Totalüberwachung: „We live in Public“

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„Früher waren Tiger und Löwen Könige des Dschungels – und dann sind sie im Zoo geendet. Ich glaube, wir sind auf dem selben Weg“ sagt der Mund von Josh Harris, der früher in diesem Trailer als „der größte Pionier des Internets, von dem man noch nie gehört hat“ bezeichnet wurde. „We Live in Public“ heißt der Film, der sein ziemlich – nun, nennen wir es einmal ereignisreiches Leben erzählt.

Vom Material her kein Problem – hatte Harris doch schon in den frühen 90ern den Online–TV–Sender „Pseudo“ gegründet, ein Sozialexperiment von einem Sender, das viele in den USA als „Warhol–artig“ beschrieben. (In Wahrheit soll das alles nur ein Fake gewesen sein, gab Harris 2008 bekannt – lange nach der vollkommenen Pleite des Projekts). An der Schwelle des neuen Milleniums, Anfang 2000, startete er ein wüstes Projekt namens „Quiet“. Das Konzept: Ein Haufen bunt zusammengewürfelter Künstler in einem Big–Brother–Kamerasetting in einem New Yorker Bunker. Überall Kameras, auf dem Klo, in der Dusche. Doch das genügte Harris nicht – mit seinem Projekt „We Live in Public“, das auch dem Film seinen Namen gab, ließ Harris sich selbst totalüberwachen, in seiner Wohnung. Mit Kameras auf Toilette, im Kühlschrank und Infrarotaufnahmen im Bett mit seiner Partnerin. Und er filmte sich weiter, auch als die Kameras dokumentierten, wie sein Leben den Bach herunter ging. Die Frau ihn verließ. Seine ganz persönliche Dotcom–Blase platzte. Konsequente Vollüberwachung. Ohne Mitleid.

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All das – so zumindest verspricht der Trailer – ist im Film dokumentiert. Die Zuschauer beim amerikanischen Sundance–Festival waren von dem Ergebnis so fasziniert, dass sie es auszeichneten.

Überhaupt scheint Harris ein Mann für pathetische Sätze zu sein. „Zuerst werden alle das Internet mögen. Aber es wird einen fundamentalen Wandel im Zustand des Menschen geben. Eines Tages werden wir aufwachen und merken, dass wir Sklaven geworden sind. Es hat uns gefangengenommen“, sagt er im Filmtrailer. Doch beunruhigenderweise hat er damit in einer Zeit, in der Facebook, Twitter & Co. unser Leben besser dokumentiert machen als je zuvor, ja auch ziemlich recht. Die Wired schrieb in einem Artikel über sein Projekt schon 2000:

“When TV first came out, it had an impact like a social atomic bomb,” he says. “But the mode of intimacy that I’m presenting, which we’ll experience via the Net, is going to be bigger.”

Im selben Artikel wird Harris als wahnsinnig durchschnittlicher Durchschnittstyp präsentiert. Häufig scheinen Journalisten Hin und Her gerissen, was sie von Harris halten sollen: In einer Minute beantwortet er eloquent Fragen, in der nächsten werden seine Antworten krude. So behauptete er gegenüber sky news, er habe für sein Überwachungsprojekt „We live in Public“ seine damalige Partnerin gezielt gecastet – fünf Jahre zuvor und ohne deren Wissen. Einem Journalisten der New York Times gegenüber behauptet er, das FBI sei hinter ihm her gewesen. Im gleichen Portrait wird ein ehemaliger Mitarbeiter zitiert:

“Josh was and is very complicated,” said David Bohrman, who once was chief executive of Pseudo and is now a senior vice president and the Washington bureau chief for CNN. “There are moments of insight and moments of craziness.”

Und doch hat er ja offenbar schon lange vor fast allen anderen die interessante Frage aufgeworfen, wie Technik und Medien unser menschliches Zusammenleben diktieren und unsere individuelle Identität formen. Die „Zeit“ präsentierte als „Medienexperimentator“, der behauptet, die Menschen wollten einfach überwacht werden.

Wer ist dieser Harris also – ein schillernder Netzvisionär, ein geldverbrennender Dotcom–Dampfplauderer oder einfach ein durchgedrehter digitaler Nostradamus? Um diese Frage beantworten zu können, würde es wahrscheinlich helfen, sich den Film anzusehen. Doch das ist bislang leider bislang nur Menschen in den USA, Kanada und Großbritannien vorbehalten.
Fotos: Donna Ferrato (oben), Eamon Madigan (unten)

(www.laaff.net) lebt und arbeitet als Journalistin in Berlin. Sie ist stellvertretende Ressortleiterin bei taz.de, schreibt für überregionale Zeitungen, Onlinemagazine und produziert Radiobeiträge. Sie betreut zudem das taz-Datenschutzblog CTRL.


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