Google-Schrotflinten-Ökonomie als Blaupause für vernetzte Wirtschaft

Eine Teleshopping-Operndiva, die Saugnapfmaschinen vertickt; ein Internet-Unternehmer, der eine Dokumenten-App gegen die Wand fährt sowie Kellerbier von Kölsch nicht unterscheiden kann; ein Ex-Stuntman, der in seinem Erlebnis-Geschenkportal Fahrten mit Schützenpanzern anbietet; eine Jung-Unternehmerin, die sich in das gemachte Nest von Papi legt und zur Revitalisierung der FDP beitragen will; ein alternder Touristik-Unternehmer, der die besten Zeiten schon längst hinter sich hat. Fünf Möchtegern-Unternehmer, die sich in der Vox-Sendung “Höhle der Löwen” als Investoren für Gründer mit hohlen Sprüchen und Kalenderweisheiten in Szene setzen. Kann man machen. Ist halt so eine Art “Heißer Stuhl” für die Startup-Szene. Als Katalysator für neue Ideen, die die deutsche Wirtschaft so dringend braucht, ist das Haudrauf-Format ungeeignet. Erkenntnisgewinn zieht das Notiz-Amt aus dem betagten ARD-Presseclub, der sich mit der neuen Holdingstruktur von Google auseinandersetzte.

Google-Diskussion ohne Angstreflexe

Mit Marina Weisband, Mario Sixtus, Phillip Banse und Miriam Meckel war das sonntägliche Stelldichein in der Tradition von Werner Höfer auch gut und ungewöhnlich bestückt. Drei profunde Netzkenner und eine Vertreterin der klassischen Printmedien sprachen unaufgeregt über die Konsequenzen, die sich aus der Metamorphose des Suchmaschinen-Giganten ableiten lassen.

Google orientiert sich fortan an Berkshire-Hathaway-Holding des milliardenschweren Investors Warren Buffet und beendet damit das Dasein als Gemischt-Warenladen. Mit den neuen Führungsstrukturen kann man sich jetzt auf einzelne Sparten konzentrieren. Das Brot- und-Butter-Geschäft ist mit über 90 Prozent Umsatzanteil immer noch die Werbung via Adwords und Adsense. Mit dem Überbau “Alphabet” stärkt man den Glauben an das große Wachstum in den wilden Projekten, mit denen noch kein Cent verdient wird. Das operative Geschäft bleibt bei Google unter dem neuen Chef Sundar Pichai.

Bei einer Marktkapitalisierung von rund 440 Milliarden US-Dollar einen so radikalen Schnitt zu machen, ist für Miriam Meckel ungewöhnlich – zumindest in Deutschland und Europa. Hier werde eine neue Stufe in der digitalen Ökonomie gezündet, die man sich sehr genau anschauen sollte. Google entwickelt eine Blaupause für den radikalen Weg in die vernetzte Wirtschaft und zeigt, wie das funktionieren kann. Es erleichtert das Schrotflinten-Prinzip in den Aktivitäten außerhalb des Werbegeschäfts, betont der elektrische Reporter Sixtus: “Sie schießen ganz viele Kugeln in ganz viele Richtungen ab und hoffen, dass irgendeine Kugel treffen wird.“ Das ist wohl der einzig gehbare Weg für die digitale Transformation.

Versuch und Irrtum für Zukunftsmärkte

Wer im technologischen Sektor in zehn Jahren noch überleben möchte, der müsse jetzt Produkte und Services für Märkte und für eine Nachfrage entwickeln, die es noch gar nicht geben kann. Wie das funktioniert, demonstrierte das Mountain-View-Unternehmen mit Google Maps, das vor zehn Jahren gestartet wurde. Erst 2007 war die Geburtsstunde des iPhone und erst danach entfaltete sich das mobile Internet. Damals galt noch das Blackberry als Krönung der Handy-Schöpfung. Als die mobile Revolution einsetzte, war Google mit einer wichtigen Anwendung sofort präsent. Das Wesen dieses Unternehmens unterscheidet sich von der Return on Investment- und Rentabilitäts-Denke in Teutonien.

Die Gründer und Macher glauben an ihre Projekte, statt Gründe zu suchen, warum etwas nicht gehen kann“, erläutert Sixtus. Suche, Mobilität, individualisierter öffentlicher Nahverkehr mit dem selbstfahrenden Auto, Vernetzung digitaler Infrastrukturen, Vernetzung von Städten, Robotik und industrielles Internet. Die Zukunftsthemen von Alphabet bauen auf die Daten-Intelligenz, die man sich seit der Gründung erarbeitet hat.

Für das selbstfahrende Auto sind Karten unabdingbar. Nicht nur in 2-D, sondern auch in 3-D, wo selbst Ampeln und Bürgersteige abgescannt werden. Man braucht dafür die besten Daten-Ingenieure und die besten Daten“, so der Podcaster Philip Banse. Deshalb rekrutiert Google die besten Genetiker, Hirnforscher, Elektrotechniker, Maschinenbau-Ingenieure (!), Chemiker und Forscher für Künstliche Intelligenz.

Die klügsten Köpfe arbeiten in Mountain View

Die klügsten Leute wollen bei Google arbeiten, konstatiert Marina Weisband. Mit flexiblen Arbeitszeiten, einem guten Betriebsklima, modernen Beteiligungsmodellen, genügend Freiraum für kreative Hobby-Leidenschaften und der Anwerbung von Mitarbeitern mit Migrations-Hintergrund sowie gebrochenen Lebensläufen bietet der Netz-Champion eine Diversität, von der deutsche Unternehmen meilenweit entfernt sind, auch wenn kluge Personalmanager wie Thomas Sattelberger das schon seit Jahren fordern.

Wir verplempern unsere Zeit mit industriepolitischen Scheindebatten, die schon vor drei Jahrzehnten nicht mehr zeitgemäß waren. Seit 1980 sind wir selbst nach den Maßstäben der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung kein Industrieland mehr. Auch der Begriff Industrie 4.0 führt in die Irre, weil er wirtschaftliche Aktivitäten immer noch nach Branchen sortiert.

Zukunftsentscheidend ist nicht mehr die Herstellung eines Kotflügels oder einer Einspritzpumpe, sondern die Verbindung von Daten, Software, Wissen und Algorithmen. Den Rest kauft man sich ein.

Hidden Champions werden zur verlängerten Werkbank

Wir könnten uns jetzt zurücklehnen und sagen, so lange die Inlandsnachfrage stabil bleibt, Exporte funktionieren und die Zahl der Beschäftigten nicht einbricht, ist alles in Ordnung – schließlich zählen wir zu den stabilsten Volkswirtschaften der Welt. Wir können auch weiterhin kartellrechtliche Debatten führen, die zur Zerschlagung von Google führen, obwohl das Suchmaschinen-Geschäft höchst fragil ist und die Zukunftsprojekte von Alphabet reine Laborexperimente sind.

Aber wie viel Zukunft steckt in dieser Geisteshaltung? So langsam werden wir zur verlängerten Werkbank des Silicon Valleys, die sich auf die Veredelung von Produkten und Diensten zurückzieht. Wie viele unserer Projekte in der Grundlagenforschung, Patente und Ingenieurleistungen bringen wir zum Markterfolg? Welchen Stellenwert hat bei uns die Digitalisierung und die Konzentration auf Anwendungen, die bei Produkten immer entscheidender wird?

Von der Heimvernetzung bis zur großspurig verkündeten Energiewende, die im Streit um das EEG gerade kräftig zerredet wird, verspielen für wichtige Themen, die eng mit der vernetzten Ökonomie zusammenhängen. Das gilt vor allem für den Mittelstand, der immer noch das volkswirtschaftliche Rückgrat in Deutschland ist. Die mittelständischen Märkte sind klein, die Kunden ausgewählt, die Aufträge sicher. “Besonders die mittelständischen Zulieferer, von denen es in Deutschland nicht gerade wenige gibt, leben nach wie vor in dieser Komfortzone”, weiß der Mittelstandsexperte Marco Petracca. Man agiert nicht, man reagiert.

Und kommt kein Auftrag, erhöht man den Vertriebsdruck. Die digitale Transformation gefährdet aber diese Komfortzone. Denn Kunden haben heute dank Internet einen viel umfassenderen Einblick in das Marktgeschehen und sind nicht mehr auf den klassischen Vertriebsweg angewiesen. Die Folge: Aufträge stagnieren, Preiskämpfe werden härter, die Wettbewerber potenzieren sich um die Anzahl der Suchmaschineneinträge, sagt Petracca.

Was wäre es, wenn wir die Eigenheiten zweier unterschiedlicher, sich aneinander reibender Ökosysteme vereinen würden? Ein Denkansatz, den Petracca auf der Bonner Next Economy Open am 9. und 10. November in zwei Sessions mit Unternehmern, Nerds, Hackern und Bloggern diskutieren will.


Image (adapted) „Google Food“ by brionv (CC BY-SA 2.0).


 

ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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2 comments

  1. Vorsicht, das Google-Modell ist nur für wenige Unternehmen geeignet.

    Das Prinzip “Viele Kugeln abschießen und hoffen, dass einige treffen”, können sich nur diejenigen leisten, die das nötige Kapital haben.

    Die Kunden werden dabei zu Versuchskaninchen. Wenn ihnen das klar wird, bin ich gespannt, was dann passiert. Noch glauben viele daran, dass Google vieles für ihr persönliches Wohl tut.

    Was ist, wenn das neue Geschäftsmodell von Google weniger mit dem von Berkshire Hathaway (dem Unternehmen von Warren Buffett) zu vergleichen ist, wie es jetzt einige Wirtschaftstitel propagieren, sondern eher mit dem „integrierten Technologiekonzern“ den die Daimler-Benz AG zwischen 1984 und 1995 anstrebte?
    Auf der Daimler-Homepage heißt es dazu inzwischen: „Die den damaligen Trends in Wirtschaft und Wissenschaft entsprechende Diversifizierung erbrachte allerdings nicht die erhofften Ergebnisse.“
    Nebenbei ist Buffetts Unternehmen interessanterweise bei Internet-Unternehmen eher zurückhaltend.

    Netzökonomie wird nur funktionieren, wenn langfristig alle davon profitieren. Gerade bei Google bin ich da nicht so sicher. Aber ich lasse mich gerne vom Gegenteil überraschen.

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