Die Bibliothek im digitalen Wandel

In einem ganztägigen Workshop der Berliner Gazette wurde am 6. April im Berliner SUPERMARKT über digitale Bibliotheken und neue Publikationsmodelle diskutiert. Im Nachgang sprachen Christina zur Nedden mit Corinna Haas, Bibliotheksleiterin am Institute for Cultural Inquiry und der wissenschaftlichen Bibliothekarin beim Kooperativen Bibliotheksverbund Berlin-Brandenburg, Beate Rusch, über die Deutsche Digitale Bibliothek, Zugang zu Wissen und Urheberrecht und ob gedruckte Bücher bald Vergangenheit sind.

Christina zur Nedden (CzN): Seit 15 Monaten gibt es die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB), eine nationale Tochter der Europeana. Ziel ist es das kulturelle und wissenschaftliche Erbe Deutschlands in digitaler Form anzubieten und somit zu einer Bündelung der Kulturgüter auf europäischer Ebene beizutragen. Schätzen Sie diese Projekte als ambitioniert oder realisierbar ein?

Beate Rusch (BR): Wir wünschen uns, dass Museen, Archive und Bibliotheken – also die Institutionen, die heute unser kulturelles Erbe bewahren – auch im Netz zu aktiven Gestaltern werden. Das Internet mit seinen Inhalten darf nicht bei Null anfangen. Auch wenn das große Worte sind: Wir haben Traditionen und Wurzeln und die sollen auch im digitalen Raum sichtbar werden. Projekte wie die Deutsche Digitale Bibliothek und die Europeana sind hier wichtig. Ich würde es so formulieren: Die Deutsche Digitale Bibliothek ist ambitioniert, na klar, aber so wichtig, dass sie zum Erfolg verdammt ist.

CzN: Wie unterscheiden sich die DDB und andere digitale Bibliotheken von Suchmaschinen wie Google?

CH: Suchmaschinen durchpflügen quasi das offene Meer und fördern manchmal ein wildes Sammelsurium zutage. Dagegen bilden digitale Bibliotheken Sammlungen ab und weisen auf Zusammenhänge hin.

BR: Sie sind wohltuend. Es gibt keine Werbung! Und das ist auch gut so. Öffentlich getragene digitale Bibliotheken haben einen öffentlichen Auftrag und müssen kein Geld verdienen. Und damit bestimmen Werbeklicks nicht die Rangfolge der Ergebnisse.

CzN: Die DDB verlinkt hauptsächlich zu Inhalten anderer Wissenschaftseinrichtungen. Diese sind oft nicht frei zugänglich. Bedeutet digital nicht automatisch „offen“?

BR: Die Frage zielt auf die Urheberrechte ab und dieses Gebiet ist keineswegs trivial. Drei Anmerkungen dazu aber – Achtung – ich bin keine Juristin: Wissenschaftliche Bibliotheken kaufen heute keine eBooks oder e-Zeitschriften, in der Regel erwerben Sie nur die Zugänge. Dafür geben Universitätsbibliotheken heute mehr als die Hälfte ihres Jahresbudgets aus. Wie frei und wie offen die Zugänge gestaltet sind, regeln die Verträge zwischen Bibliothek und Verlag. Darf man nun eBooks über die Fernleihe bundesweit verschicken? Diese Frage ist zwischen Bibliotheken und Verlagen heiß umstritten. Bei digitalisieren Bibliotheken oder Museen und ihren vorhandenen, gekauften Beständen steht auch hier am Anfang immer die Frage: Gibt es Autorenrechte oder Verlagsrechte, die zu beachten sind? Wer hat an dem Werk welche Rechte? Lange haben Bibliotheken dafür gekämpft, (von Rechteinhabern) verwaiste und vergriffene Werke legal digitalisieren zu dürfen. Seit 2014 ist dafür endlich eine europäische Lösung gefunden. Das ist ein guter Schritt. Die Rechtefrage in Museen ist noch schwieriger, da es hier oft um Bildrechte oder aber um anonyme Werkstücke geht. Wo es gut funktioniert ist in kleinen Museen, die als Nachlassverwalter agieren und enge Kontakte zu den Erben pflegen – wie zum Beispiel das Brücke-Museum in Berlin. CH: Ich möchte noch auf einen anderen, mit dem Thema Offenheit verbundenen Aspekt hinweisen: Offenheit ist nicht dasselbe wie vollständiger Zugang. Denn digitale Bibliotheken haben eine weitere zentrale Aufgabe: Spuren in die physische Welt zu legen! Nur ein geringer Teil des kulturellen Erbes ist genuin digital oder Eins zu Eins digitalisierbar. Selbst die 3D- Darstellung eines Gebäudes ist natürlich nicht mit dem Original gleichzusetzen, sondern repräsentiert es lediglich. Außer „Access“ ist also „Reference“ die zentrale Aufgabe digitaler Bibliotheken: Dort, wo alle suchen – also im Internet – auf Objekte der physischen Welt hinzuweisen.

CzN: Unter den momentan 8 Millionen multimedialen Angeboten der DDB befinden sich 2,1 Millionen Bilder, 5000 Audio- und Videodateien, aber nur eine Million Texte. Gibt es heute genügend digitalisierte Bücher und Kulturgüter um eine virtuelle Bibliothek anzubieten?

BR: Wie schon gesagt, hier brauchen wir dringend eine Reform des Urheberrechts. Wir brauchen ein Urheberrecht, das der Freiheit von Wissenschaft und Forschung Rechnung trägt und einen zeitgemäßen Ausgleich schafft zwischen den Interessen der Gesellschaft auf der einen und den Urhebern und ihren Vertretern auf der anderen Seite.

CzN:Kathrin Passig ist der Meinung, dass Bibliotheken Papiermuseen sind und ihre Aufgaben vom Internet übernommen wurden. Und doch werden Bibliotheken mit zunehmender Digitalisierung immer beliebter bei Menschen, die in Ruhe an ihren Laptops arbeiten möchten. Was bieten Bibliotheken ihren Besuchern heute? Haben sie sich zu nicht kommerziellen Co-Working Spaces gewandelt und braucht man noch gedruckte Bücher?

CH: Bibliotheken haben sich in den letzten 20 Jahren sehr stark gewandelt; ihre Bestände und Services sind in weiten Bereichen digital geworden. Die Gleichsetzung „Bibliothek = Papier“ greift also nicht. Zu den Aufgaben von Bibliotheken zählen auch manche, die das Internet nicht ersetzt, etwa Unterstützung bei der Bewältigung der Informationsflut. Es stimmt, dass Bibliotheken als Lern- und Arbeitsorte – besonders Öffentliche Bibliotheken auch als Veranstaltungsorte – immer beliebter werden. Die Diskussion, ob sie sich auch als Coworking-Spaces für Selbständige und Start-Ups eignen, steht jedoch in Deutschland noch am Anfang. Print-Bücher haben in den Bibliotheken nach wie vor einen sehr hohen Umsatz. Ich denke, sie werden weiterhin gebraucht – und auch gewollt!

CzN: Wo sucht es sich einfacher – analog oder online? Existiert eine Kluft zwischen den Generationen?

CH: Ganz klar, online sucht es sich natürlich viel einfacher und effektiver, und man kann die gefundenen Materialien auch gleich online durchsuchen. Dass die jüngeren Generationen sich kompetenter in der digitalen Welt bewegen als die älteren, dürfte eher ein Vorurteil als eine Tatsache sein. Wahrscheinlich gibt es darüber schon Untersuchungen? Natürlich ist mit der Digitalisierung der Fortbildungsbedarf für jüngere und ältere Informationsprofis enorm gewachsen – wenn sie dem nicht nachkommen, geben sie keine kompetenten Auskünfte, etwa über das Datenbankangebot der Bibliothek.

CzN: Wenn es digitale Bibliotheken gibt, wird es dann auch digitale Bibliothekare geben?

CH: Die gibt es doch längst! Bibliothekare und Informationswissenschaftler engagieren sich in Digitalisierungsprojekten, sind an der Entwicklung von Standards zur digitalen Langzeitverfügbarkeit beteiligt und bieten viele Services in digitaler Form an. Auch die Chatbots, die Bibliotheken gern als elektronische Informationsassistenten einsetzen, könnte man vielleicht als „digitale Bibliothekare“ bezeichnen.

BR: Ich weiß nicht, ob ich mich als digitale Bibliothekarin bezeichnen würde. Ich fühl mich analog lebendig und ganz wohl (lacht)

CzN:Wie verändert Digitalisierung die Aneignung von Wissen in Bibliotheken? Fördert sie den Austausch zwischen Nutzern?

CH: Eine sehr komplexe Frage! Die Aneignung von Wissen, auch das Wissen selbst, haben sich generell sehr stark verändert – in Bibliotheken genauso wie anderswo. Mercedes Bunz beschreibt das zum Beispiel (Die Stille Revolution, 2012). Den Austausch zwischen Bibliotheksnutzern fördert die Digitalisierung höchstens indirekt. Ich denke, dass viele Faktoren ineinander greifen, wenn Nutzer sich austauschen – Studienanforderungen, Lern- und Arbeitsformen, Raumangebote, digital verfügbare Materialien, Lernplattformen und andere Tools, usw.

BR: Auch hier ist die Frage, was wir können und was wir dürfen. Ich bin nicht ganz sicher, dass ich die Frage verstanden habe. Vielleicht passt das: Auch die Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften sind nun digital. Man spricht von Digital Humanities. Technisch gibt es nun ganz neue Möglichkeiten. Riesige Textmengen – beispielsweise Zeitungsarchive – können nun nach bestimmten wiederkehrenden Argumentationsketten durchsucht werden und gesellschaftliche Diskurse können ganz anders untersucht und visualisiert werden. Aber hier ist sie wieder: die Kluft zwischen Können und Dürfen. Darf ein Forscher die Archive von Zeitungen durchsuchen und auswerten oder muss er zahlen? Darf er seinen Kollegen seine Daten weitergeben oder nicht? Und wieder reden wir über zahlreiche Rechtsprobleme.


Ergänzende Lesetipps:


 


ist freie Journalistin und Volontärin an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin. Ihre veröffentlichten Texte gibt es auf ihrer Website christinazurnedden.com. Auf Twitter ist sie unter @czurnedden zu finden. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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