MOOC: Der deutsche Diplom-Ingenieur

In seinem ersten MOOC präsentiert sich der deutsche Diplom-Ingenieur als eine etwas in die Jahre gekommene Marke auf der Suche nach Modernität. Letzthin stolperte ich zufällig über den MOOC der TU9. TU9 ist ein Zusammenschluss der neun deutschen, technischen Universitäten, die das Ziel verfolgen, das deutsche Ingenieurwesen gemeinsam zu repräsentieren. MOOC steht für „Massive Open Online Course“. Nun gut, dachte ich, als ich vom TU9-MOOC Kenntnis erlangte. Schauen wir doch mal, wie deutsche, technische Universitäten sich der Welt präsentieren und sich moderne Ausbildung denken.

Der Kult des Amateurs?

Es ist nicht leicht, sich heutzutage professionell zu behaupten. In diesen Zeiten, in denen zumindest in der Informatik seit einigen Jahren extreme disruptive Kräfte wirken. Man kann ja zwischenzeitlich im englischsprachigen Raum in sehr kompakten Formaten sich recht vielfältig Bruchstücke der Informatik drauf schaffen. Und Informatiker sind letztlich auch Ingenieure.

Das funktioniert heute sehr leicht. Je nach persönlicher Ausgangslage und persönlicher Einschätzung des eigenen Lernverhaltens kann man sich “drüben“ bei Interesse extrem schnell als Teil-Informatiker_in und damit Teil-Ingenieur_in online ausbilden lassen. Auch im fortgeschrittenen Alter.

Das kostet mitunter zwar ordentlich Geld. Aber einige Ausbildungsstätten bringen einen dort gleich mit attraktiven Arbeit- oder Auftraggebern in Kontakt, so dass sich die Ausbildungskosten in kurzer Zeit über das Einkommen amortisieren. Denn Teil-Informatiker_innen kann es derzeit gar nicht genügend geben. Es boomt! Und es gibt einen Markt.

Markt und Marke nur eine Frage des Marketings?

Genau diese Entwicklung geht den deutschen Ingenieuren gehörig auf den Keks. Denn der deutsche Ingenieur unterscheidet sich von anderen Ingenieuren. Es braucht dazu lediglich des Diploms. Damit die Marke „Deutscher Diplom-Ingenieur“ am Leben erhalten bleibt.

Der deutsche Diplom-Ingenieur steht nämlich für gute Wertarbeit im Maschinenbau, dem Anlagenbau, der Elektrotechnik und sicherlich noch für vieles mehr. Er baut Staudämme, Flüghäfen, Flugzeuge und auch hier noch vieles mehr. Und dafür will er gut ausgebildet werden. Und auch weiterhin einen ordentlichen Abschluss: Ebenjenes Diplom!

Nun hat man sich nach langen politischen Kämpfen durchgesetzt und darf auch weiterhin für den deutschen Diplom-Studiengang werben, obwohl er de facto ein Master-Studiengang ist. Und deshalb kann man jetzt an den deutschen technischen Studiengängen mit einem Master-Diplom nach fünf Jahren Studium abschliessen, wenn man denn will.

Damit auch internationale Gäste den Wert des deutschen Master-Diplomstudiengangs erkennen, hat man nunmehr im Wintersemester 2014/15 ebenjenen kostenfreien MOOC aufgesetzt. Über neun Wochen stellte jeweils eine unterschiedliche Hochschule einen ihrer Schwerpunkte live vor. So dass man ein Kaleidoskop an möglichen Themen kennen lernen konnte. So weit, so gut.

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Design ist nur was für Warmduscher?

Eine Marketing-Kampagne also, dieser MOOC, für die Hochschulen. Kein Lernprogramm für die Menschen da draussen. Man kippte eine klassische Ringvorlesung in ein Online-Format. Und fertig ist der TU9-MOOC mit einem Design-Level, das schon vor fünf Jahren wenig sexy gewirkt hätte.

Nicht, dass es nicht seit Jahren eine Vielzahl an MOOC-Plattformen und -Formaten gäbe, an denen man sich hätte orientieren können. Und nicht, dass es bei den kommerziellen Plattformen Forschungen darüber gäbe, welche Videolänge am attraktivsten für die Lernenden ist.

Nein, darum schert sich der deutsche Ingenieur nicht. Er präsentiert sich weiterhin in seiner „Programmers Art“, die all diejenigen offensichtlich abschrecken soll, die es nicht ernst meinen mit einem deutschen Ingenieur-Studiengang. Und mit 1,5-stündigen Videos – eben wie in den Vorlesungen. Wer Schnörkel liebt, ist beim deutschen Diplom-Ingenieur an der falschen Adresse.

Kalifornische Leitkultur?

Während Apple in den letzten Monaten die ehemalige Burberry-Chefin und viele weitere Expert_innen aus der exklusiven Modebranche anheuerte, um seine zukünftigen Produkte wie z.B. die iWatch noch attraktiver zu platzieren für Zielgruppen, die nichts mit Technik gemein haben. In diesen Zeiten präsentiert sich der deutsche Ingenieur frei von solch profanem, kalifornischen Denken.

Und ich frage mich: Ist es denkbar, sich absehbar über z.B. Udacitys kalifornische Nanodegrees eine online-basierte Ausbildung weltweit zu verschaffen, die einen später auch solide Staudämme bauen lässt?

Udacity, wer es nicht kennt, baut derzeit eine Silicon Valley-Universität auf. Eine Online-Bildungswelt, in der man sich in mehrwöchigen Online-Häppchen am Bedarf des Marktes entlang ausbilden lassen kann. Die Lehrenden sind Praktiker aus den Firmen, keine Professoren. Und sie vergeben für ihre Module so genannte “Nanodegrees”, ein eigens entwickelter Begriff zur Dokumentation des Geleisteten. Übrigens auch von einem deutschen Diplom-Ingenieur entwickelt. Der aber sein Knowhow in Kalifornien verfeinert hat.

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Man lernt nicht für die Lehrer_innen?

Also zurück zur Frage: Wird man in absehbarer Zeit sich über Nanodegrees die Kompetenzen online drauf schaffen können, um z.B. komplexe Staudämme o.ä. sehr solide bauen zu können?

Ich denke: Ja! Und ich vermute, Googles angekündigter Flughafenbau wird nicht nur schneller fertig gestellt sein als unser Berliner Flughafen. Sondern die Abläufe des Flughafen-Betriebes werden dort auch noch deutlich effizienter erfolgen als im herkömmlichen Betrieb – so zumindest das erklärte Ziel von Google.

Während also angehende deutsche Diplom-Ingenieure sich hier durch umständliche, unusable, fast menschenfeindliche Lernumgebungen wälzen müssen, entstehen andernorts freundliche, bedarfsorientierte Lernangebote auch für andere Lerntypen als den deutschen Informatik-Studierenden.

User Experience der Industrie 4.0?

Also, mein Profi-Tipp: Sollte da draussen jemand sich abgeschreckt fühlen vom TU9-MOOC oder durch das Design der deutschen, technischen Studiengänge generell: Schaut euch einfach mal im englischsprachigen Kontext um! Dort könnt ihr eine gute, techniknahe Ausbildung erfahren, die es euch ggf. ermöglichen wird, menschenfreundlichere Projekte durchzuführen.

Nur Mut! Mit dem deutschen Diplom-Ingenieur werdet Ihr in fünf Jahren vermutlich kaum noch punkten können. Höchstens noch beim deutschen Mittelstand mit Industrie 4.0-Ambitionen. Und wenn ich mir das vergegenwärtige, dann bekomme ich Angst. Nicht vor Industrie 4.0 an sich. Sondern vor dem Menschenbild, das deutsche Ingenieure dort einfliessen lassen.

Und an alle deutschen Diplom-Ingenieure: Nichts für ungut! Ich bewundere eure Kompetenzen, wirklich! Nur denke ich, die Ausbildung könnte heutzutage etwas anders gestaltet sein. Und grundsätzlich mehr Wert auf User Experience gelegt werden!


Image (adapted) „Lecture Lecture“ by Alan Levine (CC0 Public Domain)


beschäftigt sich mit globaler Transformation im digitalen Wandel. Sie gilt als kreative Trendsetterin und bezeichnet sich selbst als Bildungsquerulantin. Inhaltlich beschäftigt sie sich mit User Experience, Bildungspolitik, Arbeitsorganisation und unserer Zukunft in einer vernetzten Gesellschaft. Mit dem Unternehmen FrolleinFlow GbR bietet sie heute Studien, Vorträge, Consulting und verschiedene Online-Projekte an. ununi.TV ist eines dieser Online-Projekte. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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4 comments

  1. Hm. Klingt nach einem Bericht von jemanden, die keine Ahnung von Ingenieurwissenschaften hat. Anstatt auf den Vorträgen oder dem Design herumzuhacken, sollten konkrete Ideen oder Vorschläge gebracht werden. Sicherlich ist der deutsche Mittelstand vor allem Internet-Ödland, Jahre hinter dem eigentlichen Markt. Das liegt aber eher an der Überalterung der Personen an wichtigen Stellen, die ihr Wissen aus antiquierten Zeitschriften erhalten. Aber trotzdem gibt es sehr viele Ingenieure – so auch in meinem Umfeld – die Design und technische Fähigkeiten durchaus unter einen Hut bekommen. Man bedenke nur die App-Entwickler, die auch mit Diplom in der Tasche in Unternehmen sitzen, und – man höre und staune – arbeiten.

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