Tatort Chiang Mai – Einmal pro Woche in Deutschland

Wir sind in Chiang Mai, einem der Hotspots für digitale Nomaden weltweit. Große Coworking Spaces auf den Dächern von Einkaufszentren, Dutzende kleine und mittelgroße Cafés, die sich ausgewiesen an uns digitale Nomaden und alle anderen Hipster wenden. Überall sitzen wir mit unseren Laptops, Tablets und Handys. Das WLAN ist rasend schnell, Daten flitzen durch die schwüle Luft zwischen den LTE-Sendemasten und meiner Simkarte.

Es ist die zweitgrößte Stadt Thailands aber kein Moloch wie Bangkok. Hier leben gerade einmal 150.000 Menschen. Hinzu kommen rund 5.000 digitale Nomaden und natürlich einige Tausend Touristen. Die historische Innenstadt ist gefüllt mit Tempeln und Gassen, umgeben von einem alten Burggraben und vor allem von Stau. Oder sagen wir dichtem Verkehr. Theoretisch sind es zwei bis drei Spuren. Wie fast überall in Asien werden fünfeinhalb daraus. Zwischen Lkws drängen sich Tuk Tuks, Songthaews, Motorroller und einige Fahrradfahrer. Der Verkehr erscheint chaotisch, doch er hat seine eigene Ordnung. Eine sehr undeutsche, sehr gelassene Ordnung, in der ich mit meinem Roller dort fahre, wo man mich durchlässt. Ich liebe es.

Öffentlicher Nahverkehr während des Laternenfestes am Ufer des Mai Nam Ping. Image by Katsche Philipp Platz

Die Stadt ist berühmt – nicht nur als Hub für digitale Nomaden, sondern auch für das jährliche Lichterfest. Die Bilder von Tausenden, aufsteigenden Laternen gehen regelmäßig um die Welt. Das Fest besteht eigentlich aus zwei Festen, die fast gleichzeitig stattfinden: Loi Krathong bedeutet “schwebendes Floß” und ist süd-thailändischen, vermutlich auch indischen Ursprungs. Yi Ping hat seine Wurzeln im Lan Na-Königreich und ist der Grund, weshalb auch in der Luft Lichter schweben. Die Laternen steigen die ganze Nacht wie ein großer Strom gen Himmel. Sogar der Flughafen schließt für dieses Ritual, das den Locals ordentlich Geld in die Kasse spült.

Zur Eröffnungszeremonie tanzen Hunderte Damen auf der Straße den berühmten Tanz der Lanna. Image by Katsche Philipp Platz

Ein lokales Ritual erobert die Instagram Welt

Meine Frau und ich sind genau während dieser Zeit in der Stadt. Nach getaner Arbeit fahren wir ins Zentrum, um mittendrin zu sein. Ich kann den Blick kaum vom Himmel lassen, was meine Frau nicht begeistert, denn ich fahre den Roller. Die Lichter wirken künstlich, CGI, wie in einem Film. Fotos fangen nicht ansatzweise die Stimmung auf. Ich versuche es weiter. Am Ufer des Mai Nam Ping bekommen wir die geballte Ladung ab: Die Straßen sind voll, wie bei uns an Silvester. Doch es herrscht Ruhe. Kaum Böller, keine Betrunkenen, keine Krankenwagen sondern eine eher spirituelle Stimmung. Je weiter wir wieder vom Fluss Abstand nehmen, desto weiter wird der Blick. Inzwischen sitze ich auf unserem Balkon. Der Strom aus lautlosen Laternen reißt nicht ab. Ich füge dem Klischee noch Hermann Hesses Siddhartha als Hörbuch hinzu und ein brühwarmes Chang Bier. Feierabend der anderen Art. Ein Moment für die Ewigkeit.

Auf das Floß legt man all seine Sorgen und lässt sie los. Ein Wunder, dass meines nicht abgesoffen ist, denn das Nomaden-Leben hat auch seine schwierigen Seiten und Zeiten. Image by Katsche Philipp Platz

Jede Woche schauen Millionen zu

Drei Abende später ist alles vorbei. Heute haben wir wieder am Rechner verbracht – Arbeit eben. Eine Rollerminute über staubige Straßen ist unser Lieblingssuppenladen entfernt. Zwei Mal bitte, mit Eiernudeln, mittelscharf. Zu Hause hole ich eine frische Kokosnuss aus dem Kühlschrank. Am Tisch schlabbern wir die Suppen in uns hinein. Der Rest des Abend ist reserviert für ein anderes Ritual – heute schauen wir Tatort! So wie jeden Sonntag eigentlich. Es ist wie früher in Deutschland: Nach dem Essen ab ins Bett, Laptop auf und schon ertönt die berühmte Musik des Vorspanns. Die lustigen, laufenden Beine, die verstörende Animation aus den 70ern, die uns immer ein Grinsen auf das Gesicht zaubert. Tiefes Ausatmen. Wer findet das erste Autokennzeichen? Wer ermittelt heute? Ach die! Die mag ich ja total gerne. Zum Glück nicht diese gestresste Tante aus Ludwigshafen … Naja. Kann man es sich ja auch nicht aussuchen.

Deutschland. Vorstadt, nichts Hübsches, viel Kälte. Ein Mensch stirbt. Der Grund ist in unserer deutschen Gesellschaft zu finden. Selten bin ich so deutsch, wie wenn ich Tatort schaue. Selten bin ich so gerne deutsch, so herrlich verlässlich. Außerdem braucht der Mensch Konstanten. Auch, oder gerade wenn ich weit weg von Zuhause bin, wenn mein Alltag ein ganz anderer ist und sich mein Umfeld ständig verändert, liebe ich Konstanten.

Der Mörder ist fast gefasst. Ich blinzle nach draußen: Da fliegen doch noch zwei Laternen am Himmel. Langsam. Ganz langsam. Ob das noch erlaubt ist? Die Klimaanlage surrt. Ein Schluck Kokosnusswasser spült die Frage hinunter. Alles wirkt wie ein Film. Gute Nacht Deutschland. Bis nächste Woche.

Nicht nur am Himmel, sondern auch am Boden beeindrucken unzählige Feuerschalen und bunte Laternen. Image by Katsche Philipp Platz

arbeitete zuletzt in Hamburg als Kreativer bei freundlichen Werbeagenturen und trieb sich als Poet im Zwielicht herum. Da er im Herzen ein Reisender ist, wurde er zum digitalen Nomaden. Aus der Ferne textet und konzipiert er für Startups, den Mittelstand oder Konzerne wie Mercedes und Lufthansa. Katsche doziert an der Hamburg School of Ideas und spricht in seinen Vorträgen viel über Mut, Vertrauen und das Arbeiten in einer kreativen, digitalen Gesellschaft.


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