Die Irrtümer der Verwertungsindustrie und ihrer Adepten

Verlage, Musikindustrie und Künstler wehren sich in einer Kampagne gegen die “Umsonstkultur” des Netzes, die es allerdings in der behaupteten Form gar nicht gibt. Die Adepten der Verwertungsindustrie laufen den falschen Ideen hinterher. Das hat der Kulturwissenschaftler und Mitherausgeber des Sammelbandes “Vergessene Zukunft – Radikale Netzkulturen in Europa” Felix Stalder im Interview mit tagesschau.de deutlich gemacht. Die alten Bezahlmodelle seien am Ende – die Zukunft der Kultur liege im Schwarm:

    “Bislang waren wir als Leser oder Zuhörer dazu verdammt, passiv zu konsumieren. Durch die neuen Medien verschwimmen die Rollen zwischen Autor und Publikum und Zuhörer aber immer mehr”, so Stalder.

Wichtiger Punkt, der bei dieser gesamten massenmedial ausgerichteten Sender-Empfänger-Propaganda schön unter den Tisch gekehrt wird.

Die Gesellschaft verkomme nicht, betont Stalder. Sie stelle sich nur die Frage: Was ist wertvoll?

    “Wir sehen im Internet einerseits ein generelles Überangebot, andererseits eine intensive Kultur der Wertschätzung innerhalb kleiner oder großer Nischen. Und das nicht nur auf einer künstlerischen Ebene, sondern es geht auch ganz konkret um finanzielle Werte. Wenn zum Beispiel Künstler durch Spenden finanziert werden. Wir sehen aktuell zwei Modelle in der Kultur, die miteinander konkurrieren: Einerseits der exklusive Produzent, der ein Produkt für eine große, passive Masse herstellt. Andererseits Künstler und Fans, die näher zusammenrücken.”

Sven Regner hat das wohl nicht kapiert. Dazu Stalder:

    “Im klassischen Mäzenatentum des Mittelalters war der Künstler vollkommen abhängig von der Gunst eines Mäzens. Das war ein hierarchisches Verhältnis. Heute ist es eher ein kooperatives Verhältnis. Das alte Modell funktioniert nur noch für eine Minderheit, zu der auch Regener gehört. Das ist eine prominente Minderheit, die von den verkauften Kopien profitiert und davon leben kann. Es ist nicht so, dass auf der einen Seite Fans und Künstler stehen und auf der anderen Seite die bösen Verlage. Hier wird auch Hand in Hand gearbeitet, weil es in diesem Kultur-Modell darum geht, dass eigentlich die Kopie eines Werkes bezahlt wird, nicht der Inhalt.”

Bei den Crowdfunding-Modellen sei das anders: Ein Künstler stelle seine Idee vor oder hatte bereits einen tollen Roman geschrieben, eine gute CD gemacht, und wirbt um Unterstützer, die das Projekt mit Spenden oder anderen Leistungen ermöglichen. “Dass ein Künstler für sein Publikum und zusammen mit seinen Fans arbeitet, das ist per se nichts Schlimmes. Wir werden in Zukunft vermutlich häufiger solche Projekte erleben”, sagt Stalder.

Jo. Richtig. Aber das ist Leuten wie Sven Regener wahrscheinlich viel zu anstrengend. Aber die Aufmerksamkeit muss man sich im Netz verdienen und kann sich nicht hinter dem Apparat der Verwertungsindustrie bequem verkriechen.

Die Masse der Künstler bekommt von den Verwertungsbubis noch nicht einmal ein Taschengeld. Auch was VG Wort für Publizisten ausschüttet ist lächerlich – da bekam ich jüngst schlappe 46 Euro. Wahnsinn. Stalder sieht das ähnlich.

    “In der Schweiz bekommen viele Mitglieder der Verwertungsgesellschaft gar nichts, dreiviertel Peanuts, ein paar verdienen ganz gut und ganz wenige richtig viel – das sind die klassischen Bestseller. Das ist in Deutschland durchaus vergleichbar. Die neuen Modelle setzen genau dort an, wo es nicht mehr um die Kontrolle der Kopie geht, sondern um die künstlerische Idee. Der Niedergang der alten Modelle, die auf starker Urheberrechtskontrolle beruhen, ist begleitet von einem Aufblühen alternativer Ideen, eben zum Beispiel durch Crowdfunding, kooperative Produktionen, aktive Fans.”

Sogar Unternehmensberater können nicht mehr nach den alten Modellen arbeiten und die sind sicherlich andere Honorare gewöhnt: Schutzwälle für Verwertungsmonopole und gesetzlich initiierte Konjunkturprogramme für Abmahnanwälte zählen sicherlich nicht zu den innovativen Antworten auf die vernetzte Ökonomie. Die Altverleger-Weisheiten, die in der Mein-Kopf-gehört-mir-Aktion zum Ausdruck kommen, sind eher Rückzugsgefechte, so Bernhard Steimel von der Future Management Group im Ich sag mal-Bibliotheksgespräch.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

    „Am Ende einer Ära sieht man immer krisenhafte Zuspitzungen. Die Verlagswelt hat in den vergangenen zehn Jahren festgestellt, dass die herkömmlichen Abonnentenmodelle nicht mehr funktionieren. Ich kann das auch in meiner Funktion als Studienautor erkennen. Vor zehn Jahren habe ich eine Studie klassisch verkauft und habe dafür einen fünfstelligen Betrag verlangt. Diese Zeiten sind vorbei. Was da als Umsonstkultur bezeichnet wird, ist nur eine Verschiebung in andere Geschäftsmodelle. Unsere neue Abhandlung über Social Commerce wird beispielsweise gegen Registrierung kostenfrei angeboten. Deswegen arbeite ich aber nicht umsonst“, sagt Steimel.

Finanziert werden solche Projekte über Sponsoren, Vorträge und Werbung. Der Erfolg der Piraten sei ein Signal für die Umwälzungen der digitalen Welt: „Diese Partei arbeitet mit sozialen Technologien und hat auf diesem Feld einen klaren Kompetenzvorsprung“, resümiert Steimel. Die polemische Agitation der Etablierten würde in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu kurz greifen.

Größere Rolle der Nische

Je mehr Güter ihre materiellen Eigenschaften verlieren und in digitalisierter Form vorliegen, desto mehr spiele die Nische eine große Rolle – Chris Anderson spricht vom Long-Tail-Effekt. Umso wichtiger werden im E-Commerce die sozialen Filter – also die Kultur der Weiterempfehlung. Für Unternehmen, die es gewohnt sind, alle Karten in der Hand zu halten, ist die neue Macht der Kunden ein furchterregender Zustand. Entsprechend haben sie als Anbieter zwei Möglichkeiten, auf die neue Situation zu reagieren: Die liebwertesten Gichtlinge der Gesternwelt können versuchen, einer Kontrollillusion anheimzufallen und den Anschluss an die vernetzte Ökonomie zu verlieren oder:

„Sie gehen den Erfolg versprechenden Weg und geben den Kunden Zugriff auf ihre Daten und die Chance, mit den Mitarbeitern des Unternehmens zu interagieren“, so die von Steimel betreute Social-Commerce-Studie, die in Kooperation mit dem Fachmagazin absatzwirtschaft erstellt wurde.


Image Radikale Netzkulturen by Gunnar Sohn


Dieser Artikel von Gunnar Sohn ist zuerst erschienen auf seinem Blog „ichsagmal.com“.


ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: , , , ,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert