Weshalb wir den Wahlen in Polen Beachtung schenken sollten

Die Bedeutung der Wahlen in Polen ist nicht zu unterschätzen, besonders für Europa.

Die Polen sind im Begriff, einen gefährlichen Schritt ins Ungewisse zu tätigen und das übrige Europa dürfte nicht weit dahinter folgen. Die Präsidentschaftswahlen sind für den 25. Oktober vorgesehen und die rechtsextreme Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwo??, oder PiS) wird mehr Stimmen für sich gewinnen als alle anderen.

Dies ist so ziemlich das einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann: wie viele Stimmen sie genau gewinnen werden, wie viele andere Partei-Abgeordnete in dem neuen Parlament sein werden und wie die Machtverhältnisse verteilt sein werden – all dies ist unmöglich, vorherzusagen [Lesetipp zum Ausgang der Wahl: “Polen rückt nach rechts”].

Die politische Landschaft Polens ist so verworren, dass es einem außenstehenden Beobachter verziehen wäre, wenn er sich mit einem Schulterzucken abwendet. Sollten wir schließlich, in einer Zeit, in der die Welt von so vielen schweren Krisen heimgesucht wird, unsere begrenzte Aufmerksamkeit auf Geschehnisse in einem kleinen osteuropäischen Land lenken?

Ja, das sollten wir – und nicht nur, weil Polen eigentlich gar nicht so klein ist (mit 38 Millionen Menschen hat es etwa die Größe Spaniens und nahezu das Vierfache der Größe Griechenlands).

Der Hauptgrund, weshalb wir aufmerksam sein sollten ist, weil die politische Gefahr, der Polen zur Zeit gegenübersteht, ein Beispiel eines weit verbreiteten europäischen Phänomens ist und die Geschehnisse in Warschau ein großes Echo in Paris, Rom, Berlin, London und in erster Linie in Brüssel hervorrufen werden.

Welches Recht? Wessen Gerechtigkeit?

Eben nannte ich die PiS eine “rechtsextreme” Partei, doch das ist etwas zu stark vereinfacht. Es ist schwer, sie einer eindeutigen Ideologie zuzuordnen. Eine Einsichtnahme in deren Programm zeigt einerseits, dass die Partei höhere Sozialausgaben, höhere Steuern für Vermögende und die Renationalisierung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft fordert. Eines ihrer Standbeine ist der Gewerkschaftsbund “Solidarität” (der Erbe der Bewegung, die den Kommunismus in den 1980ern stürzte).

Andererseits opponiert die PiS gegen Immigranten, Homosexuelle, Feministen, Liberale und allgemein gegen alle “Ausländer.”

Der Parteichef, Jaros?aw Kaczy?ski, warnte kürzlich davor, dass Flüchtlinge aus dem Nahen Osten Träger “unterschiedlichster Parasiten, Protozoen, die weit verbreitet und ungefährlich im Körper dieser Menschen sind, (aber) hier gefährlich sein könnten” seien. In der Vergangenheit sagte er, dass es sein Ziel war, ein Polen zu erschaffen “in dem nur ein polnisches Volk lebt und nicht verschiedene Nationen”. Er glaubt, dass die polnische Regierung der letzten acht Jahre nicht mehr als eine Gruppe von Agenten für Deutschland und Russland war, deren Zielder Zerfall der polnischen Nation” ist.

Kaczy?ski gab neulich zu, dass es sein Ziel sei, Zeit seines Lebens an der Macht zu bleiben und dass er ein “Budapest entlang der Weichsel” erschaffen will (als Anspielung auf das politische System, das von dem Konservativen Viktor Orbán in Ungarn aufgebaut wurde).

Die PiS steht für eine zentrale Obrigkeit, ein starkes Militär und eine nationale Einheit gemäß katholischen Werten. In der Tat ist das zweite Standbein der PiS die Hierarchie der Katholischen Kirche und des Großteils des polnischen Klerus, welche trotz der stetigen Säkularisierung des Staates in Polen äußerst wichtig bleibt.

Nicht einzigartig

Diese Kombination einer “linksgerichteten” sozialökonomischen Agenda mit einer “rechtsgerichteten” kulturellen und politischen Agenda mag seltsam erscheinen, doch in Wirklichkeit hat sie tiefe Wurzeln in Polen und im ganzen gegenwärtigen Europa.

Am markantesten können wir dies in Ungarn erkennen, wo Premierminister Viktor Orbán verkündete, dass “die Ära der liberalen Demokratie vorbei ist”, aber zur selben Zeit die Steuern für große Unternehmen und Banken erhöhte, etliche Firmen wieder verstaatlichte und Elektrizitäts-Preiskontrollen einführte.

Orbán selbst hat die Beispiele von Russland, China, der Türkei und Singapur als Vorbilder für die Zukunft Europas angeführt.

Es ist EU-Politikern (bisher) gelungen, Orbán als eine osteuropäische Besonderheit abzutun, indem sie seine antidemokratische Politik ablehnen, während sie davon ausgehen, dass er letztendlich entmachtet und Ungarn in den europäischen Strom zurückbefördert wird. Sollte sich jedoch in Polen ein ähnliches Regime entwickeln, wird dies nicht so leicht zu ignorieren sein.

Die polnische Erfolgsgeschichte – bisher…

Polens Wirtschaft ist untrennbar mit der der Deutschlands verbunden, sowohl als Quelle billiger Arbeitskräfte als auch als riesiger Markt für Güter aus deutscher Produktion.

Ein Aufruhr an der Warschauer Börse (welche Unternehmen im Wert von insgesamt 139 Milliarden Euro auflisten) würde Märkte allerorts erschüttern. Eine Steigerung der Auswanderung aus Polen, die bereits das Sprachprofil Großbritanniens mit mehr als einer halben Million Polnisch sprechenden Einwohnern transformiert hat, würde dort noch weiter Überfremdungsängste schüren.

Noch wichtiger als diese praktischen Bedenken, jedoch, ist ein symbolischer Aspekt. In einer Zeit, in der das Ansehen Europas vom griechischen Schuldenfiasko, der Flüchtlingskrise und der Stagnation der gesamteuropäischen Wirtschaft untergraben wird, wird Polen als große Erfolgsgeschichte der EU angepriesen. Inmitten all dieser Probleme dient Polens jüngste Geschichte als Beweis dafür, dass Brüssels Vorgehensweise bei Integration und Wirtschaftsführung funktionieren kann.

Die Große Rezession von 2008 betraf die Polen kaum: die Einkommen sind jedes Jahr gestiegen, die Gesamtgröße der Wirtschaft ist deutlich schneller gewachsen als irgendein anderes postkommunistisches Land (in der Größe verdoppelt seit 1989) und ein Großteil der Polen sagt nun, dass ihr Leben gut sei (verglichen mit nur 9 Prozent, die angeben, dass ihr Leben schlecht sei).

Trotz all dieser Errungenschaften wird die Partei, die Polen durch dieses wirtschaftliche Wunder führte, dennoch mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wahlen am 25. Oktober verlieren.

Die Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, oder PO) liegt derzeit gegen die PiS etwa ein Dutzend Punkte in den Umfragen zurück. Die einzige Hoffnung an der Macht zu bleiben, an die sich die Premierministerin Ewa Kopacz klammern kann, ist im Rahmen einer breiten Koalition mit Anti-PiS Parteien. Wie ich bereits anderswo angeführt habe, würde dies eine Regierung aller, von Sozialdemokraten bis hin zu Liberalisten, nach sich ziehen, was ideologisch zu diffus wäre, um viel zu erreichen. Die Gefahr besteht, dass eine machtlose große Koalition nur noch zusätzliche Wähler verprellen und letzten Endes die PiS stärken würde.

Aber weshalb würden diese Wähler überhaupt erst verstimmt werden? Das Gegenüberstellen von Polens wirtschaftlichem Erfolg und dem Aufkommen einer radikalpopulistischen Formation wie der PiS scheint keinen Sinn zu ergeben. Wir könnten versucht sein, es als eine idiosynkratrische Geschichte politischer Dysfunktion zu sehen, ohne größere Erkenntnisse für den Rest Europas.

Doch solch eine Selbstgefälligkeit wäre riskant, denn was in Polen geschehen ist, geschieht überall in Europa.

Die Mitte verliert den Boden

Genau genommen haben weder die PiS, noch die Gruppe der Parteien, die realistisch gesehen mit ihnen eine Koalitionsregierung eingehen könnten, auch nur annähernd die Mehrheit gewonnen. Wie die unten stehende Grafik zeigt, stieg die Unterstützung für diese Partei und deren potenzielle Bündnispartner im Sommer ein bisschen, pendelt sich nun allerdings wieder dort ein, wo sie zu Beginn des Jahres war.

Die Unterstützung für Kaczy?ski persönlich stagniert seit vielen Jahren bei 30 Prozent und er hat weiterhin eine der höchsten Ablehnungsraten aller polnischen Personen des öffentlichen Lebens.

Durch eine seltsame Fügung schlägt sich seine Partei derzeit besser, gerade weil er sich in den letzten Monaten im Hintergrund hielt, versichernd, dass er in einer künftigen PiS-Regierung nicht Premierminister werden wird (obwohl niemand daran zweifelt, dass er die graue Eminenz sein wird). Gleichzeitig unterstützten zu Beginn des Jahres 2015 mehr als 40 Prozent der Wählerschaft die PO, welche nun in Umfragen auf unter 20 Prozent abgerutscht ist.

Nein, dies ist keine Geschichte über den Aufstieg der radikalen Rechten; es ist eine Geschichte über die Machtlosigkeit der Mainstream-Mitte. Das Meinungsbild in Europa (und außerhalb) drehte sich lange um einen illusorischen Konsens über die Vorzüge der finanztechnischen Sparsamkeit und die vermutliche Solidität “europäischer Werte”.

Sozialdemokraten wie Frankreichs François Hollande behaupten, eine Alternative zu Konservativen wie Angela Merkel zu bieten, doch keiner brachte es fertig, sich zu den Sorgen des 21. Jahrhunderts zu äußern. Die selbstgefällige Überzeugung, dass das Abstraktum namens “Europa” Demokratie, Toleranz und soziales Wohlergehen verkörpert, besteht nach wie vor, auch während diese Werte innerhalb jedes europäischen Landes in Frage gestellt werden.

Merkels hochgesinnter (und bewundernswerter) Umgang mit der Flüchtlingskrise hat zu einer Revolte innerhalb ihrer eigenen Christdemokratischen Partei geführt.

Gewerkschaftsführer in Frankreich haben vor einer “sozialen Explosion” infolge Hollandes Bemühungen, sein Land zu “reformieren” und “modernisieren”, gewarnt. Eine jüngste Kontroverse um seine Unterstützung bei Entlassungen bei Air France ist bloß ein Symptom eines viel größeren Konflikts.

Die Beispiele lassen sich multiplizieren, sogar ohne den Atlantik zu überqueren, um das Phänomen des Donald Trump zu berücksichtigen, dessen grundlegende Rhetorik die von Jaros?aw Kaczy?ski spiegelt.

In all diesen Fällen entstehen die Unruhen nicht von den Randgruppen oder Enteigneten, sondern eher von denen, die einen bescheidenen Wohlstand und Stabilität erlangt haben, nur um sie durch die Folgen der Großen Rezession (oder im weiteren Sinne durch die Modernität des 21. Jahrhunderts) bedroht oder untergraben zu sehen.

Die meisten Polen fühlen sich tatsächlich erfolgreich und sind stolz auf ihre Errungenschaften der letzten Jahre, dennoch drehen sie denen an der Macht den Rücken zu. Sie repräsentieren auf europäischer Ebene eine Kraft, die innerhalb jedes Staates gesehen werden kann: eine Bevölkerung, die nicht wohlhabend oder einflussreich genug ist, sich in diesen unsicheren Zeiten sicher zu fühlen, jedoch eine, die sich mit keinem der Namen, die die Linke gebraucht, identifizieren kann.

Diese Menschen werden nicht vom Sozialismus angezogen, da sie sich selbst nicht als “Arbeiter” im traditionellen Sinne dieses Wortes sehen. Sie sehen welchen Erfolg auch immer sie haben als das Produkt ihrer eigenen Bemühungen, weshalb sie nicht linke Parteien unterstützen werden, die versprechen, den Armen mehr Hilfe zukommen zu lassen. Sie verübeln die Aufmerksamkeit, die ethnischen Minderheiten und Immigranten geschenkt wird, weil sie einen Kampf um Ressourcen zwischen ihnen selbst und denen, die “nicht dazugehören” (ob aufgrund vermeintlicher persönlicher Mängel oder weil sie “Ausländer” sind) wahrnehmen. Dennoch sind sie gleichermaßen verärgert über die zunehmende Ungleichheit an der Spitze der sozialen Hierarchie, über die wirtschaftlichen oder finanziellen Eliten, die sich selbst über die Regeln stellen, über alle Normen sozialer Solidarität.

Polen als relativ wohlhabendes Land (aus globaler Perspektive betrachtet), das trotzdem sehr viel ärmer als seine Nachbarn im Westen ist, stellt ein nationales Beispiel für diesen unsicheren Zwischenzustand dar.

Die Europäische Union ist im Begriff, sich den Konsequenzen dieser Unsicherheit entgegenzustellen, nicht nur nach den polnischen Wahlen, sondern in den kommenden Jahren über den Kontinent hinweg.

Dieser Artikel erschien zuerst auf “The Conversation” unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Image (adapted) “Jaros?aw Kaczy?ski” by Piotr Drabik (CC BY 2.0)


 

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