SZ-Relaunch: Die Kür macht die Pflicht erst möglich

„Internetseiten haben ihr Aussehen in den vergangenen Jahren so stark verändert, wie die Möglichkeiten der Technik gewachsen sind.“ Das schreibt Stefan Plöchinger in seinem Artikel „Wie Blattmachen online funktioniert“. Zu lesen ist dieser im von Christian Jakubetz initiierten Lehrbuch Universalcode, aber auch online in Plöchingers Blog.

Wie seine Thesen in der Praxis aussehen können, kann man derzeit bei sueddeutsche.de beobachten. Denn dort ist Plöchinger seit letztem Jahr Online-Chef. Das Meiste, was in seinem Universalcode-Kapitel beschrieben wird, ist handwerkliches Grundrüstzeug. Wie soll ein Teaser aussehen, wie ein Text? Wie das gelingt, ist logischer Weise auch bei sueddeutsche.de immer eine Momentaufnahme.

Diese Sachen nennt Plöchinger aber auch die „Pflicht“. Der Rest, neben dem Themenmix sind das vor allem Design und Funktionalität, seien die „Kür“. Die sticht besonders hervor: Die Seite wirkt deutlich aufgeräumter als noch vor einem Jahr. Der sparsame Einsatz von Farbe macht die Seite angenehm schlicht. In „Wie Blattmachen online funktioniert“ sagt Plöchinger dazu, man solle „Seitenkopf, Navigation und Randspalte dezent halten“ und elegant sein. So können auch die Bilder besser wirken. Das Aufmacher-Bild soll zudem überraschen und ein Hingucker sein. „Wenn Sie sie richtig machen, bekommen Sie einen tollen First Screen, eine auffällige Eröffnung für Ihre Seite.“

Keep scrollin‘, scrollin‘, scrollin‘, scrollin‘

süddeutsche_spiegel_vergleichSeit ich dieses Kapitel noch einmal gelesen habe, achte ich besonders darauf und glaube Plöchingers Handschrift zu erkennen: Meist gibt es ein gutes, häufig von der Norm abweichendes Foto als Aufmacher. Gerade aus Agenturmaterial geschieht es nicht selten, dass mehrere Nachrichtenseiten mit dem gleichen Bild aufmachen. Laaaaaaaaaangweilig! Stattdessen ertappte ich mich neulich dabei, bei der SZ vorbei zu schauen, weil ich wissen wollte, wie sie dieses Dilemma nach dem Wulf-Interview zu lösen versuchte. Es gelang. Ein paar Tage später hatten Spiegel Online und sueddeutsche.de dann jedoch Stunden lang das gleiche Aufmacher-Bild. Die Hamburger hatten es zuerst. Da hatte das Ganze wohl nicht funktioniert.

Abgesehen von diesem wohl eher unbeabsichtigten Kopieren von Spiegel Online gibt es im Layout von sueddeutsche.de einiges, das wohl eher gewollt an den Taktgeber im deutschen Online-Journalismus erinnert. Plöchinger: „Nicht zu Unrecht spottet mancher, Spiegel Online habe den Deutschen durch jahrelange Dominanz das Klorollen-Scannen gelehrt, also das Lesen von oben nach unten über viele, viele Bildschirmseiten hinweg.“ Wenn ich mir meine Scroll-Balken anschaue, ist was das herunterscrollen angeht die SZ sogar noch drastischer als Spiegel Online. So weit nach unten scrollen konnte man in Deutschland nur selten. Ich selbst bin eigentlich kein großer Fan davon. Ich habe es auf anderen Seiten eher selten gemacht. Bei der SZ fange ich nun damit an. Besonders gefällt mir der Bereich der Ressorts, unter den Top-Meldungen.

Im Ressort-Bereich steckt jedoch noch mehr Potential. Es hört auf den Namen „mehr“. Ein kleiner Button mit dieser Aufschrift wartet nämlich bei jedem Resort auf der Startseite. Beim ersten Mal dachte ich „jawohl!“. Leider wurde ich beim Klick auf „mehr“ herbe enttäuscht: Drei weitere Meldungen erscheinen. Das war es.

Das Design ist nicht die Kür

Facebook und Google haben uns an Seiten gewöhnt, die nicht bei jedem Klick neu laden, sondern lediglich Elemente ausklappen lassen oder verschieben. Ajax heißt das Zauberwort. Das kleine „mehr“ könnte genau das auf Nachrichtenseiten übertragen. Ich träume von einer Seite mit einem Aufmacher und vielleicht noch zwei weiteren Top-Meldungen. Dann folgen die Ressorts mit ihrer jeweiligen Topmeldung und vielleicht zwei Zeilen mit weiteren News. So habe ich auf den ersten beiden Screens das Neuste aus allen Ressorts. Und wenn ich mehr aus zum Beispiel Politik wissen will, klicke ich auf „mehr“ und das Politik-Ressort klappt auf. Ist nichts dabei, klappe ich es wieder zu und es stört mich nicht weiter.

Vielleicht werde ich in Zukunft damit überrascht. Denn: Die technischen Möglichkeiten sind bereits vorhanden, schließlich gibt es das „mehr“ mit dieser derzeit begrenzt genutzten Funktion bereits. Und Plöchinger schreibt in seinem Text, dass Seiten permanent weiter entwickelt werden sollten. Dadurch werde es unwahrscheinlicher, Leser mit zu krassen Änderungen zu verschrecken.

Genau daran hält sich sueddeutsche.de zurzeit. Anders verhielten sich Konkurrenten, die 2011 vieles auf einen Schlag umsetzen. Das mögen Verlage lieber. So kann man eine Pressemitteilung raus hauen und sich mit der gemachten Arbeit selbst beweihräuchern. Die FAZ und im kleineren Maßstab das Darmstädter Echo haben es vorgemacht. Mit eher mäßigem Erfolg.

In meinen Augen hat die SZ aktuell erstmals die Chance, Spiegel Online als Taktgeber abzulösen. Und zwar ironischer Weise, weil Plöchinger in einer Sache falsch liegt: Das Design ist eben nicht die Kür, sondern oberste Pflicht. Zumindest im deutschen Online-Journalismus. Zumindest für Online-Blattmacher.

Alle orientieren sich an Spiegel Online. Nur Spiegel Online an Bild.de

Plöchinger sitzt in einem Hochhaus mit welchen der besten deutschen Printjournalisten. Klar: Texte müssen für online anders aufbereitet werden. Aber auch dieses „anders“ ist journalistisches Grundgerüst. Das können SZ-Redakteure. Damit gute Print-Texte online funktionieren und vor allem wahrgenommen werden, müssen sie jedoch in einem angenehmen Umfeld präsentiert werden, das ich gerne besuche. Und das bedeutet: Erst die gute Kür ermöglicht es, dass die Pflicht überhaupt wahrgenommen wird.

Ich denke, Spiegel Online ist deshalb so weit vorne, weil es das eigene Potential in mehrerlei Hinsicht am besten nutzt. Der Nachteil ist, dass in der neuerdings Ericusspitze deshalb vermutlich weniger Luft nach oben ist, als etwa bei der SZ. Großes Potential haben auch andere:

  • Zeit Online mit der Zeit im Rücken und einen sortierten Online-Auftritt
  • Die taz hat eine Reihe guter Analysten und häufig eigene Themen mit einem eigenen Zugang. Außerdem gibt es in der Rudi-Dutschke-Straße 23 flache Hierarchien, was für online vorteilhaft ist. Doch bei der taz schlummert viel des Potentials hinter einem technisch mittlerweile überholten Online Auftritt.
  • Die FAZ ist personell und fachlich sicher ähnlich gut bestückt wie die SZ. Doch die Frankfurter verstecken ihre„Pflicht“ hinter einem angelsächsischen Layout, welches Deutsche eher verwirrt. Bezeichnend, dass seit dem Relaunch, den Martin kommentiert hat, bereits ein Stück weit zurückgerudert wurde.
  • Die ARD, bzw. tagesschau.de arbeitet wenig überraschend auch an einem Relaunch. Die Seite wurde lange von vielen meiner Kollegen gelobt, ist mittlerweile aber auch nicht mehr up to date.
    Spiegel Online bekommt Konkurrenz. Und das sind sie selber schuld. Alle deutschen Onlinemedien orientieren sich an Spiegel Online. Nur Spiegel Online orientiert sich an Bild.de. Lange hat man in Hamburg, wohl auch weil die Konkurrenz tatsächlich schlief, die Zeit und die SZ online nicht als Konkurrenz gesehen, dafür das erfolgreiche Bild.de. Deshalb hat man sich in diese Richtung entwickelt und so auf dem „seriösen Flügel“ Platz gelassen, wo nun Konkurrenz durchbrechen kann. Und genau das versuchen vor allem SZ, FAZ und die Zeit aktuell. Bezeichnend, dass sie dabei häufig ehemalige Spiegel Online-Leute an Bord haben.
    Qualitätssteigerung möglich

Der Zeitpunkt ist günstig: 2010 war Wikileaks und Datenjournalismus. 2011 war das Jahr der Live-Ticker. Ich glaube, 2012 könnte für den (Online)-Journalismus das Jahr der Analysen werden. Themen wie die Euro-Krise oder der Iran schreien nach Einordnung. Das sieht man aktuell auch bei der Debatte um den Bundespräsidenten. Die SZ, die Zeit und die FAZ sind bereits seit Jahren in ihren Printprodukten erfahren darin, Einordnung und Kommentierung zu liefern. Daher können sie 2012, die passende Online-„Kür“ vorausgesetzt, kräftig punkten.

Die neue Konkurrenzsituation wird im Idealfall die Qualität des deutschen Journalismus verbessern. Und sie könnte eine Chance für junge Journalisten sein. Im Netz ist die Markentreue geringer. Man wechselt schneller von Spiegel Online zur SZ, als das man ein Print-Abo ändert. Erfolg ist schneller messbar und der Druck, gut zu sein, höher. Das bedeutet im Idealfall, dass die Anbieter gezwungen sind, diejenigen einzustellen und gut zu bezahlen, die wirklich gute Arbeit leisten. Vitamin B und Seilschaften sieht der User im Frontend nicht. Sie fallen ihm zumindest nicht positiv auf.

Über den Autor

Andreas Grieß studiert an der Hochschule Darmstadt Online-Journalismus und ist als freier Journalist tätig. Er ist, wenn man so will, der Gründer von youdaz.com, von wo aus wir diesen Crosspost mit freundlicher Genehmigung veröffentlichen durften. Andreas Grieß beschäftigt sich unter anderen mit Medienwandel und dem Einfluss von Social Media. Homepage: www.andreasgriess.de Twitter: @youdaz

Die Netzpiloten nehmen immer mal wieder Gastpiloten mit an Bord, die über ihre Spezialthemen schreiben. Das kann dann ein Essay sein, ein Kommentar oder eine kleine Artikelserie.


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4 comments

  1. Sehr schöner Artikel! Ich bin auch der Meinung, dass heutzutage Webprogrammierung & Webdesign auf dem neuesten Stand sein müssen, sprich mit jQuery & Ajax plus Web2.0 Design für ein komfortables User-Erlebnis zu sorgen. Die derzeitige Entwicklung in der Online-Journalismus-Branche hin zu einem Rennen auf Augenhöhe kann der Qualität insgesamt eigentlich nur gut tun.

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