Videokolumne vom 13. April

In der Videokolumne geht es heute um wahre und wahrhafte Geschichten. Von Menschen die am Rand der Gesellschaft leben und tanzen. Und von Barbara, die mit der DDR hadert.// von Hannes Richter

Sleep Sound

In Deutschland keinen Aufenthaltsstatus zu haben, heißt täglich das Gesetz brechen. Die Abschlussklasse einer Medienschule geht dem Thema eindrucksvoll auf den Grund. Mit den Gehörlosen, mit denen die Künstlerin Sofia Mattioli tanzt, hat das auf den ersten Blick nichts gemein, doch auch sie zeigt im Internet Menschen, mit denen wir sonst wenig zu tun haben. Nina Hoss brilliert in Christian Pätzolds Film Barbara, der nur noch kurze Zeit auf arte zu sehen ist.


DIE UNSICHTBAREN: Web-Feature „über das Leben ohne Papiere

„Jetzt darfst du nicht mehr auffallen“. So beginnt das Web-Feature mit dem programmatischen Titel Die Unsichtbaren. Die Unsichtbaren, das sind die geschätzt 500.000 illegal in Deutschland lebenden Menschen. Sie sind Opfer von Schleppern oder ohne Aussicht auf Asyl nach Deutschland geflüchtet, manche tauchen nach einem abgelehnten Antrag unter, manche melden sich gar nicht erst bei den Behörden. Viele Illegale bleiben auch nach dem Ablauf eines Touristenvisums in Deutschland. Sie alle vereint ein harter Alltag, in dem alle Sicherheiten eines normales Lebens auf dem Kopf stehen. Bei einer Grippe zum Arzt gehen? Ohne Krankenversicherung unmöglich. Und wer weiß schon, ob der Arzt vertrauenswürdig ist. Einen Fahrraddiebstahl bei der Polizei anzeigen? Ein schlechter Witz, wenn schon der Aufenthalt im Land gegen das Gesetz verstößt. Genauso unmöglich ist es einen legalen Job zu finden, wenn man selbst illegal ist. Also ist man den Widrigkeiten einer Schattenwirtschaft ausgeliefert. Schwarz in einer Bar oder als Putzkraft kann das noch ganz unproblematisch sein, auf dem Bau oder in bestimmten Bereichen der Prostitution führt die Abwesenheit des staatlichen Schutzes oft zu schlimmen Zuständen. Unsichtbar sein heißt, unbemerkt vom Staat zu (über-) leben. Es heißt aber auch, unbemerkt von der Gesellschaft.
Mit kleinen Einführungsfilmchen vor jedem Themenbereich zieht das Projekt den Zuschauer in die Subjektive: Es ist dein Fahrrad und gegenüber ist eine Polizeistation, aber du darfst da nicht hin. Du hustest und keuchst, Aspirin helfen schon lange nicht mehr. Was machst du? Du bist pleite, aber die Arbeitsagentur kommt für dich nicht in Frage. Was folgt sind unterschiedliche journalistische Beiträge zum Thema. Ein Interview mit einem Jesuitenpater, der Papierlosen in seiner großen Wohnung Unterschlupf anbietet, oder einer Ärztin der Malteser, die Menschen ohne Krankenversicherung und anonym Hilfe anbietet. Doch die jungen Journalisten gehen noch weiter und schauen auch auf die andere Seite. Wie geht der Staat mit dem Phänomen um? Sie stellen Aussagen einer Bundestagsabgeordneten der Linken denen eines CSU-Abgeordneten gegenüber und sie sprechen mit Helene Bode, die in einer Härtefallkommission Gutachten schreibt und so mitbestimmt, wer auf Grund besonderer Umstände bleiben darf. In einer Fotoreportage aus der Abschiebehaftanstalt in Berlin Grünau interviewen sie Angestellte und Häftlinge, die auf ihre Abschiebung warten. In unter vier Minuten entsteht nur aus Fotos und O-Tönen ein beklemmendes Stück deutscher Realität, dass nachdenklich macht.


MODERNE JOURNALISTENAUSBILDUNG: Videovorstellung der ems Babelsberg

Die Absolventen der Electronic Media School in Potsdam Babelsberg wollen mit ihrem Abschlussprojekt die Unsichtbaren sichtbar machen, ganz im Sinne einer soliden journalistischen Ausbildung dahin schauen, wo sonst niemand hinschaut. Das gestaltet sich natürlich nicht ganz einfach. Wer so etwas existenzielles wie seinen Aufenthaltsstatus zu verlieren hat, möchte seine Geschichte bestimmt nicht in eine Kamera erzählen. Die Schwierigkeiten, denen die Macher bei der Recherche begegnet sind, beschreiben sie auf der Seite selbst in einem ausführlichen Beitrag zur Entstehung des Projekts und in einem liebenswerten Blogeintrag, in dem sie ihren gesamten Arbeitsprozess skizzieren. Diese offene Form des Personal Journalism zeigt sich auch in den Beiträgen selbst. Die Bewohner der Wohnung des Jesuitenpaters, der Menschen ohne Papiere eine Unterkunft anbietet, konnten die jungen Reporter nicht direkt interviewen. Dafür sitzen sie nun vor der Wohnungstür, erzählen von ihren Eindrücken und zeigen Fotos von Einwegkameras, mit denen ihre Gesprächspartner ihren Alltag selbst fotografieren konnten. Wer möchte, kann darin eine Metapher auf die eklatanten Mangel an persönlicher Freiheit sehen und wie man auch als Mitglied der Mehrheitsgesellschaft auf Augenhöhe die Betroffenen unterstützen kann. Oder man freut sich einfach nur über einen kreativen journalistischen Einfall und hört den beiden Reportern interessiert zu.
Genau diese Nähe zu den Menschen hinter der Kamera und ihrem Thema, macht dieses einzigartige Webprojekt aus. Dabei handelt es sich wohl um einen gut tuenden Nebeneffekt eines Ausbildungsprojektes und obwohl diese Art der Transparenz im späteren beruflichen Alltag eher nicht die Regel sein wird, hat man als interessierter Beobachter das Gefühl, hier kümmert sich jemand wirklich um einThema und dass es von dem, was die angehenden Journalisten dabei lernen, deutschen Fernsehredaktionen viel, viel mehr braucht.
Die ems bietet neben Fortbildungskursen und Traininsgprogrammen für Journalisten, die mit elektronischen Medien hantieren, einen anderthalbjährigen Volontariatskurs an, den die Macher des Projekts Die Unsichtbaren gerade absolviert haben.


RÜHRENDES MUSIKVIDEO: Tanzen mit Gehörlosen

Was verbindet ein Projekt wie Die Unsichtbaren mit einem Musikvideo, in dem gehörlose Menschen tanzen? Was hat die in die London lebende Künstlerin Sofia Mattioli mit den Journalistenschülern auf der ems gemein? Für mich ist es eher ein Gefühl, aber ich versuche es trotzdem zu beschreiben. Es hat etwas mit einer nach außen getragenen (denn Journalisten wie Künstler, erst recht, wenn sie ein Musikvideo drehen arbeiten mit dem Außen, mit den Menschen da draußen) Empathiefähigkeit und mit einem Interesse für „unnormales“ zu tun. Das „nach Außen“ ist deswegen so wichtig, weil gerade wenn man im Zeitalter des Personal Journalism mit seinem Gesicht für eine Story einsteht, wird das Hinterfragen der Motivation wird zu einem wesentlichen Faktor. Das gilt für politische Journalisten wie Glen Greenwald, dem regelmäßig antiamerikanische Propaganda vorgeworfen wird, aber auch für Produzenten von Internetvideos im weitesten Sinne. Das auch in dieser Kolumne besprochene Kuss-Video und die etwas verlogene Empörung, als klar wurde, dass es sich um ein Werbevideo für eine Modemarke handelte, sind das beste Beispiel dafür. Vielleicht ist es das, was hinter dem Begriffen wie Neue Medien, web-dreivieroderirgendwas-null oder eben Personal Journalism steht? Das professionelle Agieren zwischen den Möglichkeiten der neuen Medienwelt, in der eine Katze innerhalb kürzester Zeit zum Weltstar werden kann, das Interesse für seine eigenen Geschichten oder seine Kunst (in der Welt, von der ich spreche, auch ganz schnell: sein Produkt) und die selbstbewusste Arbeit mit dem Zeitgeist. Und in dessen Mittelpunkt befindet sich gerade eben jene Empathiefähigkeit und, und das ist etwas schönes, ein Interesse für Geschichten und Empfindungen außerhalb der Erfahrungswert des Durchschnittsmenschen.
Also, zurück zu Sofia Mattioli. Sie berichtet von einer Begegnung in einem Zug, als sie von einem gehörlosen Mädchen angesprochen wird. Ihre Ausdrucksweise beim Hören von Musik über Kopfhörer hätte dem Mädchen die Musik fast spüren lassen. Fasziniert von dieser Begegnung entwickelt Mattioli die Idee zu dem neuen Lied von Jamie XX, einem wunderbar-chilligen, aber doch rhythmisch anspruchsvollen Softelektrostück des Produzenten und The-XX-Mitglieds. In dem Video tanzt sie selbst mit Gehörlosen aus einer Einrichtung in Manchester. Ihre Freude an der Bewegung und die Ausgelassenheit der Szenerie lässt vermuten, dass es den Tänzern ähnlich geht wie dem Mädchen im Zug und heraus kommt ein rührendes, viral-proof Musikvideo, in dem einem Menschen näher kommen, deren Welt einem sonst fremd ist.

STILES MEISTERWERK: Barbara

AUS DER MEDIATHEK – arte +++ Sendungen vom 9. April +++ nur noch bis 16. April abrufbar:
arte zeigt einen der beeindruckendsten deutschen Spielfilme der letzten Jahre. Auf der Berlinale 2012 war Barbara der Lieblingsfilm der Kritik und wurde mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Die Geschichte der jungen Ärztin aus Ost-Berlin, die sich auf ihre Flucht in den Westen vorbereitet und eigentlich schon abgeschlossen mit dem Leben im Sozialismus, hatte soviel mehr als die meisten anderen Filme über die DDR-Zeit: es fehlte der Klamauk aus Sonnenallee, die eindimensionale Täter-Opfer-Logik des Welterfolgs Das Leben der anderen und das parasitäre Spiel mit der Erinnerung an eine Scheinwelt, das Good Bye, Lenin zwar sehenswert, aber doch irgendwie schal machte. Interessant ist es doch viel mehr, wie die Menschen in der DDR lebten, dachten, fühlten. Also, weniger „die Menschen“ wie die Abziehbilder in den genannten Beispielen, als jede oder jeder einzelne. Menschen wie Barbara, die in die Provinz versetzt wird und auf ihren neuen Chef André trifft, der mit seiner pragmatischen Haltung zum Leben in der DDR, aber auch mit seiner (Für-) Sorge für Verwirrung sorgt. Mit Barbaras Konflikt um Wahrhaftigkeit in ihrem eigenen kleinen Leben schafft Regisseur Christian Pätzold ein seltenes Stück Wahrhaftigkeit auf der deutschen Leinwand. Dabei geht es eben nicht darum, auf der richtigen Seite der Geschichte oder der Mauer zu stehen, sondern bei sich zu sein. Wo immer das auch ist.


Teaser & Image by Screenshot, http://www.nowness.com/day/2014/4/10/3800/jamie-xx-sleep-sound“


wanderte schon früh zwischen den Welten, on- und offline. Der studierte Kulturarbeiter arbeitete in der Redaktion eines schwulen Nachrichtenmagazins im Kabelfernsehen, produzierte Netzvideos und stellte eine Weile Produktionen im Cabaret-Theater Bar jeder Vernunft auf die Beine, bevor er als waschechter Berliner nach Wiesbaden zog, um dort am Staatstheater Erfahrungen im Kulturmarketing zu sammeln. Er baute später die Social-Media-Kanäle der Bayreuther Festspiele mit auf und schoss dabei das erste Instagram-Bild und verfasste den ersten Tweet des damals in der Online-Welt noch fremden Festivals. Seitdem arbeitete er als Online-Referent des Deutschen Bühnenvereins und in anderen Projekten an der Verbindung von Kultur und Netz. 


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