Mats Steen – das fantastische Leben des Ibelin

„Bevor Mats starb, hinterließ er uns sein Passwort. Das war sicher Absicht. Er hatte wohl gehofft, das wir es finden. Denn hinter diesem Passwort war eine Welt, von der wir nichts wussten.“

Videospiele haben sich in unserer Gesellschaft mittlerweile sehr normalisiert. Sie erreichen erzählerische Höhen, die sich vor Filmen und Serien nicht verstecken müssen und im Sport gehen aus Spielen inspirierte Jubel viral. Zur Hochzeit der MMORPGs haftete dem Gaming noch etwas nerdiges an und wer viel Zeit in virtuellen Welten verbrachte galt schnell als süchtig. Gesellschaftlich gab es wenig Verständnis, wenn man lieber in die Spiele abtauchte, als „echte Kontakte“ zu suchen. Die Dokumentation „Das fantastische Leben des Ibelin“ auf Netflix beleuchtet eine ganz andere Seite.

Der Dokumentarfilm gibt Einblicke in das Leben des Norwegers Mats Steen, bzw. seinem virtuellen Avatar Ibelin im MMORPG World of Warcraft. Mats litt an Duchenne-Muskeldystrophie, einer schweren Muskelerkrankung, für die es bislang noch keine Heilung gibt. Ibelin war für Mats vermutlich mehr als ein Rollenspiel-Charakter sein sollte. Allerdings war das Spiel für Mats auch eine Art der Normalität und Freiheit, die er im Rollstuhl gefangen und mit immer schwächerem Körper sonst nicht hatte.

Wie groß die Fußabdrücke waren, die Ibelin in World of Warcraft hinterließ, sollte sogar seine Familie erst nach Mats‘ Tod erfahren.

Ein Leben mit der Duchenne-Muskeldystrophie

Mats war das erste Kind der Familie Steen und bei seiner Geburt ahnte noch niemand davon, Herausforderungen auf Mats und seine Familie noch zukommen würden. Erst als Mats heranwuchs fiel auf, dass er übermäßig oft hinfiel und vor allem, dass er sich beim aufstehen schwerer tat als andere Kinder. Die Diagnose: Duchenne-Muskeldystrophie. Dabei handelt es sich um eine Erbkrankheit, die bereits in jungen Jahren einsetzt und bei der der Defekt des Dystrophin-Gens dafür sorgt, dass die Muskulatur zunehmend schwächer wird. Sie betrifft vor allem die Becken- und Oberschenkelmuskulatur, wirkt sich irgendwann aber auch auf die Atemmuskulatur aus.

Seinen ersten Schultag bestreitet Mats noch auf eigenen Beinen. Doch auf Familienvideos sieht man, dass ihm Treppenstufen bereits größere Mühen bereiten. Bald darauf war er für Unternehmungen zunehmend auf den Rollstuhl angewiesen. Mats Eltern sorgten trotzdem dafür, möglichst viel gemeinsam zu erleben. Je mehr Mats jedoch auf den Rollstuhl angewiesen war, desto mehr trat eine neue Leidenschaft in sein Leben: Videospiele. Erst Konsolen und Handhelds wie Gameboy und der damals neu erschienene Nintendo 64, schließlich aber auch der Laptop und damit auch seine neue Heimat World of Warcraft. 

Und je mehr Zeit er in den Videospielen verbrachte, umso weniger interessierten ihn andere Dinge. Auch den Kontakt zu Freunden verlor er. Die Spiele zog er schließlich auch gemeinsamen Unternehmungen wie Konzertbesuchen vor. Seine Eltern und seine Schwester Mia machten sich zunehmend Sorge, vor allem wenn er nach langen Spielsessions appetitlos oder unleidig wurde. Sie hatten auch Angst, Mats würde nie wirklich Freundschaft und Liebe erleben. Die Familie ahnten dabei nicht, welche Abenteuer sich auf der anderen Seite seines Bildschirms entfalteten.

Das fantastische Leben des Ibelin

Ibelin ist ein ein Detektiv und Edelmann, der das Leben in voll Zügen genießt. Freunde behaupten sogar, er ist eigentlich nur Detektiv, um mit anderen ins Gespräch zu kommen. Außerdem liebt er die Welt, in der er lebt. Jeden Tag sieht man ihn eine halbe Stunde lang die immer gleiche Route durch die Landschaft laufen. Anschließend sucht er den Kontakt mit den Leuten.

Trotzdem hat Ibelin auch eine unschuldige Zurückhaltung. Als ihm die junge Frau Rumour am See im Wald von Elwynn den Hut klaute, reagierte er zunächst noch unbeholfen. Aus dem unschuldigen Spielchen spross aber langsam eine erste Liebe, die mit einem Kuss erst so richtig entflammte. Es nahm ihn aber auch ein Stück weit die Unschuld. Ibelin wurde neugieriger auf die Frauen und auch seine Schüchternheit baute er langsam ab und er entwickelte sich zu einer Art Frauenheld.

Für Mats, auf der anderen Seite des Bildschirms, war dieser erste Kuss seines Avatars trotzdem wohl seine erste richtige Liebe. Das Bild einer Umarmung der beiden Charaktere, dass die Spielerin von Rumour gezeichnet hatte, nahm auch später noch einen wichtigen Platz in seiner Wohnung ein.

Ibelin galt in seiner Community „Starlight“ sowohl als Charakter, aber auch als Spieler als sehr empathisch, optimistisch und selbstlos. Er hörte zu, merkte sich viele Details und hatte ein offenes Ohr für die Probleme seiner Mitspieler. Doch diese ahnten lange Zeit nicht, welche Kämpfe Mats auf der anderen Seite des Bildschirms bestritt.

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Zwischen den Welten

Mit der Dokumentation „Das fantastische Leben des Ibelin“ (im Englischen „The Remarkable Life of Ibelin“) ist Regisseur Benjamin Ree eine herzzerreißende Rekonstruktion des Doppellebens gelungen. Sie gibt sehr intime Einblicke in Mats Familienleben, stellt aber auf Grundlage unzähliger Chatverläufe auch Spielszenen nach. Dabei werden Spiel-Assets genutzt, die aber durch dezente Gesichtsanimationen noch lebendiger werden – so wie die Welt vielleicht auch im Kopf von Mats eine viel lebendigere Gestalt annahm.

Aber nicht nur Mats Familie kommt dabei zu Wort, sondern auch einige seiner Weggefährten im Spiel. Besonders bewegend ist die Geschichte einer Mutter und ihres autistischen Sohnes, denen Mats half, über das Spiel eine viel engere Bindung zueinander aufzubauen. Der Sohn fand dadurch sogar ins soziale Leben, mit dem er sich zuvor schwer tat. Paradoxerweise war es Mats, der sein eigenes Privatleben indes verschlossen hielt. Als sich seine Community im echten Leben in Dänemark traf, war Mats auch nicht dabei. Als man ihn bat, zumindest in über Voicechat teilzunehmen, lehnte er ab. Mats wollte nicht, dass seine Mitspieler ihn im Rollstuhl sahen. Er war Ibelin und genau so sollte man ihn auch sehen.

Seine Gesundheit aber auch seine Spielsucht ließen Mats allerdings auch in ein Loch fallen. Seine virtuellen Beziehungen sorgten für Dramen und er selbst provozierte auch zunehmend Streitigkeiten innerhalb der Gilde. Es ist gut, dass der Film auch diese schwierigen Seiten zeigt, weil auch diese Szenen einfach menschlich und sich in Online-Rollenspielen sehr oft wiederfinden.   

Interessanterweise es die zuvor erwähnte Mutter und ihr Sohn, die im Spiel als erstes ihre Ahnung bezüglich Mats‘ Problemen zur Sprache brachten und ihn letztlich dazu brachten, sich mehr zu öffnen. Am Ende schien sich Mats dadurch auch aus seinem Loch zu kämpfen, kam mit seiner Gilde wieder ins Reine und teilte sogar den privaten Blog mit seinen Mitspielern.

Eine Spielwelt in Trauer

Am 18. November 2014 starb Mats im Alter von nur 25 Jahren. Das war fast schon ein Erfolg, gaben ihm Ärzte früher kaum 20 Jahre. Seine Eltern wussten natürlich, dass Mats im Spiel auch viele Kontakte hatte. Die Zugangsdaten zu seinem Spiel-Account hatten sie allerdings nicht – dafür aber zu seinem Blog „Musings of Life“ (Gedanken über das Leben), wo er in den letzten Lebensjahren seine Gedanken – ängstliche wie freudige – mit der Welt teilte. Dort veröffentlichte die Familie einen Blogeintrag zum Tod von Mats mit der Möglichkeit die Familie zu kontaktieren.

Entgegen der Erwartungen seiner Eltern kamen tatsächlich Mails von Mitspielern – und das sogar zu Hunderten. Einige davon waren sogar sehr lang und beschrieben wichtige gemeinsame Momente. 5 Gildenmitglieder aus verschiendenen Ländern erschienen sogar persönlich zur Beerdigung. In der Trauerrede gab Mats Vater zu, erst nach dem Tod wirklich verstanden zu haben, was Mats in der Spielwelt sah und das viele Sorgen unberechtigt waren, weil Mats so vieles in der Online-Community bewirkt und erfahren hat.

Nach der Trauerfeier versammelte sich die Gilde online um ihm zu gedenken. Es sollte ein jährliches Ritual werden. 

„Schmerzlich vermisst, aber niemals vergessen.“ 

Eine herzzerreißende Dokumentation

Zurecht erhielt die Dokumentation auf mehreren Film-Festivals 2024 Nominierungen und Auszeichnungen. Die Premiere beim Sundance Festival rief direkt Netflix auf den Plan, die sich die Rechte am Film sicherten, der bereits im Oktober 2024 auch in das Programm des Streaming-Anbieters aufgenommen wurde. Bei der Oscarverleihung 2025 schaffte der Film es zumindest in die 15 Titel umfassende Shortlist für die Dokumentarfilm-Kategorie.

Die Dokumentation spielt mit gleich mehreren wiederkehrenden Elementen. Vor allem aus der Kindheit sind es vor allem Familienaufnahmen, die wir erhalten. Die zweite große Säule sind die Spielszenen, die aus echten Chatverläufen mit professionellen Sprechern nachgestellt wurden. Hinzu kommen Interviews mit Familien und Gildengefährten. Viele Szenen werden außerdem auch mit gesprochenen Auszügen aus Mats Blog untermalt.

Spannend ist auch der Aufbau. Dieser ist nicht streng chronologisch, sondern entfaltet sich für den Zuschauer ähnlich wie für die Familie. Wir haben erst das Leben des Mats Steen in der „realen Welt“. Erst mit seinem Tod und den darauffolgenden Mails kommt der Charakter Ibelin ins Spiel. Wir erleben das Leben der selben Person somit zweimal aus unterschiedlichen Perspektiven, die zusammen aber ein immer größeres Gesamtbild ergeben.

Ich musste zugeben, dass ich bei Ibelins Geschichte nachgeschaut habe, wann der „Mothers Rosario“-Arc der Light Novel (und dem dazugehörigen Anime) Sword Art Online erschienen ist. Dort gibt es nämlich eine recht ähnliche Geschichte zu Ibelin. Erneut schien der Autor dort aber ähnlich wie bei der KI-Entwicklung eine sehr gute Intuition zu haben. Der Storystrang wurde allerdings bereits wenige Jahre vor Ibelins Tod veröffentlicht und hat somit keinen Bezug.

Das fantastische Leben des Ibelins ist eine reale Geschichte fürs Herz, die einen lächeln und weinen lässt und die von den vielen Beteiligten getragen wird, die alle irgendwo ihre Probleme haben. Leider habe ich erfahren, dass der sympathische Gildenleiter Kai Simon „Nomine“ Fredriksen, der auf Mats Beerdigung eine emotionale Rede hielt, sich kürzlich nach jahrelangem Kampf mit Depressionen selbst das Leben genommen hat. Und ich bin mir sehr sicher, dass auch Nomine als Leiter der Gilde Starlight ähnlich viele Menschen positiv beeinflusst hat.

Ibelins Spuren in Azeroth

Mats lebt allerdings nicht nur in den Herzen seiner Familie und Freunde weiter. Mittlerweile hat er längst nachhaltige Spuren in seiner virtuellen Wahlheimat hinterlassen. Seine Geschichte ist nämlich auch WoW-Entwicklerstudio Blizzard nicht entgangen und hat zu mehreren Würdigungen seines Lebens geführt.

So erschien im Oktober 2024 das zeitexklusive Reven-Paket für 20€. „Reven“ ist das norwegische Wort für Fuchs und der Bezahl-Inhalt handelt es sich um einen kleinen Fuchsbegleiter mit Detektivmütze. Die Mütze ist natürlich eine Anspielung auf Ibelin, der schließlich auch ein Detektiv war. Das besondere: Der gesamte Erlös des Pakets ging an die gemeinnützige Organisation CureDuchenne, die sich der Forschung und Patientenbetreuung der Krankheit widmet. Im Februar meldete Blizzard, dass über 2 Millionen Euro für CureDuchenne zusammengekommen sind.

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Doch bereits vor der Dokumentation war die Geschichte von Ibelin bekannt. Bereits im Juli 2023 fügte die Entwickler am Crystal Lake einen Grabstein hinzu, der das virtuelle Gegenstück zum echten Grabstein von Mats Steen war und beim hovern auch die Inschrift „Schmerzlich vermisst, aber niemals vergessen.“ zeigte. Auch auf dem Grabstein ist der Fuchs zu sehen. Seit Februar 2025 gibt es außerdem einen neuen NSC mit dem Namen Lord Ibelin Redmoore im Spiel, der zudem auch noch den Titel <Privatdetektiv> trägt.


Image by World of Warcraft and Blizzard Entertainment/Netflix

Das Internet ist sein Zuhause, die Gaming-Welt sein Wohnzimmer. Der Multifunktions-Nerd machte eine Ausbildung zum Programmierer, schreibt nun aber lieber Artikel als Code.


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