Hallo Leute, es ist Trendtag…

… alle machen blau von Flensburg bis nach Oberammergau. Was muss mein entzündetes Bedeutungszentrum da erblicken? Einen Blogbeitrag des Trendtags mit einem Interview mit Prof. Norbert Bolz, dem Robin Hood der schnell geschossenen Sätze. Er gibt von den Bedeutungsreichen und schenkt sich dem Bedeutungsarmen.

Denn der Trendtag hat auch Stowe Boyd und all die Knowledge Flow Experten gehört und gelesen und stellt in totaler Unkenntnis des Konzepts die beiden sich aussschließenden Begriffe „Flow“ und „Control“ gemeinsam in den aktuellen Slogan. Warum? Das erklärt eben jener Professor des Wyatt Earp-Denkens mit rauchenden Colts:

„Das Grundproblem ist, dass in der modernen Welt Stabilität nicht mehr durch feste Strukturen erreicht werden kann, sondern nur in dynamischen Formen.“

Ähm. Lieber junggebliebener Dozent, ein kleiner Blick in das umstrittene Online-Lexikon Wikipedia hätte Schlimmeres verhindert: Stabilität ist die Fähigkeit eines Systems, nach einer Störung wieder in den Ausgangszustand zurückzukehren. Per definitionem ist Stabilität also nichts Festes – und eine Form schon mal gar nicht sondern ein Zustand. Aber der begeisterte Selbstdenker macht offenbar keine so großen Unterschiede zwischen Form und Zustand.

Der „Flow“, der Fluss, wird zum Normalzustand. Es gibt nur noch dynamische Stabilität.

Was – wir oben gesehen haben – ein weißer Schimmel, ein junges Baby, ein stinkender Munsterkäse ist – eine Tautologie.

Wir müssen lernen, mit einem nie abreißenden Strom von Informationen und Optionen umzugehen.

Soll ich das jetzt so verstehen, dass man seit dem Internet nicht mehr seine Ohren zuklappen kann und auch nicht mehr die Augen schließen und den Mund halten, wie es unsere Vorfahren – die drei Affen – noch konnten? Wenn es so ist, dann haben ja alle Kinder, die ihre Kindheit vor der elektrischen Oma verbracht haben in der Tat einen Vorteil. Aber dann sind schon die Baby Boomers „Informational Natives“, oder nicht? Oder ist das wilde Herumzappen im Fernseher kein „nie abreißender Strom an Information“? Halt. Ich meine mich zu erinnern, dass es auch dort einen magischen Knopf gibt, auf dem außerirdische Kulturen Symbole wie I/O oder auch ON/OFF hinterlassen haben.

Das gilt bei genauerer Betrachtung genauso für Geldflüsse wie für die Karrieren der einzelnen Menschen oder für die Zusammensetzung unserer Lebensgeschichten. All das entfernt sich immer weiter von selbstverständlichen, festen Strukturen.

Da hat der hoch intelligente Professor aber mal messerscharf analysiert. Früher, als die Fugger und der Papst praktisch die einzigen waren, die Gelder austauschten, da waren die Flüsse noch sowas von fest. Und heutzutage fliessen die Mitarbeiter hin und her wie die Wellen am Strand. Genau das haben Hagel und Boyd mit information und knowledge flow gemeint… Eine Karriere ist das Herumfliessen der Menschen von einem Ort zum anderen. Aha.

Und dann kommt der akademische Offenbarungseid. Denn das Flowkonzept von Mihaly Csikszentmihalyi hat er offenbar nie gelesen oder nie verstanden. Ja, in den Achtzigern war aber auch noch kein dynamischer Fluß, weil das Internet noch ganz weit weg war. Das entschuldigt ihn. Also, der Ungar beschrieb auf der Basis der Arbeiten von Kurt Hahn und Maria Montessori einen Zustand des Tätigkeitsrauschs, der bei Risikosportarten genau im mittleren Bereich zwischen Unter- und Überforderung auftritt. Ältere Leserinnen werden diesen Zustand von ihren Männern kennen, die an Modelleisenbahnen oder ihren Motorrädern herumbasteln und für Kaffee, Kuchen oder gar Gespräche in keiner Weise zugänglich sind. Die Pseudopsychologie spricht von einem Harmoniezustand zwischen dem limbischen System und dem kortikalen System, zwei organischen Strukturen im Gehirn, denen seit den 80er Jahren emotionale bzw. verstandesmäßige Informationsverarbeitung zugeschrieben werden. Da Harmonie aber keine physische Kategorie ist – außer vielleicht in der Akustik (Schallwellen!) – kann man solche naturwissenschaftlichen Entitäten wie Gehirnstrukturen nur unter Zuhilfenahme des esoterischen Glaubens mit musikalischen Kategorien verbinden. Eigentlich ist Harmonie eher ein ästhetischer Begriff. Diese Kategorie ist aber nicht anwendbar auf physikalisch messbare Körper. Denn sie ist die Aneignung derselben als mentale Repräsentation. Insgesamt ist Csikszentmihalyis Konzept nicht unumstritten und wird in der trivialen Psychologie der Ratgeber- und Selbstmanagementbücher oft anzufinden sein ohne besondere wissenschaftliche Analyse oder Begründung. Schlimm sind dann solche Verharmlosungen von Zwangserkrankungen, wie Bolz das Konzept hier exemplarisch mißversteht:

Das große Verdienst dieser psychologischen Arbeit ist, zu zeigen, dass „im Fluss zu sein“ keine Bedrohung ist, sondern der eigentliche Glückszustand. Als Beispiel könnte man den Workaholic heranziehen, den man sich nicht als Süchtigen, sondern als glücklichen Menschen vorstellen kann.[…] Ziel ist, Selbstverwirklichung nicht auf den Feierabend zu verschieben, sondern dass praktisch die ganze Existenz in einer solchen Fließbewegung erlebt wird.

Was genau all dies mit Flow Control zu tun hat, erschließt sich kaum. Ein Glück, dass der linksradikale Manuel Castels auch auf dem Trendtag sprechen wird. Er hatte ja bereits vor 20 Jahren eigenwillige Thesen zum Web und der Gesellschaft aufgestellt. Ob Herr Bolz das aber inhaltlich erfassen kann, ist bezweifelbar. Denn auf die Frage, was einem Menschen die Fähigkeit verleiht, Glück statt Überforderung zu erleben, antwortet er, sagen wir mal, kreativ.

Im Wesentlichen geht es um das Vermögen, mit Unvorhersehbarkeit umgehen zu können. Man kann prinzipiell nicht voraussagen, wie sich die Dinge oder das eigene berufliche Schicksal entwickeln. Aber eines ist auf alle Fälle klar: Egal, was kommt, man muss reaktionsfähig sein. Sicherheit entsteht nicht mehr von außen, sie muss von innen kommen – als eigene Reaktionsfähigkeit oder Geis­tesgegenwart. Man könnte auch sagen, es geht darum, Spaß an der Komplexität zu haben. Es gibt Leute, die Angst vor der Komplexität haben. Sie wollen alles vereinfachen, sie leben nach der Devise „Simplify your Life“. Und dann gibt es Menschen, die Komplexität als Chance sehen, neugierig werden, ein Rätsel lösen wollen. Das ist der große Mentalitätsunterschied

Die Geistesgeschichte kennt diese Unvorhersehbarkeit als Kontingenz, die in ihrer banalen Form als Zufall in die moderne Denkwelt Einzug hielt. Aus logischer Sicht bezeichnet es eine Existenz, die weder wahr noch falsch ist – sogar gar nicht sein könnte. Glück nun angesichts der menschlichen Schicksalsergebenheit gegenüber den großen Bewegern wie Gott, Zufall, Naturgesetze oder ähnlichem als reaktionsfähig zu bezeichnen, rückt das Glück in eine verdächtige Nähe zum Adjektiv lebendig, denn nur tote (feste?) Materie reagiert nicht auf zufällige Einflüsse wie Regen, Donner, Liebe oder Beschimpfungen.

Und dann kommt das Wort, ohne das man heute praktisch gar keine Meinung mehr formulieren kann. Komplexität. Bolz bezeichnet den Spaß an diesem Amalgam aus Elementen und Strukturen als innere Reaktionsfähigkeit. Und dann entwertet er diejenigen die vielfältige Gebilde vereinfachen wollen, die aus ineinanderverwobenen Einzelteilen bestehen, die fast undurchschaubar verheddert sind. Der Begriff Komplexität ist zum Glück nicht Teil dieser Vereinfachungstendenz. Ein Glück. Zumindest glaubt Bolz das. Aber wenn man Komplexität als Rätsel auffasst, mag das stimmig sein. Das ganze Leben ist ein Quiz, und wir sind nur die Kandidaten. Und wie man das in der Prxis umsetzen könne, will der/die Interviewer/in wissen.

Natürlich eine gewisse Ausbildung und Bildung. Dann ist ein großes Maß an Sozialität, also eine Lust an der Geselligkeit, notwendig. Man muss auch eine Art „Gadgetlover“ sein, also Spaß an den Kommunikationstechnologien selbst haben. „To work the network“, am Netzwerk selbst mitarbeiten – wenn man das gern macht und auch kann, hat man alle Chancen, zu den glücklichen Workaholics zu gehören.

Nee, ist klar. Wenn man ein Gadgetlover ist und das Netzwerk melken kann, ähm werken, nein, also wenn man es arbeiten kann, dann klappt’s auch mit dem Nachbarn. Genau, und dann wird man ein glücklicher Zwangskranker, der seine stofflose Sucht ausleben kann, weil die Gesellschaft – zumindest die Arbeitgeber solcher Charaktere – ihre Spaß daran haben, wenn einer mit seiner Krankheit für den Profit Anderer sorgt. Aha.

Letztlich heißt das, zu einer Ich-AG zu werden, um ein früheres Trendtagsthema zu zitieren.

Also besser hätte ich das jetzt nicht zusammenfassen können. Prekariat, dass sich selbst ausbeutet. Glückliche Workalholics. Das nenne ich mal eine präzise ethische Durchleuchtung des marktliberalen Menschenbilds. honi soit qui mal y pense.

Wer jetzt nicht weiß, was ich damit meine, dem erklärt Bolz das haarklein im nächsten Absatz:

In Deutschland ist das Sicherheitsdenken historisch sehr stark verankert. Wir haben eine ungebrochene Tradition von Bismarcks Sozialgesetzgebung bis zu Hartz IV. Deutschland ist das Land ohne Revolution. Das bedeutet, dass die Deutschen für ihr „politisches Wohlverhalten“ erwarten, dass der Staat als sorgender Vater für sie da ist – egal, was im Leben geschieht. Dieser paternalistische Geist ist sicher der größte Feind der Zukunftsfähigkeit, den es überhaupt gibt.

Richtig. Darin sind sich alle einig, das Gutenbergs bewegliche Lettern aber auch gar keine Revolution gegenüber der Macht des Vatikans ausgelöst hat. Ach, Revolutionen könne nicht von einer technischen Spielerei ausgehen. Oh. Scusi. Das hatte ich vergessen, dass Revolutionen nur mit Blut und Pulverdampf funktionieren.

Genau, es war nicht die Rationalisierung durch Automatisierung und Digitalisierung sowie das Verlagern der industriellen Produktion nach Asien, was die Leute arbeitslos gemacht hat sondern deren Wunsch nach Vater Staat, der alles bezahlt. Genau so war das! Und die Tatsache, dass gut ausgebildete Absolventen Jahre lang als Praktikanten und in Kurzanstellungen ihr Leben dahinfrissten und deshalb keine Familien gründen oder Häuser bauen, das machen sie auch nur, damit sie von Zeit zu Zeit auch mal ein bißchen Transferleistungen zwischen zwei Praktika einstreichen können, weil doch die Eltern nur dann die Wohnungsmiete übernehmen, wenn die Kinder von ihrem Praktikumsentgelt von 500 EUR wenigstens das Essen und die Monatskarte selber zahlen mit einem Diplom und vier Zusatzzertifikaten in der Tasche. Glückliche, arme Workaholics, die sie sind. Und dann kommt eine Glorie auf Amerika mit seiner Zweiklassenausbildung, seiner Zweiklassenberufswelt und seinen Zweiklassenstädten. Dort vermutet Bolz trotz starker kreationistischer Welterklärungen die alten transatlantischen Tugenden der ähm…Atlantikbrücke:

Die Amerikaner leben eine Vorstellung von Selbstverwirklichung, die individualistisch und mit der Eroberung des Neuen verknüpft ist. Dazu kommt ein unzerstörbarer Optimismus in die technische Verbesserbarkeit der Welt. Auf der anderen Seite stehen die Fehlerfreundlichkeit der amerikanischen Kultur und der Glaube, dass Irrtümer zur Evolution dazu gehören.

Und dann kommt der Nachweis, dass das Mittelmaß zwischen Unter- und Überforderung des ursprünglichen Flow-Konzepts völlig über Bord gegangen ist in einem großen Fanal des glücklichen Irren, ähm…falsch, es muss ja jetzt heißen des völlig enthemmten Workaholics:

[…] Was versteht man unter Exzellenz? Ich würde dem Begriff der Exzellenz nicht Perfektion oder Optimierung zuordnen. „Flow“ heißt, dass Geschwindigkeit oft wichtiger ist als Qualität. In einer modernen Gesellschaft ist die Orientierung an dem, was gut genug ist, rationaler als die Orientierung am Perfekten. Und zwar, weil nur dann die erforderlichen Geschwindigkeiten erreicht werden können und damit die Rechtzeitigkeit von Innovationen, Ideen und Handlungen. Insofern bedeutet das für mich in keinster Weise einen Widerspruch, sondern ganz im Gegenteil: Exzellenz besteht gerade darin, zu sehen, was nötig ist.

Amen.

  ist seit 1999 als Freier Autor und Freier Journalist tätig für nationale und internationale Zeitungen und Magazine, Online-Publikationen sowie Radio- und TV-Sender. (Redaktionsleiter Netzpiloten.de von 2009 bis 2012)


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7 comments

  1. JAU. Eloquent wie immer; bei mir hat’s vor Sprachlosigkeit nur für einen Tweet gereicht. Leider, leider wird sich der Herr Professor dadurch nicht von künftigen verbalen Achterbahnfahrten abhalten lassen. Na ja, wenn das endet wie hier, ist das ja auch ein Gewinn ,)

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