Geschichtenerzählen mit Instagram

Auf meinem Instagram-Feed, zwischen einem Foto von einem Bagel und dem Weihnachtsbaum eines Freundes ist ein Schwarzweiß-Schnappschuss, auf dem ein obdachloser Mann zu sehen ist. Er sitzt auf einem Bürgersteig in Manhattan. Der nebenstehende Text besteht aus 400 Wörtern und skizziert bruchstückhaft die Geschichte des Mannes, wie sie dem Autoren des Beitrags (und dem Fotografen) Jamie Alliotts erzählt wurde.

This week #VQRTrueStory presents @jamiealliotts on encounters on the sidewalks of Manhattan: (1/4) Joseph Ritter used to be a fighter. Says he knocked out Bam Bam Bogner in ’87. Second round. “I caught him real quick with a three-piece combination—bing-bing-bing.” Says a boxing magazine once called him up-and-coming. He grins: “And smokin’.” No drugs or booze, he says. Just coffee and cigarettes. “I smoke like a Chevy with a bad oil leak.” // Says he fought in Iraq, too. Fallujah, early ’90s. His convoy rolled into a village. “There weren’t supposed to be any combatants.” But there were. An RPG destroyed the lead Hummer. “The guys inside were gone, it lit up like a torch.” He ran to help a buddy who was hit, drag him the hell out of there. That’s when the AK-47 blew his hip apart. Three shots. “All I felt was burning, like I was on fire. Next thing I knew I was in a helicopter.” // Joseph wants to work. He worked as a plumber in Philly. “War’s easier than being homeless,” he says. He was offered a plumbing job—no money for boots. A job waiting tables—no money for shirts. “No this, no that, no, no, no, no, no. No job, no phone, no money, no clothes, no way to clean up. All those nos piled up make things really difficult. The one thing I do have is need.” I start to feel like he’s trying to sell me something. Before I sat down, I’d offered him ten bucks. “I was hoping for twenty,” he’d said. // I ask how he ended up out here. Says his ex-wife got a DWI with their kids in the car. Child Services took the kids; he came up from Philly; the judge threatened him with abandonment charges; the money for hotel rooms ran out; here he is. Something doesn’t add up. Maybe. I ask to see the scars. The ones from that AK-47. “That’s a little personal, bro. They’re near my groin, right above my gun.” Later I’ll look up Bogner: Bang Bang, not Bam Bam. No record of a bout with a guy named Ritter. // “I love to do it,” he says. He means fighting. “In 130 seconds, I’ll hit a guy sixty times. My hands are like a machine gun.” He opens and closes his fists. Five, six times. Fast—really fast. Knuckles pop like firecrackers, dozens of them. He smiles. “Everybody calls me Champ.”

Ein von Virginia Quarterly Review (@vqreview) gepostetes Foto am

Es ist nicht Humans of New York, der beliebte Blog und das Social-Media-Phänomen, das Bilder von Menschen gemeinsam mit Zitaten oder kleinen Texten über ihre Lebensgeschichte zeigt. Es ist vielmehr Teil einer experimentellen Serie des Virginia Quarterly Review, dem Literatur-Magazin, das die Universität Virginia publiziert.

Wir improvisieren im Laufe der Zeit., sagte mir der stellvertretende Redakteur Paul Reyes. Das Potential liegt darin, wie Instagram als Plattform den Inhalt formen kann. Teilweise wird das dadurch bestimmt, worüber Menschen schreiben wollen, was sie nicht mehr lesen wollen und wie sie sich motivieren lassen, die Grenzen der Plattform zu sprengen.

VQR beschreibt das Projekt #VQRTrueStory folgendermaßen: “Es handelt sich um ein nicht-fiktives Social-Media-Experiment, bei dem Geschichten auf verschiedene Plattformen zugreifen – von Instagram, über unsere Webseite bis zum Magazin.” Das Magazin hat versichert, für die Dauer von diesem Jahr die wöchentlichen Meldungen der Autoren fortlaufend zu publizieren – zuerst über deren Instagramaccount VQReview, aber auch als Sammlungen auf der Web-Seite und auszugsweise im Printmagazin. (Reyes sagte, dass er froh ist, dass seine Leser den Inhalt von jeder zugänglichen Plattform erleben können, und zwar in beliebiger Reihenfolge.) Allen Verfassern wird ein kleines Honorar für ihre Arbeit gezahlt.

Die Einführungsbeiträge der Journalistin Meera Subramanian über das sich wandelnde Indien erschienen im Dezember. Es gab täglich eine Fotografie mit einem Begleittext, nicht unbedingt mit einem Hashtag. Der Text ist bei Weitem keine bloße Beschreibung der Fotografie. In ihrem ersten 300 Worte umfassenden Beitrag schrieb Subramanian über die körperliche Arbeit des Baumwollpflückens, die Misere der fotografierten Frau, der Kreislauf der Baumwollernte zwischen Feld und Fabrik, die alarmierende Menge von benutzten Pestiziden und die Übernahme des indischen Baumwollmarktes durch den Agrar-Giganten Monsanto.

This week, #VQRtruestory presents @meerasub on a changing India. Malan Kolekare tends her fire. The act is older than history itself. Strike the match. Flick the flint. Lean in and blow just enough to feed the flames that make the fire that cooks the food that nourishes the family. Collect the wood, the dung, whatever is at hand, whatever is free. Add it to the ever-diminishing pile by the stove. Do it again. A non-profit gave her an improved cookstove, promising that it was “smokeless.” She didn’t notice an improvement, so she set it aside. Another neighbor used one until it broke a few months later, and then set it aside, too. Another says the smoke goes up and away, disappears under the eaves of the half-enclosed space that serves as her kitchen, so why not just keep the old mud stove she’s used to, that toasts the bread just right? Another neighbor, who scowls into the thick smoke in the contained shed with the tiny window where she cooks on her double mud stove, shrugs the smoke away. She sets her small child near the fire, his eyes tracking the flickering flames, mucus seeping from his nose. Three billion people around the planet stoke such flames to feed themselves, not deciding between the four-burner or the six. Not debating if stainless steel is still in vogue. Just starting the biomass fires that create the greatest health risk in the world—killing more than malaria, tuberculosis, and HIV/AIDS combined. The second worst risk for females, except in India. In India, it is the worst. Malan stirs the eggplant curry simmering over the open blaze, the boil breaking the surface as the fire pops below, the air redolent with roasting spices. (4/6) #RiverRunsAgain #ElementalIndia #ecoswaraj #fire #cookstove #climatechange #vqr

Ein von Virginia Quarterly Review (@vqreview) gepostetes Foto am

Die Beiträge wurden dann gemeinsam in einem zusammenhängenden, nur leicht abgeänderten einzelnen Essay auf der VQR-Homepage veröffentlicht. In diesem Fall wurde jedem Beitrag ein Titel gegeben, vergleichbar mit Kapiteln in einem kurzen Buch.

Ein Beitrag aus dieser Serie wurde gemeinsam mit einem Beitrag aus einer anderen Serie, die ebenfalls im Dezember auf Instagram erschien, in der Winterausgabe 2016 des Magazins unter einem #VQRTrueStory-Header und einer Notiz, die auf die Social-Media-Herkunft verwies, abgedruckt. Das gesamte veröffentlichte Material ist bildtechnisch bearbeitet, auf Fakten geprüft und redigiert (manche Eigenheiten wurden erlaubt, da es sich um Social Media handelt). Reyes sagte, dass die Instagram-Essays von VQR die gleiche redaktionelle Behandlung erhalten  wie alle andere Magazininhalte.

Wenn ich heute in einem Jahr auf alle Beiträge zurückschaue, möchte ich feststellen können, dass sie die redaktionellen Werte eines großartigen Magazins von allgemeinem Interesse widerspiegeln, so Reyes, und dass sie die gleiche Vielfalt beinhalten, die redaktionelle Korrektheit und Verbindlichkeit, die wir im Magazin ebenso praktizieren.

Die nächsten Serien, die schon mehrere Wochen im Voraus geplant werden, stehen für das neue Jahr schon bereit. Reyes, Shea und Sharlet starteten zu Beginn mit ihrem eigenen Schreibzirkel, vernetzten sich jedoch auch mit anderen Fotografen und sonstige Künstlern. Sie bieten allgemeine Hinweise (zum Beispiel den, die Fotografie selbst als Aufhänger zu sehen), aber andererseits hoffen sie einfach, dass die Teilnehmer sich selbst herausfordern und überraschen, wenn es zur Zusammenkunft von Fotografien und Texten kommt.

Für die meisten bisherigen Teilnehmer bleibt das Schreiben auf Instagram eine ziemlich fremde Form. Subramanian publizierte ein Buch, hat aber auf ihrem Instagramaccount nur eine Hand voll Dinge gepostet. Andere hingegen, die auch am Experiment teilgenommen haben, behielten ihre eigenen Instagramaccounts und posten weiterhin in regelmäßigen Abständen Fotos mit kurzen Bildunterschriften.

“Paul, Jeff und ich führten über mehrere Monate Gespräche über dieses Projekt”, erzählte mir Neil Shea, der Schriftsteller und langjährige Beitragende für VQR. Nachdem er für Veröffentlichungen wie National Geographics als Freelancer gearbeitet hatte, kultiviert Shea schon seit einiger Zeit einen neuen Stil der faktenbasierten Erzählung über Instagram. In einer neuen Ausgabe der Nieman Reports beschrieb er, wie die Plattform fürs Geschichtenerzählen “gehackt” werden kann und er nannte Instagram “eines der weltweit erfolgreichsten Magazine von allgemeinem Interesse.”

Währenddessen experimentierte der Schriftsteller Jeff Sharlet, Redakteur bei VQR und Professor in Dartmouth, mit seinem eigenen Erzählstil bei Instagram. Beisoielsweise interviewte er Nachtschichtarbeiter bei Dunkin‘ Donuts im ländlichen New Hampshire.

Bevor ich bei VQR war, habe ich mit verschiedenen Formen experimentiert und Jeff probierte auf seinem Feed andere, ergänzende Dinge aus. Als wir schließlich auf einen Nenner kamen, ergab sich die Idee, serielle Geschichten oder zumindest Serien von verwandten Beiträgen zu machen, von allein., sagte Shea. Es schien das zu sein, was das Medium wollte, um eine Antwort der Leserschaft zu bekommen. Es ist wie ein frischer Wind im Vergleich zu den normalen, langen Texten, die es überall gibt.

Ich interessiere mich für die Schnappschuss-Ästhetik, in jeder Hinsicht, in der diese mit den Konventionen des goldenen Zeitalters bricht, die wirklich niemals schablonenhafter waren, sagte Sharlet. Instagram eröffnet einem radikal den Weg, Geschichten für den Journalismus so zu erzählen, wie es Youtube für das Video getan hat.

Als Langzeitnutzer von Instagram bemerkte Shea zudem einige stilistische Merkmale auf der Plattform – beispielsweise Beiträge, die übermäßig formell, journalistisch oder minimalistisch mit Ein- oder Zwei-Wort-Bildunterschriften oder ein ausgedehntes, sehr persönliches Zitat der abgebildeten Person daherkamen. Als eine App, bei der Fotos im Zentrum stehen, ist das Potential für das geschriebene Wort noch unentdeckt geblieben.

Shea und Sharlet entschieden, dass VQR einen Ort darstellte, der den Inhalt immer bis an die Grenze gebracht hat, und auch der Ort sein sollte, wo das kreative Potential von Instagram getestet werdn sollte: Ein 91 Jahre altes Literaturmagazin mit gebildeter Leserschaft trifft auf eine soziale Plattform mit einer sehr jungen, vielseitigen Nutzerschaft.

Andere haben auch mit den Textelementen von Instagram gespielt, wenn auch noch keiner so systematisch wie VQR. Auf dem New Yorker Photo-Account zum Beispiel besprechen die Fotografen ihre Projekte regelmäßig und ausführlich. Humans of New York postet Geschichten, die von den abgebildeten Personen erzählt werden. Die UN Refugee Agency teilt detaillierte Hintergrundgeschichten.

Es ist okay für mich und Neil, ein bisschen herumzuspielen, aber es ist etwas anderes für Paul, reale und redaktionelle Ressourcen hineinzustecken, sagte Sharlet. Wenn das Jahr vorbei ist, wird VQR eine Sammlung von diesen Inhalten haben, die anderswo noch lange überleben werden, auch wenn Instagram als ein Unternehmen vielleicht irgendwann tot sein wird. Wir werden ein Dokument haben, an dem wir beobachten können, wie sich das Schreiben im Laufe der Zeit verändert hat.

Reyes liess mich widerwillig tiefer in das #VQRTrueStory Projekt eintauchen – ist es ein Spiel zwischen den Abonnenten eines kleinen Printmagazins mit einer Nischenleserschaft? Ein Versuch, sich eine digitale Leserschaft heranzuziehen? Eine Möglichkeit, mehr frisches Material fürs Printmagazin zu generieren? Während jedes dieser Resultate sicherlich willkommen wäre (zu Beginn des Projekts hatte VQR ganze 502 Follower auf Instagram; jetzt sind es mehr als 900), ist der Hauptpunkt, dass, wie er sagt, VQR für sich selbst den Profit und die Einschränkungen von Instagram als einer Plattform für das Geschichtenerzählen entdeckt.

Reyes, Shea und Sharlet beantworten noch weitere Fragen. Falls #VQRTrueStory auf Instagram den Fall annimmt, das beste Magazin von allgemeinem Interesse zu repräsentieren, was ist dann der beste Weg, die gezeigten Teile so vermischen, dass es nicht zu viele journalistischen oder “lebensnahe” Beiträge in einer Reihe ergibt? Was bedeutet es für den Leser, einen Beitrag auf der VQR-Webseite zu sehen, der aus seinem originalen Kontext im Instagram-Feed herausgepflückt wurde?

Ich möchte einfach sehen, wohin das Format sich selbst bringt., sagte Reyes. Ich weiß, das klingt vage und so, als ob ich mich nicht festlegen möchte, aber ich mag die Idee wirklich, dass dieses Projekt andere Teilnehmer anregt, einen neuen Ansatz zur Umsetzung leidenschaftlicher Projekte zu ermöglichen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf “Nieman Journalism Lab” unter CC BY-NC-SA 3.0 US. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Teaser & Image Screenshot by VQreview via Instagram


ist Redakteurin des NiemanLab. Vorher arbeitete sie in der Redaktion der Harvard University Press und berichtete für Boston.com und das New England Center for Investigative Reporting.


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