Schumpeter, die Linke und der digitale Kapitalismus

Die Soziologie taucht nicht zufällig so häufig in den Bonner Vorlesungen des Ökonomen Joseph Schumpeter auf. Als er 1927 seinen ersten Aufenthalt als Gastprofessor an der Harvard Universität antrat, hatten sich die dortigen Soziologen noch nicht vom wirtschaftswissenschaftlichen Institut abgespalten, um eine selbständige „Gruppe für Sozialbeziehungen“ zu bilden. Das erwies sich für Schumpeter als glücklicher Umstand, denn seine eigene Betrachtungsweise der Nationalökonomie orientierte sich immer stärker an der Soziologie.

In Harvard hatte er die Möglichkeit, sich mit den besten Köpfen auf diesem Gebiet auszutauschen und diese Erkenntnisse mit seinen eigenen wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten zu kombinieren. Die Ökonomie blieb der Mittelpunkt seines Denkens – aber auch Geschichte, Soziologie und die Psychologie kamen hinzu. Schumpeter vermied die enge Spezialisierung und stellte sich damit gegen den akademischen Trend seiner Zeit. Er war bestrebt, unangemessene Vereinfachungen zu vermeiden.

Seine Hinwendung zu einer interdisziplinären Sichtweise des ökonomischen Geschehens brachte er bereits 1926 in einem Aufsatz unter dem Titel „Gustav von Schmoller und die Probleme von heute“ zum Ausdruck. Darin würdigt er Schmoller dafür, das Feld der Nationalökonomie über die Grenzen der reinen Theorie ausgeweitet zu haben. Schmoller habe gemeinsam mit Max Weber einer neuen Art von historisch fundierter Wirtschaftssoziologie oder Sozialökonomie den Weg gewiesen. Das war seinen eigenen Forschungen geschuldet und seinen Erfahrungen in Politik sowie Geschäftsleben.

Anachronistischer Klassenstatus

Das belegt auch die Abhandlung von 1928 „Die Tendenzen unserer sozialen Struktur“. Hier untersucht Schumpeter die Diskrepanz zwischen der Wirtschaftsordnung Deutschlands und der Sozialstruktur. Die Wirtschaftsorganisation war kapitalistisch, die deutsche Gesellschaft war aber in ihren Gebräuchen und Gewohnheiten nach wie vor in ländlichen, ja sogar feudalen Denkweisen gefangen – heute industriekapitalistisch.

Zur Reichsgründung 1871 haben nahezu zwei Drittel der Bevölkerung auf Gütern oder Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern gelebt, noch nicht einmal 5 Prozent in Großstädten von mehr als 100.000 Einwohnern. Bis 1925 hatte sich der Anteil der Stadtbewohner verfünffacht, während der Anteil der Landbevölkerung um die Hälfte zurückgegangen ist. Ursache war vor allem ein sprunghafter Anstieg der Agrarproduktivität. Während 1882 in Deutschland nur 4 Prozent der kleinen Landwirtschaftsbetriebe Maschinen einsetzten, waren es 1925 schon über 66 Prozent. Die Mechanisierung löste eine Landflucht aus und trieb die Landarbeiter in die Städte.

1927 erschien „Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu“ (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik) – ein wegweisender Beitrag zur noch jungen Disziplin der Soziologie. Schumpeter selbst zählte den Aufsatz zu den wichtigsten Werken, was aus Notizen hervorgeht, die er gegen Ende seiner Forschungstätigkeiten schrieb.

Seine Grundthese: Der Klassenstatus ist das Ergebnis vorhergegangener Ereignisse und daher anachronistisch. Er weist daraufhin, das die meisten reichen Familien, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts an der Spitze der Gesellschaft gestanden haben, drei Generationen später dort nicht mehr zu finden waren.

Unaufhörliche Dynamik konkurrierender Neuerungen

Man könnte annehmen, vernünftige Sparsamkeit, eine bescheidene Lebensweise und der Erhalt einer soliden Grundlage seien für Unternehmen ausreichend, um an der Spitze zu bleiben. Hier greift er auf die protestantische Ethik nach Max Weber zurück. Schumpeter vertritt die These, dass jede Firma, die sich auf eine derartige Routine beschränkt, schon bald von offensiver agierenden, risikofreudigeren, wettbewerbsorientierten Unternehmen verdrängt werde: „Die Einführung neuer Produktionsmethoden, die Erschließung neuer Märkte, überhaupt die erfolgreiche Durchsetzung neuer geschäftlicher Kombinationen hat Fehlerquellen, Risiken und begegnet Widerständen, die in der Bahn der Routine fehlen“.

In seinem Werk „Theorie wirtschaftlichen Entwicklung“ schreibt er, Erfolge habe nicht in erster Linie der Innovator, der Erfinder und schöpferische Zerstörer, sondern jener, der das Neue am besten organisiert. Die Deutschen verstanden es im 19. Jahrhundert besser als die Briten, die Textilindustrie zu organisieren, selbst wenn sie wenig zu deren maschineller Technologie beitrugen.

Mentale Irrwege im Digitalen

Sind wir mental nun besser orientiert, um den Wechsel vom Industriekapitalismus zum digitalen Kapitalismus zu bewältigen? 1980 zählte der Industriesektor das erst Mal nicht mehr zur dominanten Branche in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Den Gipfelpunkt hatte das produzierende Gewerbe 1960 erreicht, seit dem geht es stetig bergab.

Seit den neunziger Jahren sind mehr als 75 Prozent der Erwerbstätigen und ein ebenso hoher Prozentsatz der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung durch immaterielle und nachindustrielle Produktion entstanden. Die innere Uhr der politischen Entscheider ist immer noch auf die industrielle Produktion gepolt. Man merkt es an der wenig ambitionierten Digitalen Agenda der Bundesregierung, man erkennt es an den lausigen Akzenten, die in der Bildungspolitik gesetzt werden und man hört es bei den Sonntagsreden der Politiker, wenn es um Firmenansiedlungen geht.

Es gibt keine Konzeption für eine vernetzte Ökonomie jenseits der industriellen Massenfertigung aus den Zeiten des Fordismus. Übrigens auch nicht im linken Spektrum der Politik: „Die Linke war historisch eine Befürworterin des Fortschritts, technologisch und sozial. Diese Rolle hat sie irgendwann verloren. Industrialisierung der Landwirtschaft war eine der zehn Forderungen des Kommunistischen Manifestes, eine damals unerhört futuristische Forderung. Wo ist heute eine Linke, die nur annähernd an solch visionäre Perspektive anknüpfen könnte? Die sich eine Vollendung der durch den fossilen Irrweg des letzten Jahrhunderts unvollständig gebliebenen Elektrifizierung auf die Fahnen schreibt? Die mehr Automatisierung fordert statt weniger?“, fragt sich Timo Daum in seinem neuen Opus „Das Kapital sind wir – Zur Kritik der digitalen Ökonomie“, erschienen im Edition Nautilus-Verlag.

Esoterik macht die Automatisierung nicht schöner

Ähnlich sieht es der CIO-Kurator Axel Oppermann: „Was die meisten als Arbeitsplatz der Zukunft verstehen, ist eigentlich der Arbeitsplatz der Vergangenheit. Sehr viele Ressourcen werden in die falschen Themen investiert. Jeder CIO oder Geschäftsführer ist beseelt von der Idee des Digital Workplace. Man kauft irgendwelche Kollaborationslösungen, dann gibt es mal einen Kurs für agile Arbeit und Teamdynamik. Das führt zu nichts.“

New Work und ähnliche esoterische Denkansätze führen nach Meinung von Oppermann in die falsche Richtung. „In den vergangenen zehn bis 15 Jahren haben es die Leute nicht geschafft, Kollaboration in der Breite hinzubekommen. Die Art und Weise, wie in der Vergangenheit gearbeitet wurde, werden in die neuen Konzepte übertragen. Es muss viel mehr auf Automatisierung und Standardisierung gesetzt werden.“

Da würde dann auch Design Thinking nicht greifen. Das werde von denen gepredigt, die mit Brainstorming gescheitert sind. Wie man das Ganze politisch gestalten kann, sollte so langsam vorgedacht werden. Also die Frage der informationellen Grundversorgung, die Frage von public services, die Frage der Verteilung und vieles mehr. Hier sieht das Notiz-Amt ordnungspolitische Herausforderungen, die auf die netzökonomische Agenda gehören.


Image (adapted)“Industrie“ by Huskyherz [CC0 Public Domain]


ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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