Generation Moderat

In unseren bildungsbürgerlichen Realität wird die öffentliche Auslebung exzessiver Charakterzüge nur bei Kleinkindern und einem enggezirkelten Künstler- und Intellektuellenkreis tatsächlich und vollständig toleriert.

Denn es dämmert dem Heranwachsenden schnell, dass jeder deutlich publizierte Gefühlsausdruck in den wenigsten Fällen mit Wohlwollen bewertet wird. Schreien, Fluchen und Trotz führen zu ersten unangenehmen Sanktionen, verzwirbelte Verrücktheiten zu sorgenschweren Mienen und ein zu schnell reifendes Selbstbewusstsein zu hinterhältigen Unterdrückungsritualen.

Das hat zur Folge, dass wir allesamt und moderat weichgespült durch die Strassen wandern. Man hat so viel im Kopf und kann es doch nicht ausdrücken. Man hat so viel im Herzen und kann es doch nicht zeigen. Man hat so viel zu tun und weiss nicht, wie es anzufangen ist…

Und wenn die Unruhe in unserer Birne fast hyperventiliert, dann drängt es förmlich aus einem heraus und sprudelt aus den Ohren und es passiert das Unvermeidliche. Totaler Kontrollverlust in der Zentrale. Exzesse jetzt, sofort und überall. Wer eine Knarre zur Hand hat, wird um sich schiessen, wer eine Tablette zur Hand hat, wird sie schmeissen und wer auf einer Brücke steht, der springt.

Und wer Platz hat, der wird schreien: „WAS WOLLT IHR DENN ALLE VON MIR? IHR PENNER. KÜMMERT EUCH DOCH UM EUREN EIGENEN KRAM,VERDAMMT. IMMER SOLL ICH MÜSSEN, WOLLEN, WISSEN, FÜHLEN UND ES PASSIERT SOWIESO NIX ODER ALLES. ENTWEDER, ODER. ALLES EIN DÄMLICHES WÜRFELSPIEL. MACHT DOCH MEINETWEGEN EINFACH ALLE NUR LIEBE UND TUT DAS,WORAUF IHR LUST HABT. DEN REST DER WELT INTERESSIERT ES SOWIESO EINEN PUPS UND DANN HAT MAN EINE WEILE WENIGSTENS WIRKLICH WIRKLICH WAS GEHABT VOM TAG.“

Keine Sorge, dank unserer allgemeinen und weitreichenden moderaten Erziehung sind wir in ein paar Tagen wieder back to basic. Aber man ist zwischendurch mal so richtig schön ausgeflippt. Man sollte lernen, diese ausgeflippte, wahnsinnige Energie zu kanalisieren, zu trichtern und in absolut Produktives und Positives umzuwandeln. Eine Stilberatung für den persönlichen Hulk sozusagen: „Nein, dieses verkniffene, verklemmte Grün steht ihnen wirklich nicht zu Gesicht, verehrter Herr Hulk.“

Wie gut wäre das denn…

 lebt als freie Journalistin in Hamburg. Nach ihrem Studium der Deutschen Sprache und Literatur und der Politischen Wissenschaft an der Uni Hamburg widmet sie sich dem freien Schreiben und ungewöhnlichen Gedanken. Privat auch in ihrem Blog FREISTIL.


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2 comments

  1. Ein schöner, berrührender Text. Gratuliere! Ja, wenn man diese Unruhe, die in der Birne hyperventiliert, in tanzende Lebenslust und in: „Ach, ihr könnt mich alle mal kreuzweise …“ ummünzen könnte – nicht zerstörerisch, sondern lustvoll und frei – was wäre da nicht alles gewonnen! Statt dass ich mich von der Brücke stürze, drehe ich meinem Chef eine lange Nase, statt das ich eine Tablette schmeisse, schmeisse ich die Hörigkeit aus meinem Leben, statt dass ich um mich schiesse, bekleckere ich die Welt mit Farbe – oder so ähnlich.

    Oder ist das ebenso sehr Irreleitung meiner verzweifelten Unruhe?

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