzwerkes geschaffen hast?

Eine ganz wesentliche Veränderung meiner Arbeit hat sich durch die Tatsache ergeben, dass ich mich als „öffentlicher Wissenschaftler“ begreife. Dabei handelt es sich um ein Konzept, das sich u.a. durch Anregungen aus deiner „Hard Blogging Scientists“-Bewegung und aus Gesprächen mit dir und EduCamp-Teilnehmern wie Jean-Pol Martin und anderen entwickelt hat. Darüber hinaus hat sich meine Lehre grundlegend verändert. Die Methode „Lernen durch Lehren„, die Neuronenmetapher, Weltverbesserungsprojekte, die zahlreichen Möglichkeiten des Web 2.0: Das alles sind Aspekte, die meine Lehre grundlegend umgekrempelt haben. Ich kann also sagen: Die EduCamps – und damit meine ich insbesondere auch die Menschen im EduCamp-Kontext – haben mein wissenschaftliches und auch mein persönliches Leben komplett verändert. Das ist etwas, was ich nie im Leben vermutet hätte!

Lernen durch Lehren? Neuronenmetapher?

„Lernen durch Lehren“ – oder kurz LdL – ist eine Methode, die von Jean-Pol Martin entwickelt wurde. In dieser Methode unterrichten sich die Schüler gegenseitig. Dies bedeutet nicht, dass sie nur Referate halten. Sie „halten Unterricht“, d.h. sie überlegen sich auch Aufgaben für ihre Mitschüler und planen Methodenwechsel ein.

Die Neuronenmetapher gibt Hinweise, wie man sich in Gruppendiskussionen und in vernetzten Umgebungen verhalten sollte: Es ist wichtig, dass man seine Ideen und Fragen nicht für sich behält – etwa aus Angst, etwas Falsches zu sagen – sondern dass man seine Gedanken einfach „wie ein Neuron abfeuert“. Diese Information wird dann im Netz in Interaktion mit den anderen Neuronen – also Leuten, die ebenfalls angstlos ihre Ideen preisgeben – verarbeitet. So kann in der Gruppe neues Wissen entstehen.

Und was genau verstehst Du unter einem „öffentlichen Wissenschaftler“?

Ein öffentlicher Wissenschaftler arbeitet nicht im Elfenbeinturm und praxisfern, sondern er vernetzt sich mit Menschen auch außerhalb der Hochschule, um im direkten Erfahrungsaustausch wissenschaftlich zu arbeiten. Er publiziert also nicht nur öffentlich, sondern er bindet andere Menschen auch direkt in den Prozess der wissenschaftlichen Wissenskonstruktion mit ein. Gerade im Bildungssektor halte ich es für wichtig, dass man nicht an der Hochschule vor sich hin forscht, sondern dass man in intensivem, unmittelbarem Austausch mit Lehrern, Schülern, Studenten, Referendaren, Lerncoaches, E-Learning-Experten usw. steht. Und dies erreicht man über Web-2.0-Tools. So kann man beispielsweise an einem Text in einem Wiki arbeiten und lädt alle über Twitter ein, daran mitzuwirken oder Ideen und Anregungen zu geben. Oder man reflektiert seine eigene Arbeitsweise in seinem Weblog, denkt dadurch tiefer über sich und seine Arbeit nach und erhält über Kommentare auch noch Anregungen von außen, um nochmal den Begriff „hard blogging scientists“ aufzugreifen.

Es hat also einerseits etwas mit der persönlichen Haltung und Überzeugung zu tun. Andererseits aber auch etwas mit Kommunikationstools im Web 2.0. Welche Rolle spielen die Techniken und Praktiken des Social Web?

Das Social Web spielt eine überaus wichtige Rolle. Es ermöglicht es mir, mich mit den Menschen z.B. aus dem EduCamp-Kontext auch außerhalb der EduCamp-Realtreffen zu vernetzen. Twitter beispielsweise ist ein Tool, mit dem ich mich auch im „Alltag“ mit meiner Peer Group intensiv austausche – sei es wissenschaflich oder privat. Das Ganze findet natürlich öffentlich statt, so dass sich auch neue Personen einklinken und mitmischen können. Das ist eine sehr dynamische Web-2.0-Umgebung, in der man sich da bewegt. Gerade diese Dynamik setzt sich für mich auch im Alltag fort: Neue Ideen, Innovationen und Anregungen aus Diskussionen nehme ich aus der virtuellen Welt mit in meinen Alltag und speise meine Erfahrungen wieder in die Netze ein. Ich habe so den Eindruck, sehr viel schneller voranzukommen als alleine: 1000 Gehirne können eben doch kreativer sein als ein einziges. Gerade das ist ein starkes Argument dafür, öffentliche Wissenschaft zu betreiben.

Wir wird das in Deinem Umfeld wahrgenommen? Ist ja schließlich ein Bruch mit den bestehenden Gepflogenheiten… Wie nehmen Deine Kollegen und wie Deine Studenten Deinen Ansatz wahr? Kommt das bei allen gut an, ob gibt es Kritik?

Der Ansatz des öffentlichen Wissenschaftlers wird von Kollegen und Studierenden eigentlich sehr positiv aufgegriffen. Ernsthafte negative Kritik habe ich von direkten Kollegen nie erhalten. Im Web wird öfter das Problem diskutiert, dass andere einem Ideen „klauen“ können, wenn man öffentlich arbeitet. In gewissen Bereichen kann ich diese Bedenken nachvollziehen, beispielsweise wenn es um Patente o.ä. geht, aber im Bildungsbereich sehe ich hier z.B. überhaupt kein Problem. Wenn jemand Anderes meine Idee aufgreift und weiterführt, dann kommen wir gemeinsam doch schneller vorwärts, als wenn ich es alleine angehen würde. Die Aussage „Das war aber meine Idee“ hat im Bereich öffentlicher Wissenschaft nur eine geringe Berechtigung: Man fasst sich eher als Community auf, die gemeinsam Probleme angeht und löst.

Ein Spin-Off-Projekt, das aus Deiner Arbeit, Deiner Einstellung und auch ein bisschen im Dunstkreise der EduCamp-Community entstanden ist, ist die Maschendraht-Community. Wie kam es zur Gründung und was ist die Motivation?

Zunächst einmal möchte ich betonen, dass nicht ich die Maschendraht-Community gegründet habe. Zwei Studentinnen von mir – Melanie Gottschalk und Ulrike Kleinau – haben die Community ins Leben gerufen, es handelt sich also um ein studentisches Projekt. Es ist aus einer Erfahrung in einem Seminar heraus entstanden: Ich habe über die Aktionen meines Informatikdidaktik-Seminars gebloggt und getwittert, was dazu geführt hat, dass sich ganz viele Menschen in das Seminar eingebracht haben u.a. „EduCamper“ wie Jean-Pol Martin, Lutz Berger, Jana Hochberg und andere. Es wurde zum „öffentlichen Seminar“, und das war sehr motivierend für die teilnehmenden Studenten. Ihre Aktivitäten haben auf einmal Aufmerksamkeit von überall her genossen! Entscheidend hierfür war, dass ich bereits eine gewisse „Grundvernetzung“ besessen habe, über die die anderen Menschen „angelockt“ wurden. Die Maschendraht-Community ist entstanden, um diese Erfahrung auch anderen Lehrern und Dozenten zugänglich zu machen mit der Message: Verschafft euch eine Grundvernetzung (im Web 2.0), schreibt dort über eure Aktivitäten an der Schule oder Hochschule, und öffnet dadurch eure Seminare für die Zusammenarbeit mit Menschen außerhalb der Bildungsinstitution. Hierdurch können tolle „Weltverbesserungsprojekte“ angestoßen werden, die für alle Beteiligten äußerst motivierend sein können!

Eine Herausforderung, die die Community der „Öffentlichen Wissenschaftler“ und die erweiterte EduCamp-Community noch meistern möchte, ist, mehr Öffentlichkeit herzustellen und die Leute für Innovationen im Bildungssektor zu begeistern – die politischen Entscheidungsträger nicht zu vergessen. Welche Wege und Möglichkeiten siehst Du hier?

Politische Entscheidungsträger sind außerhalb meines Fokus – hier sehe ich nur wenig Möglichkeiten für erfolgreiche Überzeugungsarbeit, da in diesem Bereich auch ganz andere Interessen eine Rolle spielen. Ich arbeite lieber im Kleinen – d.h. ich versuche, Projekte zu machen – z.B. mit meinen Studenten – und dadurch erst einmal selbst Erfahrungen zu sammeln. Das Ganze wird dann ins Web 2.0 eingespeist via Weblog, Twitter und Co., um andere darauf aufmerksam zu machen. Vielleicht lässt sich ja noch jemand anders dadurch inspirieren – das ist in der Vergangenheit schon mehrmals passiert! Das heißt: Ich möchte nicht missionieren oder überreden, sondern ich möchte Beispiele geben und diese verbreiten. Und das darf nicht nur innerhalb des Web 2.0 geschehen, sondern muss auch offline passieren (damit auch „Offline-Menschen“ Ideen bekommen, wie man online arbeiten kann. Daher richten wir beispielsweise am 9. Mai an der PH Ludwigsburg einen „Lernen-durch-Lehren (LdL)“-Tag aus, an dem Lehrer, Studenten und Dozenten zusammenkommen und gemeinsam über die Methode LdL und die Möglichkeiten des Web 2.0 beim Lernen diskutieren. Ich bin gespannt, wie es weiter geht! :-)

ist freiberuflich als Medien- & Verlagsberater, Trainer und Medienwissenschaftler tätig. Schwerpunkte: Crossmedia, Social Media und E-Learning. Seine Blogheimat ist der media-ocean. Außerdem ist er einer der Gründer der hardbloggingscientists. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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