Kaum Datenkritik bei Marktforschung

Führungskräfte stehen in ihrer eigenen Organisation unter Rechtfertigungsdruck, besonders wenn es um Entscheidungen geht, die Forschung, Entwicklung, Produkte und Dienste betreffen.

In der Hierarchie eines Unternehmens wird es geradezu als verwerflich angesehen, wenn man seiner eigenen Intuition oder seinem Bauchgefühl folgt, etwa beim Start einer Werbekampagne. Hier kommt häufig Marktforschung ins Spiel, um Entscheidungen abzusichern, sagt Jan Steinbach, Geschäftsführer der Düsseldorfer Marketingagentur Xengoo.

Das Symptom des Misstrauens in die Entscheidungsfähigkeit der Mitarbeiter durchziehe sich durch alle Disziplinen eines Unternehmens bis zur Auswahl von Lieferanten. Es zählen nicht Erfahrungswerte, persönliche Abwägungen oder die interne Expertise der Abteilung, sondern extern erhobene Kennzahlen.

„Häufig kommen bei solchen Verfahren genau jene Dinge durch, die man schon vorher erwartet hatte. Valide sind diese Daten nicht“, erläutert Steinbach. So gleiche die Prüfung eines Werbespots mit ausgewählten Probanden in einer Studiosituation eher den Schimpansen im Versuchslabor. Eine unnatürliche Situation, die nach Ansicht von Steinbach kaum verwertbare Erkenntnisse bringt. Wer mit Marktforschung sein eigenes Handeln im Unternehmen absichern will oder Muster für erfolgreiches Handeln ersehnt, läuft in eine Sackgasse. Hier werden die quantitativen und qualitativen Methoden überfordert.

Nach Erfahrungen von Holger Rust, Professor für Wirtschaftssoziologie, sind Forschungsansätze sinnvoll, um Widersprüche bei der gewählten Unternehmensstrategie zu verorten. Die quantitativen Daten müssten mit den qualitativ erarbeiteten Befunden kontrovers diskutiert werden. Es ist ein dauerhafter diskursiver Prozess, der nicht zu endgültigen Gewissheiten führt. Wer das in der Attitüde eines allwissenden Gurus verspricht, etwa die einschlägig bekannten Trendforscher, ist nach Meinung von Rust eher ein unterhaltsamer Geschichtenerzähler, aber kein Marktforscher. „Marktforschung ist immer dann sinnvoll, wenn man getroffene Entscheidungen überprüfen möchte“, betont Steinbach.

Browser-Panel

INNOFACT verfolge mit seinem Online-Panel einen pragmatischen Ansatz. Hier wird plattformübergreifend das Bewegungsprofil mit Zustimmung der Panel-Mitglieder über sehr lange Zeiträume digital gemessen. Der Browser wird komplett ausgewertet mit allen Käufen, Empfehlungen, Meinungsbeiträgen und dem Surfverhalten vor und nach einer Kaufentscheidung. Die Unnatürlichkeit der Testsituation im Studio sei somit ausgeschaltet. Das hält auch Micael Dahlén von der Stockholm School of Economics für einen sinnvollen Weg. Man könne mehr über Kunden erfahren, ohne sie zu manipulieren. „Ihr Verhalten ist echt – Antworten in einem Fragebogen sind es nicht unbedingt“, sagt Dahlén im Interview mit der Marketingzeitschrift absatzwirtschaft.

Der Streaming-Anbieter Netflix steuert seinen Content fast ausschließlich über Algorithmen. Das Unternehmen sammelt und analysiert jede Online-Aktion des Nutzers und leitet daraus Inhaltsangebote sowie eine personalisierte Vermarktung ab. So basieren Auswahl des Genres, der Schauspieler und des Regisseurs der Serie „House of Cards“ mit Kevin Spacey in der Hauptrolle als durchtriebenen und skrupellosen Politiker komplett auf Präferenzen der Netflix-Kunden. Jeder Nutzer bekam einen der zehn spezifischen Trailer auf Basis seiner Abruf-Historie eingespielt. Dennoch ist der Start einer neuen Serie ohne kreative Impulse von Menschen nicht machbar. Selbst Echtzeit-Systeme blicken in den Rückspiegel und bieten nicht die Datengrundlage, um wirklich Neues zu schaffen. Big Data im Marketing ist nach Ansicht des Markenexperten Martin Lindstrom ein Ausdruck von Unsicherheit.

Fast jedes große Konsumgüter-Unternehmen – von Unilever über Procter & Gamble bis hin zu Nestlé – arbeitet mit einer 60/40-Regel. Jedes Produkt muss von mindestens 60 Prozent der Konsumenten gegenüber den Konkurrenzprodukten bevorzugt werden. Aus Sicht der Produktentwicklung ist das großartig. Die Verantwortlichen für das Marketing und Branding jedoch geraten so in eine trügerische Komfortzone.

Big Data habe ein ähnliches Verhalten hervorgerufen. “Milliarden Datenpunkte lassen das Topmanagement glauben, dass es stets den Finger am Puls der Zeit hat – in Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall”, so Lindstrom im Interview mit Harvard Business Manager. Das Ganze sei nur ein Ruhekissen. Man rechnet eine Menge Korrelationen, vernachlässigt aber die Kausalitäten. In der klassischen Marktforschung sieht es nicht besser aus. Allein in Deutschland gibt es 80 Markenbewertungsmodelle und eine nicht mehr überschaubare Datensammlung für Verbraucherverhalten und Mediaplanungen.

Wunschquote eines TV-Chefs

Die wohl berühmteste Erfindung ist die werberelevante Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen bei der Messung der TV-Einschaltquoten. Das Ganze war ein Vermarktungstrick von Helmut Thoma. Der frühere RTL-Chef habe es mit seiner Eloquenz geschafft, diese Zielgruppe im Markt zu verankern, berichtet das NDR-Magazin Zapp. „Die Kukidents überlasse ich gern dem ZDF“, so der legendäre Ausspruch des Österreichers.

In den vergangenen 30 Jahren sind Milliarden Euro für Fernsehwerbung ausgegeben worden auf völlig willkürlichen Grenzziehungen eines Fernsehchefs. Hochbezahlte Mediaplaner, Kommunikationschefs und Werbeexperten fielen darauf rein. Selbst ARD und ZDF rannten dieser Chimäre hinterher. „Dabei hatte unsere Argumentation von Anfang an enorme Lücken“, gab Thoma in einem Interview mit dem Spiegel zu. Er habe der Werbewirtschaft suggeriert: Ihr müsst an die Jungen ran, die „Erstverwender“; deshalb braucht ihr auch keine alten Zuschauer, denn die seien markentreu. Aber ab 29 brauche man wirklich nicht mehr von „Erstverwendern“ zu sprechen. Außerdem: Wer ist denn zahlungskräftig? Die über 50-Jährigen. Geändert hat sich nichts. Bis heute wird an der Mogelquote festgehalten.

Milliarden für dünnes Eis

Es sei schon erstaunlich, wie man in jedem Jahr über 20 Milliarden Euro für Media-Schaltungen ausgibt und sich statistisch auf so dünnem Eis bewegt, so sagt Heino Hilbig von der Unternehmensberatung Mayflower Concept in Hamburg: „Kann es wirklich angehen, dass wir uns im Marketing mit Daten und Statistiken umgeben, die schon beim einfachen Nachprüfen zu mehr Fragen als Antworten führen?“

Auffällig sei, dass es zwar Hunderte Fachpublikationen gibt, wie mit Excel und Co. wunderbare Daten und Graphen erzeugt werden, aber kein einziges, dass sich mit Datenkritik im Marketing befasst, meint Hilbig. Den meisten seiner Kollegen ist das bewusst. Ihr gemeinsames Credo lautet: „Was soll man machen?“ Jeder kritische Einwand wird als Majestätsbeleidigung weggebügelt – man will doch sein Gesicht nicht verlieren. Gefahndet wird nach der Bestätigung der eigenen Annahmen. Nach Erkenntnissen von Hilbig gibt es jedoch keine funktionierende wissenschaftliche Methode, die hilft kreative Erfolge von Misserfolgen im Vorhinein zu unterscheiden.

Kreative Impulse und Stichproben-Probleme

Wenn es um neue Ideen geht, hält Jan Steinbach qualitative Methoden aus der Psychologie für zielführender. Also so genannte Tiefeninterviews oder Befragungen von kleinen Gruppen nach einem Leitfaden. Wenn so etwas gut aufgesetzt werde, könnten Unternehmen aus dieser Vorgehensweise auch kreative Impulse gewinnen. „Da braucht man allerdings Forscher, die wirklich brillant sind. Leider tummeln sich in der qualitativen Marktforschung auch sehr viele Scharlatane“, kritisiert Steinbach.

Bei der quantitativen Marktforschung bekommt man zusehends Probleme mit repräsentativen Stichproben:

„In den 1990er Jahren war es relativ einfach, über Telefonumfragen mit zufällig generierten Festnetznummern repräsentative Stichproben zu ziehen für die Grundgesamtheit, die man untersuchen wollte“, erläutert Johannes Mirus von Bonn.digital, der rund 15 Jahre in der Marktforschung tätig war. Immer mehr Haushalte seien nur noch mobil erreichbar: „Das Smartphone ist zwar personalisiert und beseitigt die Herausforderung, die richtige Zielperson ans Telefon zu bekommen. Die Mobilfunk-ummern sind aber schwerer zu erfassen. Zudem ist eine örtliche Eingrenzung für die Stichprobe nicht möglich.“

Darüber hinaus sei die Bereitschaft dramatisch eingebrochen, an solchen Umfragen teilzunehmen. „Es gibt zu viele telefonische Befragungen. Die Menschen sind überfragt. Dazu kommen noch Straßenumfragen und auch online wird man auf jeder zweiten Website gebeten, ein Voting abzugeben“, moniert Mirus.

Viele Umfragen seien zudem handwerklich schlecht gemacht. Damit meint er vor allem das Fragebogen-Design und den Zweck der Umfrage, die häufig für die Teilnehmer im Dunkeln bleibt.

Überraschende Erkenntnisse gewinnt man mit den quantitativen Methoden nicht, so der Einwand von Jan Steinbach. Da werde der Wiedererkennungswert einer Anzeige abgefragt oder die Kaufabsicht und Weiterempfehlung eines Produktes.

Mit solchen Aussagen kann ich nichts anfangen. Großartige Kampagnen werden durch solche Marktforschungsansätze nicht erzeugt. Da kommt eher Mittelmaß heraus. Man braucht sich nur die früheren Werbespots von Procter & Gamble anschauen. Das war Schema F.”

Quantitative Ansätze sollten nur zur Unterfütterung herangezogen werden, empfiehlt Mirus. Ratschlag des Notiz-Amtes: Langzeit-Erhebungen über Panels sind ein probates Mittel, getroffene Entscheidungen im Unternehmen kritisch zu überprüfen. Qualitative Erhebungen eignen sich, um frische Ideen von außen zu bekommen, die im Routinebetrieb intern nicht aufkommen. Marktforschung als Rechtfertigung für getroffene Entscheidungen zu missbrauchen, ist rausgeschmissenes Geld. Vertrauen entsteht dadurch nicht.


Image “It is Marketing by Pantanea” (CC0 Public Domain) via Pixabay.


ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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