Preferred Blog: Phrasen auf dem Seziertisch

Phrasen und Worthülsen sind wie Umweltgifte, die langsam in unser Denken eindringen und es schädigen – bis hin zum völligen Zusammenbruch des selbständigen Denkvermögens. Zu eben diesem Zweck werden sie in der Werbesprache und in der Sprache der Politik verwendet. Nun habe ich einen Blog gefunden, der zur Stärkung des gedanklichen Immunsystems beiträgt: neusprech.org.

Die Manipulation der Begriffe kommt der Manipulation der Wirklichkeit gleich: Wenn der Mensch keine wirklichkeitsgemässe Begriffe mehr hat, kommt ihm der klare Blick auf die Welt abhanden. Niemand hat das eindringlicher dargestellt, als George Orwell in seinem Roman «1984». Neusprech heisst dort die ferngesteuerte Sprache, die der Manipulation der Bevölkerung dient, zum Beispiel indem einzelne «gefährliche» Begriffe ganz aus dem Gebrauch verschwinden sollen. Freiheit ist so ein «gefährlicher» Begriff – vielleicht der gefährlichste überhaupt. Er wird in Neusprech nur noch im Sinne von ohne verwendet, also etwa im Satz: «Der Himmel ist frei von Wolken», nicht aber im Sinne von menschlicher Freiheit im Denken oder im politischen Sinn. Orwell hat den Mechanismen dieser Sprachlenkung einen ganzen Anhang gewidmet.

Doch das ist Belletristik, Fiktion und geht uns heute nichts mehr an – ausser vielleicht, dass wir gut unterhalten sein wollen … Nicht ganz! Das Projekt Neusprech ist weit fortgeschritten  – und PR- und Werbefirmen, Politiker wie auch viele Medien arbeiten fleissig an der weiteren Perfektionierung, oft in enger Zusammenarbeit. Oder war Ihnen auf Anhieb bewusst, dass der Begriff Sicherheitszone eigentlich eine Gefahrenzone meint oder dass eine humanitäre Intervention in den meisten Fällen schlicht Krieg bedeutet?

Je subtiler die Sprachmanipulation, umso wirksamer ist sie auch, weil zu deren Demaskierung unbefangenes, genaues Denken notwendig ist. Martin Haase und Kai Biermann, die beiden Betreiber des Blogs neusprech.org, denken genau und sezieren manipulative Begriffe der aktuellen Politsprache vor den Augen der Leserinnen und Leser kompetent und in fast schon genüsslicher Weise – jedenfalls so, dass man die Artikel gerne liest und immer wieder ob sich selber staunt – nämlich dass man sich so lange hat einen Bären aufbinden lassen … Beispiel gefällig?

Migranten

Anfangs hießen sie Gastarbeiter, dann wurden daraus Arbeitsemigranten, also Auswanderer, später kam ihnen die Arbeit abhanden und sie mutierten zu Migranten. Das soll “politisch korrekt”, also möglichst verschleiernd sein, ist aber nur entlarvend. Denn das lateinischee migrare bedeutet wandern, also das ständige Bewegen zu einem anderen Ort. So als gäbe es welche, die ziellos durch die Welt ziehen, weil sie nichts mit sich anzufangen wissen. Wörtlich also sind M. Menschen, die zufällig gerade mal hier sind, (hoffentlich) aber (bald) wieder gehen. Dabei kommen sie, um zu bleiben oder sind gar hier geboren. Wir wollen das nur noch immer nicht wahrhaben. Denn wir Deutschen mögen offensichtlich keine Anderen – egal, wie wir sie nennen. (…)

Die Crew der Netzpiloten in Hamburg und Berlin setzt sich zusammen aus rund zehn festangestellten Redakteuren/innen, festen freien Blogger/innen sowie einigen Praktikanten. Alle Texte der Mitglieder unseres ausgedehnten Netzpiloten Blogger Networks erscheinen direkt unter deren Autorenhandle.


Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: ,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert