Einatmen und ausatmen – Über Alltag und Routine

„Ich wollte dem Alltag entfliehen, der Routine. Ich wollte, dass die Zeit wieder langsamer läuft. Aber nach vierzehn Monaten quer durch West-Afrika mit einem Jeep und Surfbrettern, waren auch die absurdesten Straßen, das Besorgen von Papieren, das Übernachten bei Wildfremden und die irrsinnigsten, verlassenen Wellen, irgendwie zum Alltag geworden. Die Zeit lief wieder so schnell, wie früher in Deutschland. Da wusste ich, dass es Zeit war, die Reise zu beenden“. Meine Frau und ich lauschten dem Vortrag von Carlo Drechsel in Hamburg, einige Monate, bevor wir selber uns aufmachten ins große Ungewisse. Sein Resümee erschien uns nüchtern, fast entmutigend. Doch heute muss ich sagen, teile ich nicht nur seine Sicht, sondern bin froh, von ihm gewarnt worden zu sein.

Kann „weg“ ein Ziel sein?

Als ich den Vortrag hörte, war ich noch fest angestellt und arbeitete vor allem für eine große Airline. Für die Werbeideen gab es in unserem Team ein Credo, das viele genervt hat: „Kein Eskapismus. Kein Hier-ist-es-kacke-bloß-weg-Gefasel.“ Viele vermeintlich schöne Ideen mussten deswegen sterben. Doch aus dem gleichen Grund, den auch der Surfer Carlo erlebt hatte, war das Credo richtig: Es gibt keine Flucht. Zumindest nicht auf Dauer. Alltag holt uns immer ein, Routinen holen uns immer ein – egal wie weit weg wir sind, egal wie sonnig der Himmel und wie schön der Strand sein mag, der vor uns liegt. Anders als die meisten echten Fliehenden auf dieser Welt, fliehen wir Westler vor etwas, das in unseren Köpfen ist, nicht in unserer physischen, politischen Umgebung.

Warum überhaupt losfahren?

Für mich war der Vortrag damals kein Grund, meinen Selbstversuch als digitaler Nomade abzubrechen. Schon deshalb nicht, weil ich nicht loszog, um vor irgendetwas zu fliehen, sondern weil ich der festen Überzeugung war und bin, dass ein Leben außerhalb der Komfortzone und in dauerhaftem Kontakt mit der Fremde etwas ist, was meine Kreativität beflügelt, meine Sinne schärft und so oder so eine Bereicherung ist, von der ich mein Leben lang etwas haben werde. Zum anderen gibt es gar keinen Grund, vor Routinen zu fliehen. Denn es gibt welche, die mir helfen und es gibt welche, die ziehen mich runter. Abstand kann sehr gut helfen, besser zwischen beiden zu unterscheiden.

Mann mit Zeitung auf dem Markt in Georgetown
Einfach mal eine gute Zeitung lesen, kann auch schon Platz schaffen. Gemüsehändler auf einem Markt in Georgetown, Malaysia. Foto: Katsche Platz

The Good & The Bad

Ich vermisse meine Routine, mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren zu können und mich einmal im Monat mit meinen Jungs aus der Schulzeit zum Bolognese-Abend zu treffen und über allen möglichen Quatsch zu faseln. Alle anderen wichtigen Routinen konnte ich in mein Nomadenleben mitnehmen: Das regelmäßige, frühe Aufstehen, den Morgensport, das tägliche Schreiben, mein Frühstücksmüsli und so weiter.

Einige neue sind dazugekommen. Die wichtigste Routine ist meine tägliche Meditation, die bei mir für reichlich Platz im Kopf sorgt. In Laos habe ich verschiedene Techniken gelernt und mir daraus meinen eigenen Ablauf gebastelt. Hier einmal ein Schnelldurchlauf durch die sechs Phasen und dazu meine Anmerkungen, warum diese Gedanken gerade für mich als Digital Nomad sehr hilfreich sind:

1 – „Check in to your body“

Ich fühle jeden Teil meines Körpers einmal bewusst, vom kleinen Zeh bis den Zähnen.

Der Name ist sowas von bescheuert, dass ich gleich zu Beginn der Meditation lachen muss. Gründe zum Anhalten und dafür den Körper zu spüren, gibt es aber tatsächlich viele: Haben sie schon einmal vom Chaos gehört, das in den Straßen Hanois herrscht? Neben dem äußerlichen Chaos ist auch das Innere oft aufgewühlt: Ständig denke ich an laufende Jobs, Akquise, den nächsten Standort, Transport und so weiter. All das am Morgen einmal loszulassen, gibt einen großen Schub für den Rest des Tages. Und ein kleiner selbstdiagnostischer Check-up ist ohne nicht falsch, wenn das nächste Krankenhaus ein paar Flugstunden entfernt ist.

2 – Atmen

Bewusstes, langsames Ein- und Ausatmen; immer doppelt so lange aus, wie ein.

Neben den üblichen Deadlines, wie in den meisten Berufen, machen andere Dinge Druck: Beispielsweise ist das berühmte „Fear of missing out“ gigantisch, wenn vor meiner Bürotür Inkatempel, Reisterrassen oder Unterwasserparadiese lungern. Es hilft sehr, das alles mal „wegzuatmen“. Außerdem verlängert die Übung meine Zeit unter Wasser.

3 – Verbindung zu Menschen herstellen

Ich nehme Kontakt zu allen Menschen auf, die mir lieb und wichtig sind; angefangen bei meiner Frau, meinen Eltern und Geschwistern, bis hin zu Freunden aus der Schulzeit, Studium oder den Tuk-Tuk Fahrer von gestern.

Das hilft gegen Einsamkeit, gegen das Gefühl, alleine in einer riesigen, unbekannten Gegend zu sein, oft Tausende Kilometer entfernt von den Menschen, die das Leben lebenswert machen. Es hilft mir, den Ärger wegzuschieben, den manche kurze Begegnungen mit sich bringen. Denn ich umarme schlichtweg alle Menschen (und manchmal auch Dinge), die mir so in den Sinn kommen. Das führt gerne auch mal zu Lachern. Macht nichts, guckt ja keiner. Hoffentlich…

4 – Mein Leben im Schnelldurchlauf

Ich mache mir klar, was für ein Glück ich hatte, in einer recht heilen Familie im reichen und sicheren Deutschland geboren zu sein. Danach durchlaufe ich alle meine Lebensphasen und mache mir bewusst, was ich alles schon erleben durfte: die Orte, die ich bereisen durfte, die Menschen, die ich treffen durfte, meine Abschlüsse, meine Umbrüche, meine Niederlagen und Erfolge und so weiter; bis ich wieder im Heute angekommen bin.

Ich kann im Juni kaum planen, was ich im Oktober mache oder an welchem Ort ich sein werde. Es gibt einen groben Plan, aber als Digital Nomad muss ich immer wieder improvisieren, muss stärker als früher akzeptieren, dass ich vieles nicht in der Hand habe und nicht genau sagen kann, wo meine Reise hingeht. Mein Ursprung ist deshalb ein Punkt, der mir sehr dabei hilft, meine Gedanken zu erden und im Zaum zu halten.

5 – Verorten

Ich stelle Verbindung zu dem Ort her, an dem ich gerade sitze. Dann geht es von „mikro zu makro“: Ein Flug durch den Ort, das Land, den Kontinent, hinaus auf das Meer, zu allen Ländern, Menschen und Tieren dieser Welt. Ich sehe mich als kleinen Knubbel auf diesem riesigen Erdball, den Erdball in Beziehung zum Mond, der Sonne, der Milchstraße und dem ganzen Universum und ich mache mir klar: Ich bin sowas von unwichtig, das ist kaum zu fassen.

Ja, das ist ein Teil, der sehr esoterisch klingt und vor dem ich noch vor einigen Monaten schreiend weggelaufen wäre. Aber dieser Teil zeigt mir, in welcher sensationellen und unwichtigen Lage ich mich befinde, auch wenn die Probleme des Alltags riesig erscheinen. Ein wenig Demut schadet nicht. Etwas weniger esoterisch drückte es mal ein Kameramann aus, den ich in Köln kennenlernen durfte: „Wir scheißen alle aus dem gleichen Loch und schon unsere Enkel interessiert es kaum, dass wir überhaupt existiert haben.“ Falls das für jemandem besser klingt.

6 – Check out und Finale

Der Check-in nur umgekehrt. Ich beginne bei meinem Hirn (in das ich das Universum projiziere) und wandere hinunter bis zu meinen Zehen. Dreimal tief atmen, langsam den Hals und Zehen bewegen und die Augen auf. Wenn ich jetzt noch die eingeschlafenen Beine wieder wach bekomme, geht es nach Hause. Ach ja: Erwähnte ich, dass ich versuche, die gesamte Übung lang zu lächeln?

Damit ich nicht zu schnell wieder Fahrt aufnehmen (passiert dann trotzdem später) verlangsame ich den Abschluss etwas. Es ist außerdem ein weiterer Moment, in dem ich mir bewusst mache, was die vielen Vorteile dieses Lebens- und Arbeitsstils sein können.

Ganz viele Buddhas
Meditation kann etwas mit Religion und natürlich mit Buddhismus zu tun haben. Kann man aber gut auch alles weglassen. Foto: Katsche Platz

Natürlich macht sich der normalreflektierte Bürger viele dieser Gedanken ab und an. “Je öfter, desto besser”, sagte mal ein Freund zu mir. Warum dann nicht einfach täglich? Der ganze Spaß dauert bei mir ungefähr 25 bis 45 Minuten. Aber auch fünf Minuten tägliche Meditation können einen großen Effekt haben, sagt die Wissenschaft. Meine Lehrerin in dem Retreat verglich Meditation gerne mit Zähneputzen: An sich macht es keinen Spaß und die ersten Male im Leben bringen leider gar nichts. Es ist aber auch nicht schlimm, es mal zu vergessen. Nur vergisst man es immer wieder, dann faulen einem wichtige Dinge ab. Für Zähneputzen finden wir immer Zeit, egal ob wir in Thailand, Teneriffa oder in Trier sind. Es ist: Routine.

arbeitete zuletzt in Hamburg als Kreativer bei freundlichen Werbeagenturen und trieb sich als Poet im Zwielicht herum. Da er im Herzen ein Reisender ist, wurde er zum digitalen Nomaden. Aus der Ferne textet und konzipiert er für Startups, den Mittelstand oder Konzerne wie Mercedes und Lufthansa. Katsche doziert an der Hamburg School of Ideas und spricht in seinen Vorträgen viel über Mut, Vertrauen und das Arbeiten in einer kreativen, digitalen Gesellschaft.


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