Slow-Media-Konzepte für das Personalmanagement

Anwesenheit ist nicht gleich Arbeit. In Zeiten der Digitalisierung ist diese Erkenntnis wichtiger als jemals zuvor. Viele Menschen brauchen die Onlineverbindung zur Welt und zur Nachrichtenlage mittlerweile als tägliches Rüstzeug. „Bei nicht wenigen Menschen läuft während des gesamten Arbeitstages das Internet im Hintergrund – jederzeit bereit, auf Wissen zuzugreifen, Auskunft zu geben, Zerstreuung zu bieten und Kontakte herzustellen. Das Internet ist ein beruflicher und sozialer Interaktionsraum“, schreibt Sabria David im Fehlzeiten-Report 2013. Das Ganze mit Internet-Sucht gleichzusetzen, wie es der liebwerteste Neuro-Gichtling Manfred Spitzer bei jeder sich bietenden Gelegenheit zelebriert, greift dabei zu kurz.

Arbeitnehmer überwachen ihr Interaktionsfeld

Der digitale Alarmismus schadet dem Verständnis für digitales Leben und digitale Arbeit. Den Hauptimpuls des Netzgeschehens sieht David in der Möglichkeit, Distanzen zu überwinden. Der Medientheoretiker Marshall McLuhan prägte mit einem Ausflug zum Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Karl Popper den Begriff der Retribalisierung. Nach dem Gutenberg-Zeitalter der distanzierten Schriftkultur erleben wir nun die tribalen Elemente einer oralen Kultur, die das unmittelbare Miteinandersein wiederbelebt. Also unser berühmtes Netz-Lagerfeuer, was wir etwa auf Bloggercamp.tv kultivieren. Es gibt aber auch Schattenseiten. David spricht vom Revierstress und der Revierverteidigung. Das spielt sich vor allem im beruflichen Umfeld und in Unternehmen ab, die noch eine ausgeprägte Präsenzkultur von ihren Mitarbeitern verlangen.

Arbeitnehmer sind konditioniert, ihr Interaktionsfeld zu bewachen, die Kollegen im Auge zu behalten, die Nähe zu Vorgesetzten zu suchen und möglichst spät das Büro zu verlassen. Anwesenheit wird gleichgesetzt mit Engagement und Einsatzbereitschaft. Überträgt man eine solche Präsenzkultur in das digitale Zeitalter, steigt nach Erkenntnissen von David der Druck exponentiell. „Während bisher selbst nach langen Überstunden irgendwann einmal das Revier bestellt war, hat sich das berufliche Revier nun mittels digitaler Möglichkeiten in ungeahntem Maße ausgedehnt: zeitlich auf 24 Stunden an sieben Tage der Woche. Diese Kombination aus Präsenzkultur und digitaler Verfügbarkeit ist eine für Arbeitnehmer höchst riskante und belastende Konstellation“, erläutert David.

Keine Konzepte gegen digitalen Stress am Arbeitsplatz

Es fehlen im Büroalltag die natürlichen Rückzugsräume und Filter, um Beruf und Privatleben voneinander zu trennen. Sich entziehen zu können und verpassen zu lernen sind nach Ansicht von David die zentralen Lektionen, die es im Umgang mit digitalen Medien zu erlernen gilt. Aber das reicht bei Weitem nicht aus. Gefordert ist vor allem das Personalmanagement, den digitalen Revierstress zu minimieren und die Personalentwicklung an die technologischen Entwicklungen anzupassen. Mitarbeiter dürfen sich medial nicht verausgaben und müssen in der Lage sein, fokussiert zu arbeiten.

In der Arbeitsorganisation von Unternehmen und Behörden passiert bislang allerdings wenig: In Deutschland kann man die Rückständigkeit als vernetzte Ökonomie an der Kompetenz von Personalmanagern relativ simpel überprüfen. Alle großen Institutionen sind in irgendeiner Weise im Netz aktiv. „Aber 64 Prozent der deutschen Mitarbeiter in Personalabteilungen schauen nicht ins Internet“, sagt Professor Peter Wippermann vom Hamburger Trendbüro. Den Lippenbekenntnissen nach außen folgen keine Taten nach innen. Ein Befund, den ich in meinen Kontakten zur Wirtschaft fast täglich erlebe. Technisch sei die Reise relativ klar vorgezeichnet, sagt Wippermann. Es gebe in den Organisationen große Widerstände, die allerdings öffentlich nicht zugegeben werden: „Man verteidigt ein System der arbeitsteiligen Industriekultur mit einer Kommunikation, die Top-Down verteilt wird und nicht interaktiv ist. Solange wir noch von Neuen Medien und den Herausforderungen des Internets sprechen, wird es noch weitere 20 Jahre dauern, bis sich unsere Kultur umgestellt hat.

Zwei Jahrzehnte darf es allerdings nicht mehr dauern, um den Revierstress im digitalen Arbeitsleben abzubauen. Schon in den vergangenen zehn Jahren verzeichnete die AOK einen Anstieg der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen um zwei Drittel.

Slow-Media-TÜV

Umso löblicher ist eine Initiative von TÜV Rheinland und dem Bonner Slow-Media-Institut, die neue Bewertungsverfahren für digitalen Arbeitsschutz entwickelt haben. Das Verfahren ist Bestandteil des Prüfzeichens „Ausgezeichneter Arbeitgeber“ von TÜV Rheinland. Neben einem obligatorischen Grundmodul können Unternehmen zusätzlich ihren digitalen Arbeitsschutz prüfen lassen. So sollte es klare und dokumentierte Regelungen zur Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit geben, die eine Work-Life-Balance fördern. Ein Unternehmen kann festlegen, dass die Erreichbarkeit via Handy oder E-Mails außerhalb der Arbeitszeit und an Wochenenden untersagt wird, für welche Fälle es Ausnahmeregelungen gibt und wie ein entsprechender Zeitausgleich für die betroffenen Personen aussieht.

In systematischer Weise werden Mitarbeiter-, Team- und Führungsebene in ein Unternehmenskonzept eingebunden. „Für den Erfolg des digitalen Arbeitsschutzes ist es wichtig, dass diese drei Ebenen kooperieren. Das ermöglicht eine langfristige positive Veränderung, denn ein leistungsstarkes, verantwortliches mediales Umfeld wirkt sich positiv auf Unternehmenskultur und Produktivität aus“, sagt David vom Slow-Media-Institut.

Arbeitnehmer achten zusehends auf weichen Faktoren. „Unternehmen, die hier aktiv sind, verbessern ihre Chancen, Mitarbeiter und besonders Fachkräfte zu finden“, so Arne Spiegelhoff, Projektleiter bei TÜV Rheinland.

Arbeitsautonomie stärkt die Zufriedenheit

Etwas weiter bei den Work-Life-Balance-Konzepten sind Dienstleister, die die Autonomie in dezentralen Arbeitsumgebungen vorantreiben. „Mit Standort-Unabhängigkeit erschließen wir genau jene Talente für das Service-Geschäft, auf die man mit stationären Konzepten bislang keinen Zugriff hatte“, weiß Thomas Dehler vom Berliner Dienstleister Value5.

In einer Mitarbeiterumfrage von Value5 werden die Vorteile von dezentraler Arbeit deutlich. So reagiert das soziale Umfeld mit 71 Prozent positiv und unterstützt die Homeoffice-Mitarbeiter in ihrer Entscheidung, von zu Hause aus zu arbeiten. 20 Prozent äußerten sich zurückhaltend, 4 Prozent neutral und nur 2 Prozent ablehnend. „94 Prozent unserer Homeoffice-Mitarbeiter wollen mittlerweile vollständig zu Hause arbeiten. 6 Prozent plädieren für einen Wechsel zwischen betrieblicher und privater Arbeitsstätte. Entsprechend hoch ist der Zufriedenheitswert mit 4,38 bei einer Skala von 1 bis 5 (1 steht für „schlecht“, 5 für „sehr gut“).

Interessant sind die Gründe, die nach Auffassung der Mitarbeiter für dezentrale Arbeit sprechen. Es sei die beste Form, um Familie und Arbeit in Balance zu halten: „Genau so wollte ich immer arbeiten. Kein Stress und keine Krankheitsausfälle.“ Ein anderer Mitarbeiter gibt zu Protokoll, dass die Homeoffice-Tätigkeit nach einem schweren Verkehrsunfall die erste Möglichkeit war, über eine Initiativbewerbung wieder arbeiten zu können: „Und mir geht es sehr gut dabei.“ Weitere Stimmen: Zu Hause sei der beste Platz zum Arbeiten ohne Mobilitätsaufwand. Das Alter spielte bei der Bewerbung keine Rolle. Es sei die optimale Beschäftigungsform: „So etwas wollte ich schon immer tun. Ich kann Familie und Arbeit in Einklang bringen.“

Flurfunk und Mobbing fallen weg, Konkurrenzdenken gegenüber Kolleginnen und Kollegen bleibt aus, Zeitdiebe wie Rushhour und ewige Parkplatzsuche bestimmen nicht mehr den Tagesablauf. Selbst bei einer Organisation mit festem Standort ergeben sich nach Erfahrungen von Value5-Geschäftsführer Thomas Dehler die Vorteile der Flexibilisierung, weil Mitarbeiter nicht jeden Tag ins Büro müssen – man kann zwischen privater und betrieblicher Arbeitsstätte wechseln. Gleiches gilt beim Angebot von freiberuflichen und festangestellten Mitarbeitern – auch hier werden die Teams in hybrider Form gebildet.

Abschied von den Präsenzerwartungen des Managements

Der Fluch der ständigen Erreichbarkeit sowie die unzureichende Abgrenzung von Beruf und Freizeit trifft also vor allem die Mitarbeiter mit einer antiquierten Präsenzerwartung von Vorgesetzten, die Anwesenheit mit Arbeit gleichsetzen. Arbeitsplätze, die über die Computerwolke gesteuert werden, könnten das Revierstress-Szenario reduzieren. Dann bringen die neuen Technologien wieder alte Tugenden hervor, wie es Marshall McLuhan in seiner Tetrade beschrieben hat.

Wer sich ausführlicher mit dem Thema beschäftigen möchte, sollte an Bord der MS Wissenschaft gehen. Dort kann man das Konzept des Slow-Media-Instituts für digitalen Arbeitsschutz ausführlich studieren. Wo das umgebaute Frachtschiff vor Anker geht, erfährt man hier: http://www.ms-wissenschaft.de

Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European.


Image (adapted) „Keyboard“ by ExzentRyk (CC BY 2.0)


 

ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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1 comment

  1. Vielen Dank für den interessanten Beitrag!

    Der digitale Stress ist ja (leider) nicht der einzige belastende Faktor bei dem Versuch optimale Arbeitsleitung zu erbringen. Dazu kommen viele andere Stressoren. Ich bin daher auch hier ein Freund vom Big picture und habe als sehr erfolgreiches Werkzeug für eine umfassende Stressorenanalyse das in der Schweiz entwickelte S-Tool kennengelernt. Mehr Infos unter http://www.s-tool.org

    In Bezug auf die Möglichkeiten, die Vor- und auch Nachteile von remote work, insbesondere seine Notwendigkeiten und Auswirkungen im Hinblick auf die Unternehmenskultur und Führung, haben wir in einer kleinen Beratergruppe ein paar Einsichten auf Folien gebannt. Diese können auf http://remote-work-group.com/d… frei heruntergeladen und genutzt werden.

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