Über den Erfolg der chinesischen Supraplanung. Europa muss Strategeme lernen!

Politische und wirtschaftliche Entscheider des Westens sollten endlich anfangen, das Denken und die Kultur in China tiefgründig zu verstehen. „In der westlichen Welt scheint man zu meinen, Hintergrundwissen über die Volksrepublik China sei überflüssig, es genüge, von Fall zu Fall die Tagesereignisse zu verfolgen und mit westlichem Alltagswissen ad hoc zu reagieren“, so die Erfahrung von Professor Harro von Senger.

Welchen Stellenwert die Parteinormen der KP China und das Gesetzesrecht der Volksrepublik China haben, stellt von Senger in seinem Buch „Supraplanung“ (Provisionslink) dar, das jetzt in einer erweiterten und aktualisierten Neuauflage bei Hanser erschienen ist: „Wenn man nur schon die Verfassungsartikel zur Kenntnis nehmen und in ihrer vollen Tragweite begreifen würde, dann würde vieles, was in der politischen Tagespraxis geschieht, durchschaubar und leicht vorhersehbar werden. Aber leider werden offizielle Dokumente der Volksrepublik China im Westen regelrecht boykottiert und planmäßig nicht gelesen oder mit einem Lacher abgetan. Sie seien das Papier nicht wert, auf dem sie stehen.“

Ist China nur geschickt?

Der wirtschaftliche Aufstieg der VR China seit 1978, mit dessen die ganze Welt überspannenden, auch außenpolitischen Auswirkungen, verblüffe hierzulande viele Beobachterinnen und Beobachter. „Geschickt“ – so kennzeichnet Frank Sieren in seinem Buch „Der China Code“ (Provisionslink) mehrfach chinesische Vorgehensweisen. „Geschickt“, so der indische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen, „habe China die globalen Märkte benutzt.“ „Bis heute hat die chinesische Führung alles richtig gemacht“, schreibt Professor Eberhard Sandschneider, Leiter des Arbeitsschwerpunkts Politik China und Ostasiens der Freien Universität Berlin und Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert- Stiftung. „Die enormen Leistungen Chinas“ werden in einem Positionspapier der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Asienpolitik gewürdigt. „Im Grunde genommen machen die Chinesen in ihrem Sinn alles richtig.“

Aus welchen geistigen Quellen speist sich das „geschickte“ und „richtige“ Verhalten von Politikern der VR China, fragt von Senger in seinem Opus: „Immer wieder verweist man im Westen auf den chinesischen ‚Pragmatismus‘. Noch nie habe ich indes eine Stellungnahme aus der VR China gelesen, die das auch so monokausal darstellen würde, zumal ‚Pragmatismus‘ (shiyongzhuyi) ein eher verpöntes Wort ist. Irgendwie begreift man die Hintergründe ‚des phänomenalen wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas in den zurückliegenden Jahrzehnten‘ nicht so recht. Wer im Westen hat in diesem Zusammenhang das chinesische Konzept der Zukunftsgestaltung ‚Moulüe‘ gewürdigt?“

Hierzu schreibt der Journalist Fu Jing in China Daily, der größten und ältesten in der VR China erscheinenden englisch-sprachigen Tageszeitung: „Harro von Sengers Buch Moulüe, das in deutscher Sprache 2008 veröffentlicht wurde, ist bislang das einzige westliche Buch über diesen Gegenstand.“

Foucault und das kulturelle Gedächtnis

Wieso hat seither kein anderer westlicher China-Experte dem Konzept der Supraplanung eine eingehende Untersuchung gewidmet? In diesem Zusammenhang verweist von Senger auf Michel Foucault: Die jeweilige „Ordnung der Dinge“ beeinflusst die Sprache und die Wahrnehmungsschemata der im betreffenden Kulturraum lebenden Menschen und formt deren „kodierten Blick“. Er wird vom kulturellen Gedächtnis geprägt, „die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen“. „Es ist eine Binsenweisheit, dass in China die Uhren anders ticken. Wer sich anmaßt, durch eine westliche Brille auf das asiatische Land zu schauen, wird viele Dinge nie verstehen.“ Oder er wird von den strategemkundigen und supraplanenden Chinesen auseinandergenommen.

Die normative Kraft des Normativen

Harro von Senger beschäftigt sich ausführlich mit der normativen Kraft des Normativen und nicht mit der im Westen vorherrschenden Sichtweise von der normativen Kraft des Faktischen. Mittlerweile müsste eigentlich jedem klar sein, dass das langfristig orientierte Regime der KP China mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit seine Ziele erreichen wird. „Die Effizienz der chinesischen politischen Führung ist ziemlich unbestritten. Man betrachte die Entwicklung des chinesischen Pro-Kopf-Einkommens. Betrug es 1978 160 US-Dollar, so lag es Ende 2017 ‚bei über 8000 US-Dollar‘. Innerhalb von 35 Jahren sind zwischen 600 und 700 Millionen Menschen aus extremer Armut befreit worden. ‚Das ist beeindruckend und außergewöhnlich‘, meint Philipp Alston, UNO-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte. ‚In der Geschichte der Menschheit ist diese rasante Entwicklung einzigartig‘“, führt von Senger aus.

Die Schwächen der Spieltheorie

Spannend ist sein Hinweis, wie kritisch die chinesischen Supraplaner mit der westlichen Spieltheorie umgehen – Professor Lutz Becker bezeichnet das immer als theoretisches Sandkasten-Spielchen. Die Spieltheorie gehe von Konstellationen aus, die man mathematisch erfassen kann, erläutert der Begründer der militärischen Moulüe’-Kunde Li Bingyan. Moulüe bewegt sich hingegen außerhalb des Berechenbaren, im nicht quantifizierbaren Bereich jenseits der herkömmlichen Routinerationalität. Schöpferische Leistung lässt sich nur schwer mathematisch modellieren.

Während die Spieltheorie Probleme innerhalb des Spielgeheges nach feststehenden Regeln zu lösen trachte, verlasse der Anwender von Moulüe die Spielwiese und löse den Widerspruch außerhalb des Widerspruchs. Der Moulüe-Anwender beobachte in erster Linie das Gegenüber und versuche zu ergründen, was dieses im Schilde führe. Habe er die Agenda des Gegenübers erfasst, dann versuche der Moulüe-Anwender, die sich durch die Vorhaben des Gegenübers ergebende Konstellation auszunutzen und das Gegenüber, ohne dass es diesem bewusst werde, zu Schrittfolgen zu verleiten, die dem Moulüe-Anwender den größtmöglichen Nutzen einbringen. Die Spieltheorie gehe von blutleeren Abstraktpersonen aus, wogegen sich die Moulüe-Kunde geistig regsamen Menschen mit ihren Gefühlen und individuellen Besonderheiten zuwende.

Vorteilhafte Konstellationen herbeiführen

Bei der Spieltheorie sei, so Li Bingyan, die Konstellation vorgegeben und bekannt. Auch die Mitspieler und die Spielregeln seien fixiert. Die Spieler dürfen Handlungsoptionen nur unter den ihnen zur Verfügung gestellten Wahlmöglichkeiten aussuchen. Eine Quintessenz der Supraplanung aber sei die Konstellationskreation (zuoju, auch zaoshi genannt). „Auf eine vorteilhafte Konstellation wird also nicht unbedingt passiv gewartet, sondern sie wird oft aktiv herbeigeführt, indem man ‚Faktoren günstig macht‘. Eine vorteilhafte Konstellation entsteht nicht nach vorgegebenen Regeln und gemäß einer von den in die Konstellation ein- gebundenen Personen getroffenen Vereinbarung, sondern einseitig durch das Konstellationsdesign des Supraplaners. Je weiter die von ihm geschaffene Konstellation von den Erwartungen der anderen Konstellationsbeteiligten abweiche, umso besser. So gesehen beschäftigt sich die Supraplanungskunde mit der Erforschung irregulärer, regelloser, vorvertraglicher menschlicher Auseinandersetzungen“, sagt von Senger.

Der Papst als Gegenspieler der KP China

„Während die politische Führung in China genau weiß, was sie über lange Zeiträume hinweg will, scheint die EU in Bezug auf ihre Zukunftsvorstellungen im Dunkeln zu tappen“, kritisiert der Schweizer Sinologe. Allenfalls könnte man den katholischen Papst als Gegenspieler der VR China in Betracht ziehen. Er denkt nicht in Jahrhunderten, sondern in den zeitlosen Kategorien einer jenseitigen Welt. Für die politische Sphäre reicht das aber nicht aus. „Warum nicht dem Auge des europäischen Betrachters beispielsweise neben einem altehrwürdigen Relikt aus dem Reich der Mitte simultan die Himmelsscheibe von Nebra darbieten? Dies könnte die äonen- und kontinenteüberspannende Fantasie von Europäerinnen und Europäern beflügeln“, meint von Senger.

Sinomarxismus-Forschung in Trier

Weiterer Vorschlag: Deutschland wäre prädestiniert für die Errichtung des westlichen Forschungszentrums für Sinomarxismus. Eigentlich fiele diese Aufgabe der Universität Trier zu. „Deutsche Wissenschaftler sollten an diesem Zentrum fortlaufend dokumentieren und verfolgen, sowie das Publikum darüber informieren, wie sich der Sinomarxismus entwickelt.“ Es sollte nicht sein, dass in Europa, infolge diesbezüglicher Ignoranz, kein einziger Mensch mit Chinesen über deren Ideologie zu diskutieren vermag. Da es sich beim Sinomarxismus nach gerade um eine „Seele“ der VR China zu handeln scheint, erscheine westliche Forschung mehr als geboten. Dazu zählen auch die Strategem-Kunde und die Supraplanungen der KP China. Als Gegenrezept empfiehlt von Senger eine biblische Klugheitslehre: „Europäer sollten ihre Scheuklappen gegenüber dem Listwissen ablegen und sich intensiv damit befassen. Der Rat von Jesus Christus ‚Seid klug wie die Schlangen und sanft wie die Tauben‘ ist aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken.“

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ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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