Erinnerung und Selbstwahrnehmung bei Autismus

Es ist bekannt, dass Menschen mit einer Störung im autistischen Spektrum einschließlich dem Asperger-Syndrom Probleme mit sozialer Kommunikation entwickeln und stereotype Verhaltensmuster zeigen. Weniger gut untersucht, aber ebenso charakteristisch, sind eine schwächere Selbstwahrnehmung und Funktionsstörungen der Stimmungslage wie etwa Depressionen oder Angststörungen. Diese stehen in Verbindung mit einer geringeren Fähigkeit, persönliche Erinnerungen aus dem so genannten autobiografischen Gedächtnis abzurufen. Studien deuten nun darauf hin, dass das autobiografische Gedächtnis bei der Entstehung eines Sinns für das Selbst ein elementarer Bestandteil bei der Entstehung von autistischen Charakteristika sein könnte. Autismus kommt bei Männern deutlich häufiger vor als bei Frauen, was zu der Theorie geführt hat, dass Autismus ein Ergebnis eines „extrem männlichen“ Gehirns sei, bei denen davon ausgegangen wird, dass weibliche Autisten sozusagen „vermännlicht“ seien. In der Vergangenheit waren die Studienteilnehmer überwiegend männlich, was zu Lücken in unserem Wissen über Autismus bei Frauen und Mädchen geführt hat. Psychologen haben darauf hingewiesen, dass auch die Kriterien zur Diagnose von Autismus an einem Hang zu männlich zugeschriebenen Eigenschaften leiden, was dazu führt, dass viele Frauen und Mädchen viele Jahre ihres Lebens ohne Diagnose bleiben – wenn sie überhaupt je eine bekommen.

Woran wir uns von uns selbst erinnern

Diese Aussage wird durch Studien gestützt, die belegen, dass autistische Frauen andere Charakteristika entwickeln als autistische Männer – besonders im Hinblick auf das autobiografische Gedächtnis. Persönliche Erinnerungen spielen eine wichtige Rolle bei den psychologischen Funktionen, die bei Personen im Autismus-Spektrum beeinträchtigt sind. Persönliche Erinnerungen helfen uns, ein Bild von uns selbst und unsere Selbstwahrnehmung zu formen. Sie helfen uns, vorherzusagen, wie andere denken, fühlen und sich verhalten könnten. Wenn wir mit persönlichen Problemen konfrontiert werden, bieten uns unsere früheren Erfahrungen Einblick in Strategien, die uns helfen könnten, mit der Situation umzugehen oder unsere Ziele zu erreichen. Gespräche, die mit persönlichen Erinnerungen bereichert werden, helfen uns, eine Verbindung zu anderen herzustellen. Sich positive Erinnerungen in Gedächtnis zu rufen, wenn wir uns schlecht fühlen, kann helfen, uns wieder aufzubauen, während das Verweilen bei negativen persönlichen Erinnerungen zu Depressionen führen kann. Was aus Studien zum autobiografischen Gedächtnis bei Autismus deutlich wird, ist die Tatsache, dass Autisten zwar ein exzellentes Gedächtnis für Sachinformationen haben mögen, aber der Prozess des Speichern und Abrufens spezifischer persönlicher Erinnerungen, wie etwa, was an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort geschah, sehr viel schwieriger ist. Stattdessen tendiert ihr Gedächtnis dazu, Sammelbegriffe ihrer Erfahrungen anstelle der Besonderheiten des Ereignisses aufzuzeichnen. Teilweise mag der Grund dafür ihr sich repetitiver, strukturierter Lebensstil sein, bei dem es weniger Gelegenheiten gibt, die als besonders erinnernswert hervorstechen. Ein anderer Grund ist auch, dass sie seltener über ihr Selbst reflektieren. Allerdings deutet unsere Studie darauf hin, dass diese Beeinträchtigung des Gedächtnisses ausschließlich männliche Autisten betrifft.

Gespalten durch Erinnerung

Wir haben die persönlichen Erinnerungen von zwölf Mädchen und zwölf Jungen mit Autismus untersucht und sie mit der gleichen Anzahl von Mädchen und Jungen mit dem gleichen Intelligenzquotienten und dem gleichen verbalen Geschick ohne Autismus untersucht. Wir haben sie gebeten, sich spezifische Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen als Reaktion auf emotionale und neutrale Stichworte wie „fröhlich“ und „schnell“. Wir haben sie auch gebeten, sich so detailliert wie möglich ihre frühesten Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, ebenso wie Erinnerungen aus anderen Abschnitten ihres Lebens. Wir wissen, dass Mädchen tendenziell bessere verbale Fähigkeiten besitzen und besser darin sind, Emotionen zu erkennen. Könnte dies den Inhalt und den Grad der Details beeinflussen, welche sie aus ihrem eigenen Gedächtnis abrufen können? Wir haben uns außerdem gefragt, ob ein Unterschied zwischen den Geschlechtern, den wir beobachten könnten, im Vergleich zwischen Jungen und Mädchen mit Autismus ebenfalls auftritt, oder ob autistische Mädchen sich eher wie die Jungen verhalten würden, wie es von der bereits benannten Theorie des extrem männlichen Gehirns vorhergesagt wird. Wir haben herausgefunden, dass Autismus zu weniger detaillierten Erinnerungen führt, allerdings nur bei den Jungen. Mädchen mit Autismus schnitten vergleichbar zu nicht autistische Mädchen ab. Ihre Erinnerungen waren nicht nur detaillierter als jene der autistischen Jungen, sondern – wie bei den Mädchen ohne Autismus – beinhalteten ihre Erinnerungen mehr Verweise auf ihren emotionalen Zustand als dies sowohl bei autistischen als auch bei nicht autistischen Jungen der Fall war. Das bessere autobiografische Gedächtnis könnte ein Grund dafür sein, warum weibliche Autisten oft besser darin sind, ihr Schwierigkeiten bei der Kommunikation und dem Knüpfen von Kontakten zu verbergen, und daher häufiger ohne Diagnose bleiben. Natürlich führt das zu der Frage, warum sie noch autistisch sind, wenn sie über die Basiskomponente für gute Kommunikation – den Zugang zu detaillierten persönlichen Erinnerungen – verfügen. Es gibt Hinweise darauf, dass die automatische Verbindung zwischen unseren Erinnerungen und dem Wissen, wer wir sind und wie wir diese Information nutzen, um mitzuteilen, wie wir in problematischen Situationen reagieren, bei Autisten schwächer ist. Das bedeutet, dass Frauen mit Autismus sich zwar an die Vergangenheit erinnern können, aber ihre Erfahrungen möglicherweise nicht nutzen können, um sich selbst zu verstehen und bestimmte persönliche Probleme zu lösen. Obwohl sie besser Kontakte knüpfen können als autistische Jungen, könnte dieser Umstand zu einem hohen Preis geschehen: Mehr soziale Interaktion bringt mehr persönliche Probleme mit sich – und wenn diese Probleme überwältigend erscheinen, kann das zu Depressionen führen. Tatsächlich zeigen neuere Studien, dass Frauen mit Autismus häufiger an Depressionen leiden als Männer mit dieser Störung. Dieser Geschlechtsunterschied in Hinblick auf persönliche Erinnerungen ist ein Aspekt der autistischen Charakteristika, der weiter erforscht werden sollte.

Dieser Artikel erschien zuerst auf “The Conversation” unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Image (adapted) „Desconfianza / Mistrust“ by Hernán Piñera (CC BY-SA 2.0)


ist Dozentin der Psychologie an der Goldsmith Universität von London. Ihre Forschungsinteressen konzentrieren sich auf autobiografische Erinnerungsfunktionen, die für persönliche Problemlösung zuständig sind.


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1 comment

  1. Ich kann das kaum lesen mit dem schwarzen Hintergrund, der ganze Text flimmert. Bitte überlegt euch eine bessere Farbkombination

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