Ob Klimawandel, Ressourcenknappheit oder die ethische Kritik an Massentierhaltung – unser Ernährungssystem steht vor gewaltigen Herausforderungen. Für diese Herausforderungen entstehen neue Konzepte, wie etwa das Vertical Farming. Ein radikaler Gegenentwurf zur Tierhaltung, die erhebliche Emissionen verursacht, bietet die sogenannte zelluläre Landwirtschaft. Fleisch, Milch, Eier oder Fisch entstehen nicht mehr aus lebenden Tieren, sondern aus kultivierten Zellen im Bioreaktor. Was nach Science-Fiction klingt, ist längst Realität.
Dabei richten sich diese künstlichen Produkte nicht ausschließlich an Vegetarier*innen, sondern auch an Menschen, die nicht auf Fleisch verzichten wollen. Schließlich handelt es sich um Fleisch und keine Ersatzprodukte – die Zulassung in Deutschland gestaltet sich jedoch zurzeit noch als schwierig.
Technologische Grundlagen
Zunächst kurz zu den Grundlagen. Ganz grob lassen sich zwei verschiedene Bereiche unterscheiden, in denen die Vorgehensweisen voneinander abweichen. Die Präzisionsfermentation und das Tissue Engineering.
Präzisionsfermentation
Ob Kimchi, Sauerkraut oder Joghurt – den Begriff Fermentation kennen die meisten sicherlich. Sie beschreibt ein Verfahren, bei dem Mikroorganismen mithilfe von Enzymen Biomasse in andere Stoffe umwandeln. Dabei entstehen Produkte, die sie natürlicherweise in ihrem Stoffwechsel produzieren.
Durch die fortschreitende Entwicklung der Bioinformatik, beziehungsweise der biotechnologischen Forschung, lassen sich die Bakterien nun gezielter auswählen und vor allem auch präzise programmieren – daher der Name Präzisionsfermentation. Dies funktioniert, indem den Mikroorganismen Gene eingefügt werden, sodass sie die gewünschten Proteine oder andere Stoffe produzieren. Mithilfe von veränderter Bakterien lassen sich also Proteine erzeugen, die bisher nur von tierischen Lebewesen produziert werden konnten. Ein besonders etablierter Fall ist der Einsatz von fermentativ hergestelltem Chymosin in der industriellen Käseproduktion. Traditionell wurde Kälberlab verwendet, das sich aus dem Magen von geschlachteten Kälbern gewinnen lässt.
Tissue Engineering
Bei der Herstellung von kultiviertem Fleisch oder Fisch mit Hilfe des Tissue Engineering werden Stammzellen als Ausgangsmaterial verwendet. Diese Zellen stammen in der Regel aus einem echten Tier, können sich jedoch viele Male teilen und sich dann in verschiedene Gewebearten entwickeln – insbesondere Muskel- und Fettgewebe, die den Hauptbestandteil von Fleisch ausmachen.
Damit die Zellen dann außerhalb und unabhängig eines Tieres wachsen können, benötigen sie ein Nährmedium. Dieses enthält dann beispielsweise Wasser, Zucker, Aminosäuren und Vitamine. In der medizinischen Forschung – die sich ebenfalls des Tissue Engineering bedient – wird hierfür fetales Kälberserum genutzt, das aus dem Blut ungeborener Kälber gewonnen wird. Hierauf wird aber weitgehend verzichtet, um das Produkt eben weitestgehend tierfrei zu halten.
Für die Strukturierung der Zellen werden sogenannte Mikroträger oder auch Scaffolds eingesetzt. Hierbei handelt es sich um Stützstrukturen, die es den Zellen ermöglichen, sich zu verbinden und Muskelfasern zu bilden. Sie bestehen entweder aus natürlichen Hydrogelen wie Kollagen oder Alginate oder aus bioaktiven, porösen Gerüsten aus pflanzlichen Materialien – beispielsweise Soja.
Start-Ups und Innovationen in Deutschland
Auch in Deutschland und Europa treiben junge Unternehmen die zelluläre Landwirtschaft voran – es folgen Beispiele aus der Produktion von kultiviertem Fisch, Fleisch und Milchprodukten.
Ein Pionier ist dabei Bluu Seafood mit Standorten in Hamburg und Berlin, ehemals auch Lübeck. Bluu ist das erste Start-Up in Europa, das sich dem kultivierten Fisch verschrieben hat. So produzieren sie beispielsweise Fischstäbchen oder Kaviar und das kontrolliert, ohne die Meere zu belasten. Gleichzeitig kann so auch gewährleistet werden, dass die Produkte frei von Schwermetallen oder Mikroplastik sind. Verbraucher*innen können sich mittlerweile auf eine Warteliste setzen lassen, um von Produkt-Launches oder Tasting-Events zu erfahren. Bluu hat bereits eine Pilotanlage in Hamburg eröffnet, wartet aber noch auf Zulassungen. Hier ein Einblick in das Start-Up:
Die Information aus dem Video, dass erste Produkte 2024 auf den Markt kommen sollen, ist veraltet. Das liegt daran, dass vor allem Europa extrem lange Zulassungsprozesse besitzt. Für diese Art der Lebensmittel – auch Novel Foods genannt – sind Wartezeiten von durchschnittlich 3 bis 5 Jahren üblich. Es muss ein umfangreiches Dossier erstellt werden und jeder fehlende Nachweis kann den Prozess um etwa 6 Monate verlängern. Letztendlich braucht es zusätzlich eine Zweidrittelmehrheit der EU-Staaten.
Nicht zuletzt strebt Bluu Seafoods zunächst einen Markteintritt in Singapur an, da der Zulassungsprozess hier strukturierter und kooperativer sei, was die Erstellung eines Dossiers erleichtert.
Formo
Einen ganz anderen Weg geht Formo aus Berlin und Frankfurt. Formo setzt nicht auf Tissue Engineering, sondern auf Fermentation und stellt so Käse her. Dabei bedient sich das Start-Up einer Mischung aus Mikrofermentation von natürlich vorkommenden Koji-Kulturen – ein Pilz, der hier die Grundlage bildet – und Präzisionsfermentation mit genetisch modifizierten Mikroben. Beide werden in einem Fermenter mit Zucker und Mikronährstoffen gefüttert. Aus den Koji- und aus den Bio-identischen-Proteinen wird dann die Käse-Alternative hergestellt. Laut Formo ohne Laktose, Antibiotika, Hormone, Gluten, Soja und vor allem Tiere. Formos Produkte sind in der Tat schon zugelassen, auf ihrer Website finden sich beispielsweise Rezeptideen, die ihren Käse verwenden.
Mosa Meat
Ebenfalls ein Pionier auf dem Gebiet ist Mosa Meat, ein niederländisches Unternehmen, das sich auf kultiviertes Rindfleisch spezialisiert. Mosa entnimmt eine winzige Zellprobe von lebenden Kühen – eine Schlachtung ist also nicht nötig. Diese Stammzellen wachsen dann in Bioreaktoren unter kontrollierten Bedingungen und werden mit einem vollständig tierfreien Nährmedium versorgt. Muskel- und Fettzellen entwickeln sich zu Fleischkulturen, die anschließend kombiniert werden. Das Ergebnis ist ein Burger, der in Aussehen, Geschmack und Konsistenz einem herkömmlichen Rindfleischburger ähnelt.
Vielleicht haben einige von euch es damals schon mitbekommen und können sich daran erinnern – der erste Burger aus kultivierten Rinderzellen entstand 2013 und kostete rund 250.000 €. Finanziert wurde er unter anderem vom Google-Mitbegründer Sergey Brin. Damals war die Produktion noch extrem klein, heute wird deutlich effizienter gearbeitet.
Wie schon bei Bluu Seafood kurz angeschnitten wurde, ist die Zulassung in der EU nicht so einfach. Derzeit ist Clean Meat, also kultiviertes Fleisch, noch nicht kommerziell erhältlich. Dies liegt daran, dass es unter die Novel-Food-Verordnung fällt und vor der Vermarktung eine Zulassung benötigt – die ist, wie erwähnt, recht streng. Mosa Meat hat jedoch 2025 einen Antrag bei der EU gestellt. Das Unternehmen plant eine erste Markteinführung innerhalb der nächsten Jahre. Ein genauer Zeitpunkt lässt sich, unter anderem aufgrund des Zulassungsprozesses, noch nicht festlegen.
Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Relevanz
Die zelluläre Landwirtschaft verspricht erhebliche ökologische Vorteile: Im Vergleich zu der tierischen Variante erzeugt kultiviertes Rindfleisch laut Studien rund 92 Prozent weniger Emissionen, kultiviertes Schweinefleisch 52 Prozent und kultiviertes Hühnerfleisch 17 Prozent. Prognosen besagen, dass 95 Prozent weniger Land und 78 Prozent weniger Wasser benötigt werden würden, die Auswirkungen auf die Erderwärmung würden um 92 Prozent verringert werden – kultivierte Produkte könnten bei einer Durchsetzung also deutlich effizienter sein.
Neben ökologischen Aspekten spielen auch Tierschutz und ethische Aspekte eine Rolle. Tiere müssen für die Zellgewinnung nicht zwingend geschlachtet werden. Wenn auch tierfreie Nährmedien gewählt werden, kann der Produktionsprozess weitgehend tierfrei gestaltet werden. Auch gesellschaftliche Herausforderungen könnten so adressiert werden. Bei sinkenden Ressourcen, aber wachsender Bevölkerung könnte bei gut ausgereifter Technik zu einer proteinreichen Lebensmittelsicherung beigetragen werden. Auch Schadstoffe der herkömmlichen Tierhaltung oder Fischerei, wie Antibiotika, Schwermetalle oder Mikroplastik, können vermieden werden.
Doch bei all diesen Chancen bleibt eine Frage: Wollen Menschen überhaupt kultivierte Lebensmittel essen und fühlen sie sich damit wohl? Studien zeigen, dass zwar mehr als die Hälfte der Befragten grundsätzlich bereit wäre, kultiviertes Fleisch einmal zu probieren, die Bereitschaft zum regelmäßigen Kauf jedoch deutlich geringer ausfällt und stark zwischen Ländern variiert. Als Gründe für Zustimmung werden vor allem Tierwohl, Umwelt- und Nachhaltigkeitsaspekte genannt, während viele Vorbehalte auf dem Gefühl von „Unnatürlichkeit“, der Skepsis gegenüber gentechnischen Verfahren sowie dem potentiellen Preis beruhen. Am Ende entscheidet also nicht nur, was im Bioreaktor möglich ist, sondern auch, ob wir als Gesellschaft bereit sind, diesen Schritt auf unsere Teller zu lassen.
Fazit
Die zelluläre Landwirtschaft steht noch am Anfang, doch sie trägt das Potenzial in sich, unsere Ernährung grundlegend zu verändern. Technologien wie Präzisionsfermentation und Tissue Engineering eröffnen neue Wege, tierische Produkte herzustellen – mit deutlich weniger Ressourcenverbrauch und ohne massenhaft Tiere zu halten und zu schlachten. Zugleich zeigt sich, dass nicht alles eine rein technische Sache ist, sondern auch eine gesellschaftliche. Regulierungen, Produktionskosten und vor allem die Frage nach der Akzeptanz entscheiden darüber, ob diese Lebensmittel eine Nische bleiben oder eine echte Alternative bilden.
Und wer sich genauer für die Zulassung in Europa interessiert, kann auch in diesen Podcast mit Bluu Seafoods Gründer Dr. Sebastian Rakers reinhören.
Insgesamt bleibt es wohl eine Debatte, die über die Forschung hinausgeht und in Zukunft noch stärker an Relevanz gewinnen kann.
Image by Gustavo Fring via pexels
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