Die vermessene Ökonomie – Es könnte auch alles ganz anders sein

Es ist wohl ein Mythos, dass Unternehmen den Wettbewerb befürworten oder gar fördern. Sie hassen den Wettbewerb, sie tun alles, um ihn auszuhebeln. Sie wollen den maximalen Erfolg, aber nicht den maximalen Wettbewerb. Um wirklich uneingeschränkt effizient am Markt agieren zu können, müssen wir uns in egozentrische und amoralische Rechenmaschinen verwandeln, schreibt Colin Crouch in seinem Buch „Die bezifferte Welt“: „Wenn wir uns selbst als Rechenmaschinen begreifen, sind wir bei der Ausrichtung unseres Handelns moralischen Kriterien gegenüber immun.“

Alles soll berechenbar sein

Es dominiert der Primat der Zahlungsfähigkeit, der jegliche inhaltlichen Aspekte auslöscht. Bürger, Kunde, Objekt. Ein zentraler Anspruch der neoliberalen Ideologie und der neoklassischen Märchenerzählung ist, dass sie das Individuum in den Mittelpunkt rücke und daher humaner sei. Die Wirtschaftstheorie fischt lediglich ein bestimmtes Merkmal heraus und verabsolutiert es: unsere Fähigkeit zur pseudo-rationalen Berechnung unseres Vorteils und der Wege, auf denen wir ihn maximieren können. „Außerdem verlangt sie, dass sich dieser Vorteil in Form eines Geldbetrags ausdrücken lassen muss, da sie Geld zum einzigen Maßstab der Bemessung des Werts von Waren und Gütern einerseits und zum einzig verlässlichen Motivator unseres Handelns andererseits erklärt. Damit der Markt funktioniert, müssen alle Dinge, nach denen Menschen ein Bedürfnis haben, miteinander verglichen werden können. Andernfalls ist eine rationale Entscheidung der Frage, wo unser größter Vorteil liegt, nicht möglich. Infolgedessen werden alle Dinge, die sich entweder nicht in einen Geldwert umrechnen lassen oder durch diese Umrechnung irreparabel Schaden nähmen, als unbedeutend verworfen“, so Crouch.

Auch der Ökonomismus ist ein Werturteil

Alles andere blendet man aus, weil es ja zu verzerrenden Werturteilen führen könnte. Eine Erfahrungswissenschaft dürfe keine verbindlichen Normen oder Ideale ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können. Im Gefolge des Werturteilstreits hat sich die Mehrheit der Ökonomen der Ansicht angeschlossen, die Wirtschaftswissenschaften hätten nicht über die Ziele des Wirtschaftens zu befinden, sondern dienten allein einer Aufklärung über den intelligentesten Gebrauch knapper Mittel, erläutert Professor Claus Dierksmeier vom Weltethos-Institut im ichsagmal.com-Interview.

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Aber schon diese Reduktion ist ein Werturteil. Etwa die Anwendung des Ökonomismus auf alle Lebensbereiche, von Schule bis Medizin. Wir werden ausschließlich als Kunden betrachtet, als Objekt der Begierden. Man merkt es an der Unternehmenskommunikation, die darauf ausgelegt ist, uns mit weltweit führenden Wortblähungen zu verscheißern. Wir werden mit wohlklingenden Versprechungen umworben, also mit Angeberei und haltlosen Behauptungen. Und das führt zu einer fatalen Schieflage: „In einer Gesellschaft, in der alle öffentlichen Räume von Botschaften überflutet werden, die im Konsumieren die Antwort auf alle Lebensfragen versprechen, hat es ein an Wahrhaftigkeit ausgerichteter Diskurs um das gute Leben schwer. Dies untergräbt die kulturellen Voraussetzungen moralischer und politischer Autonomie“, kritisiert Dierksmeier in seinem Opus „Qualitative Freiheit“.

Scheinheilige Abstinenz in der Ökonomik

In der Ökonomik regiert eine scheinheilige Abstinenz bei Werturteilen. Etwa bei der „Konsumentensouveränität“, die einfach die Egozentrik von Einzelentscheidungen aggregiert und sie in der Summe als Wohl der Allgemeinheit ausspuckt. Wie von Geisterhand. Eine mathematische Schimäre, die politischen Reformen im Weg steht – zum Nachteil des Gemeinwohls und zum Vorteil für privilegierte Machteliten. Wir beschränken uns auf eine abstrakt-quantitative wirtschaftliche Freiheit eines Konsumentenstaates auf Kosten von qualitativen Freiheiten einer realen Bürgergesellschaft. Dierksmeier plädiert für einen qualitativen Liberalismus in Konfrontation mit oligarchischen und plutokratischen Strukturen. Pseudo-Liberale, die sich unter dem Deckmantel wirtschaftlicher Freiheiten ausbreiten, demontieren die Freiheit- und Bürgerrechte. Wer anderen vorschreibt, Freiheit sei allein quantitativ zu verstehen, also als Maximierung von Erträgen, Nutzen, Profiten und Einkommen, der verstößt selber gegen jene von Liberalen hochgehaltene Freiheit zur bürgerlichen Selbstbestimmung, betont Dierksmeier.

Die Kollateralschäden der Deregulierung

Man braucht sich nur die Kollateralschäden der Deregulierung anschauen, um die  Werturteilsfreiheit, die in VWL-Lehrbüchern fast religiös gepredigt wird, werten zu können. Etwa beim Investment-Banking, beim Buchhaltungsrecht oder im Sicherheitssektor. Stichworte wie WorldCom-Pleite, Lehman-Untergang, Savings and Loans-Debakel, Enron-Arthur-Andersen-Skandal mögen da ausreichen. Wir könnten jetzt noch VW, Deutsche Bank, Thyssen, RWE und Co. hinzufügen. Es gibt kein Naturgesetz und keinen Automatismus in der Ökonomik, um für Wohlfahrt zu sorgen. Es sind qualitative Bedingungen, die auch ganz anders gestaltet werden können, meint der Astrophysiker und Naturphilosoph Harald Lesch in der Philosophie-Sendung von Richard David Precht.

Was kann man ändern jenseits der Erbsenzählerei, die sich in Algorithmen, ceteris paribus-Formeln und sonstigen von Menschen gemachten mathematischen Rechenexempeln verstecken.

Auch in Algorithmen verstecken sich Werturteile

Der Mensch ist viel mehr als die Summe von Daten, die die Wirklichkeit gewichten und somit manipulieren. Es gibt in der Ökonomik keine störungsfreie Laborsituation. „Die Wirklichkeit wird durch qualitative Entscheidungen bestimmt“, sagt Lesch. Mit den Methoden der Himmelsphysik, wo im luftleeren Raum alles funktioniert, kommen wir in der Gesellschaft nicht weiter. Jeder ist gefordert, seine Entscheidungen zu begründen und sich nicht hinter Formeln, Kennzahlen, Rankings, aufgeblähten Umsätzen und Renditen zu verstecken. „Es muss grundsätzlich eine Änderung der Ökonomik herbei geführt werden, die nicht mehr von mechanistischen Paradigmen geprägt ist“, fordert Dierksmeier.

Auch Formelkonstrukteure müssen sich einem normativen Diskurs stellen

Es geht immer um Wertentscheidungen. Auch jeder ökonomische Formelkonstrukteur ist gefordert, seine Weltsicht zu erklären. Wer sich verweigert, Ziele für ein gutes Leben darzulegen, ist nicht in der Lage, einen wissenschaftlichen Diskurs zu pflegen. Das Notiz-Amt sieht die Notwendigkeit für eine Radikalkur an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten. BWL- und VWL-Studiengänge sollten wie Kunstakademien gestaltet werden.

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Das hat der bildende Künstler Jürgen Stäudtner im Abschlussgespräch der diesjährigen Next Economy Open trefflich bemerkt.


Image “economic” by falovelykids (CC0 Public Domain)


ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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2 comments

  1. Schön, dass Sie diese Frage aufgreifen!
    Ich habe bei vielen Freunden bereits das Gefühl, ich wäre ein „Kunde“: kann man von mir nichts bekommen, geht man vorbei.
    Habe den Job auf was besseres gewechselt, und auf einmal kamen Nachrichten von „Freunden“, die mir seit Jahren nicht geschrieben hatten: weil ich jetzt wichtige Geschäftskontakte habe … Sehr traurig …

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