Das Internet macht uns schlauer

Von wegen digitale Demenz: Wenn wir die neuen Werkzeuge richtig nutzen, werden wir mehr leisten können als je zuvor. Das Problem der digitalen Demenz scheint wohl doch nur ein singuläres Phänomen eines eifrig daherplappernden Bedenkenträgers zu sein, der mit seinen spitzen Hirnthesen durch die Lande zieht, um die Internet-Skepsis in bildungsbürgerlichen Salon-Gesprächen zu beflügeln. An der Wissenschaftsfront gibt es jedenfalls Entwarnung:

Das (digitale) Abspeichern von Daten, die man sich sonst merken müsste, erleichtert das Lernen neuer Informationen„, schreiben Ben Storm und Sean Stone von der University of California in Santa Cruz im Fachblatt „Psychological Science“. Wie ein digitaler Besen schaffe der digitale Speichervorgang Raum für neuen Stoff im Oberstübchen, berichtet „Spiegel Online„. Die beiden Forscher vermuten, dass dieser Prozess ähnlich wie der Effekt des gezielten Vergessens funktioniert.

Furcht vor digitaler Demenz unbegründet

Die explizite Aufforderung, zuvor Gelerntes zu vergessen, könne helfen, Neues aufzunehmen. Es befördert vor allem das kreative Denken.

Die Furcht vor einer digitalen Demenz erscheint vor diesem Hintergrund eher unbegründet, finden auch andere Experten. Der Gedächtnisforscher Gary W. Small von der University of California in Los Angeles etwa sieht die digitalen Stützen als eine Optimierung einer ohnehin vorhandenen Tendenz des Gehirns zur Arbeitsteilung„, schreibt „Spiegel Online“.

Die neue Technologie mache diesen Prozess nur effizienter und schaffe größere Kapazitäten, neue Informationen zu lernen. „Small rät zur beherzten Auslagerung von Daten wie Terminen, Telefonnummern und Wegbeschreibungen und zur bewussten Entscheidung, welche Dinge man sich wirklich selbst merken möchte. Auch der Psychologe Hans Markowitsch von der Universität Bielefeld empfiehlt, Dinge, die man nicht akut parat haben muss, getrost externen Speicherorten anzuvertrauen„, führt „Spiegel Online“ weiter aus.

Das Gehirn müsse sich allerdings auf den externen Speicher verlassen können, sonst verpufft der Auslagerungseffekt. Ohne Vertrauen gibt es keine digitale Gedächtnisstütze.

Vergesslichkeit nach 200 Millisekunden

Und ohne digitale Werkzeuge bleibt das Arbeitsgedächtnis des Menschen hoffnungslos überfordert. Im Langzeitgedächtnis ist alles Mögliche abgespeichert, aber nicht immer auffindbar. Das Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis ist wahnsinnig begrenzt, so der Psychologe Friedrich Wilhelm Hesse, Gründungsdirektor des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (Knowledge Media Research Center) in Tübingen. „Da passen ganz wenige Einheiten rein, die ohne Wiederholungen schnell wieder verschwinden.“ Und das dauert nur 200 Millisekunden. Über die Digitalisierung erfährt man hingegen eine unglaubliche Erweiterung. „Bei Google Books sind 30 Millionen Bücher eingescannt, Großbibliotheken digitalisieren ihre Bestände. Wir haben Open-Content-Bewegungen. Wir haben User-Generated-Content. Wir haben Wikipedia mit über zwölf Millionen Artikeln. Es existieren über 200 Millionen Blogs. Jeden Tag werden 600 Millionen Kurznachrichten gewittert. Die Nutzbarkeit dieser gigantischen Daten hängt mit der Intelligenz dieser Informationsressourcen zusammen über Hyperlinks, gegenseitige Referenzierung und implizit über maschinell erschließbare Ähnlichkeiten, um emergente Informationen zu erzeugen„, so Hesse bei einer Bonner Fachdiskussion der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

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Diese kollektive Intelligenz kann man gezielt nutzen.

Arbeitsgedächtnis erweitern

Mit den digitalen Werkzeugen bestünde das erste Mal die Möglichkeit, unser Arbeitsgedächtnis zu erweitern. Wir können Informationen sichtbar machen, verschieben, kombinieren, kopieren und visuell aufbereiten. Das Arbeitsgedächtnis müsse die Daten nur noch für Schlussfolgerungen generieren. „Ich kann die Information nach den Anforderungen des Arbeitsgedächtnisses permanent neu anordnen und unterschiedlich akzentuieren. Man gewinnt nicht nur ein zusätzliches Blickfeld. Ich kann auch Operationen wie im Arbeitsgedächtnis vornehmen„, erläutert Hesse.

Den Wechsel der Perspektive übernimmt die Maschine auch für jene liebwertesten Gichtlinge, die den Thesen von Plappermäulern mit digitaler Demenz glauben.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European.


Image (adapted) „Brain“ by dierk schaefer (CC BY 2.0)


ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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2 comments

  1. So sehr mir das Motiv deines Kommentars sympathisch ist („digitale Demenz“ als neurologisches Phänomen wohl eher eine Trug-Diagnose), so sehr gehen mir a) die Invektionalien auf den Wecker, die du hier gewissermaßen als Rahmen zu Anfang und Ende auffährst – wozu nur?, dieses Framing aus Beleidigungen überwuchert inzwischen dermaßen alles und jedes, dass man doch wenigstens solche Artikel davon freihalten sollte, deren Kern relativ sachliche Argumente oder Überlegungen darstellen. Und b) mag ich den Kitsch nicht nicht – „Kitsch “ im Sinne von „die Scheiße nicht sehen wollen“. Wenn es natürlich richtig ist, dass Geräte mit Screen niemanden per se bei der Intelligenzentfaltung behindern und dass in vielen Fällen die Anwendung der eigenen Intelligenz durch solche Geräte gesteigert werden kann, so ist es eben ande rerseits auch Fakt, dass man sich mit eben diesen Geräten genauso gut der Anwendung seiner Intelligenz berauben kann. Die Beispiel dafür sind leider Legion. Eine Frau von rund 30 Jahren, die in regelmäßigen Abständen damit befasst ist, (gut bezahte) Praktikumsplätze zu vergeben (Marketing), sagte mir neulich: „Wir würden gerne, wenn wir 4 Plätze haben, 2 an Frauen und 2 an Männer vergeben. Aber die jungen Männer – Vollhonks. Unheimlich viele sind Vollhonks. Wir haben da immer wieder Mühe…“ (Wir redeten da über Frauenquote etc.) Warum wohl? Die Antwort kennt jeder …
    Ich vermute, mit solchen (ziemlich spekulativen) Ausweich-Argumenten gewinnt man keinen Millimeter, wenn man analysieren möchte, was wohl die digitalen Gerätschaften in der Breite der Bevölkerung bewirken. Die schönen Beobachtungen, die man machen kann, wenn man nur schöne Beobachtungen machen möchte, sind leider kein Grund für völlige Sorglosigkeit. Ich sehe jedenfalls auch viele Phänomene von Demenz (eine der mildesten Formen, aber dafür eine der häufigsten, ist die Faulheit gegenüber der Benutzung von Google nach der Form „Kann mir mal jemand sagen, ob Mali ein Land in Asien oder Afrika ist?“, auch bei sehr jungen Leuten) … könnte man ohne Weiteres ein kleines Büchlkein drüber schreiben : „Die 50 Formen von Demenz, die täglich im Netz massenhaft zu beobachten sind, und was du selbst dagegen tun kannst“) …

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