Wie Hearables bei Autismus helfen können

Kopfhörer können mittlerweile mehr als nur Musik wiedergeben. In lauten Umgebungen sorgt eine aktive Geräuschunterdrückung für einen geringeren Lärmpegel. Per Fingertipp lässt sich das Smartphone von Ferne steuern. Und auf der IFA 2022 hat GN-Tochter Jabra neue In-Ears mit Frequenz verstärkender Funktion vorgestellt. Dank dieser smarten Funktionen werden eigentlich “dumme” Geräte zu sogenannten Hearables. Künstliche Intelligenz kann sogar beim Lindern von Krankheiten helfen und körperliche Fähigkeiten verbessern.

Hörgeräte light zum Einstieg

In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Fälle von Schwerhörigkeit bei jungen Menschen stark erhöht. Laut Anovum stieg der Anteil der Schwerhörigen von 3,6 % im Jahr 2012 auf 4,4 % im Jahr 2018. Während der Großteil kein medizinisches Hörgerät benötigt, zögert die Minderheit das Tragen einer Hörhilfe hinaus. Das gesellschaftliche Stigma wird zum Problem. Abhilfe können die weit verbreiteten Bluetooth-Kopfhörer schaffen. Sie haben sich zum Modeaccessoire entwickelt und sind in der Gesellschaft akzeptiert.

Das zum dänischen GN-Konzern gehörende Unternehmen Jabra macht sich das zu Nutze und bringt mit den Enhance In-Ears formschöne Produkte mit allerhand intelligenter Technik auf den Markt. In die Entwicklung ist auch die Erfahrung des kooperierenden, medizinischen Hörgeräte-Herstellers Resound eingeflossen. Auf kleinstem Raum finden sich nun digitale Geräuschunterdrückung, Warp Kompressor und binauraler Beamformer. Hinter den Fachbegriffen steckt nichts Geringeres als die Eigenschaften eines abgespeckten Hörgerätes: Die Jabra Enhance isolieren nicht nur die Stimme des Gegenüber für ein besseres Verständnis, sondern verstärken auch wichtige Frequenzen.

Per Companion-App können Nutzende die Feineinstellung vornehmen und auf die eigenen Einschränkungen anpassen. Buttons an den In-Ears selbst erlauben es, Schnelleinstellungen zu treffen und das Hörerlebnis zu optimieren. Nicht zuletzt kann per Jabra Enhance “hands-free” telefoniert werden. Um den Tragekomfort zu erhöhen, sind die per Ear-Buds anpassbaren In-Ear-Kopfhörer mit 3,2 Gramm leichter als Vergleichsprodukte. Gleichzeitig ist die Akkulaufzeit mit 10 Stunden außerhalb des Case und 30 Stunden mit Aufladung in der Transportschale spürbar länger. Das alles hat natürlich seinen Preis: Mit 799 US-Dollar sind die Jabra Enhance um ein vielfaches teurer als herkömmliche Bluetooth-Kopfhörer.

Gegenüber maßgeschneiderten In-Ear-Hörgeräten von ReSound sind die Jabra Enhance klein und kompakt. Image by Jonas Haller

Funktionalisierung der Bluetooth-Kopfhörer hilft im Alltag

Doch innovative Hearables verbessern nicht nur das Hörvermögen, sondern helfen beim Überwinden von Barrieren in der zwischenmenschlichen Kommunikation oder der Interaktion mit der Umwelt. Neben der direkten Verbindung mit elektronischen Geräten in der Umgebung sind in Zukunft Orientierungshilfen per GPS und Geotagging oder Echtzeit-Übersetzungen möglich. Multiple Sensortechnik erweitert den Hörsinn um smarte Funktionen.

Dafür sind neue Übertragungs-Standards nötig. Nachdem Bluetooth Low Energy Audio in jedem Kopfhörer Verwendung findet, steht Auracast Broadcast Audio bereits in den Startlöchern. Der neue Standard ermöglicht eine einfache, stromsparende und bessere Audioübertragung für TV, Telefonie und Musik. Wie der Name bereits vermuten lässt, spendiert die Bluetooth SIG eine Broadcast-Funktion, mit der sich gleichzeitig mehrere Hörgeräte oder Kopfhörer mit Geräten verbinden lassen. Das ist besonders interessant für Kino, Theater, Museen oder Kirchen, aber auch für Bahnhöfe, Flughäfen oder in Bussen und Bahnen. Informationen landen dann unabhängig von Medium oder Produkt auf oder in den Ohren der Hörenden.

Künstliche Intelligenz macht Emotionen hörbar

Der nächste Schritt besteht aus der Integration selbstlernender Software. Hierbei gilt das Münchner Unternehmen “Audeering” als einer der Innovationstreiber für sogenannte Audio Intelligence. Die Ingenieur:innen haben bereits eine Software entwickelt, die es Mitarbeitenden in Callcentern erlaubt, den Gemütszustand des Gegenüber per Stimme zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Ein weiteres Anwendungsfeld der smarten Audioanalyse anhand von Frequenz, Lautstärke, Atempausen und dem Zusammenspiel zwischen Vokalen und Konsonanten ist die Erkennung von Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer oder Depression.

Gemeinsam mit den neuartigen In-Ear-Kopfhörern können auch Erleichterungen im Alltag realisiert werden. Die Unternehmen GN und Audeering führen etwa die Echtzeit-Analyse von Emotionen an. Besonders interessant dürfte das für Autist:innen sein, die dann ein intelligentes Werkzeug an die Hand oder besser ins Ohr bekommen. Durch die Audiodeskription sind empathische Gespräche und Unterhaltungen niederschwellig möglich. Mit der Einsatzzeit gewinnt die Software an Erfahrung bei der Stimmanalyse.

Bleibt noch die Frage nach dem Marktstart: Verlaufen die Tests und Studien vielversprechend, so können wir in den nächsten Jahren mit einem Release der intelligenten Software rechnen. Über eine genaue Markteinführung in Consumer-Produkten schweigen sich die Unternehmen aus. Eines steht aber fest: Smarte Technologien helfen in Zukunft, die individuellen Barrieren von beeinträchtigten Menschen zu senken und damit für eine gesteigerte Lebensqualität zu sorgen.


Images by Jabra/GN & Jonas Haller

arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Chemnitz und erforscht unter anderem 3D-Druckverfahren. Die technische Vorschädigung tut dem Interesse zum mobilen Zeitgeschehen und der Liebe zur Sprache jedoch keinen Abbruch – im Gegenteil. Durch die Techsite HTC Inside ist er zum Bloggen gekommen. Zwischendurch war er auch für das Android Magazin aktiv. Privat schreibt er auf jonas-haller.de über die Dinge, die das Leben bunter machen. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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