Die Welt erklärt in drei Strichen

…ist der Titel des Buches von Mikael Krogerus und Roman Tschäppeler, das am 29. September im Kein&Aber Verlag seine Premiere feiert.

Schon allein der Titel ließ mich über die Vereinfachung vielschichtiger Verhältnisse nachdenken. Das Internet wurde in den letzten Jahren von einfachen, meist bildlichen Darstellungen komplexer Sachverhalte geradezu überschwemmt. Meist sind es sogenannte „Infographics“ die Euphorie und Frust zugleich auslösen. Die informativen Bilder, die Text und Zeichnung vereinen, sind regelrecht zu Spam avanciert…


Fotoquelle (Ausschnitt): Krogerus&Tschäppeler (2011): Die Welt erklärt in drei Strichen, Zürich: Kein&Aber, S. 16f.
© Kein&Aber Verlag

In dem Buch von Krogerus und Tschäppeler visualisieren die Autoren 50 praktische Modelle – einfache Strichzeichnungen, die unsere Welt erklären. Zum Beispiel: Warum Justin Bieber der neue Michael Jackson ist? Der King of Pop ist wiederum durch einen Pfeil mit Jesus verknüpft. Man beachte: In der Mathematik symbolisiert der Pfeil kausale Zusammenhänge. Auf anschauliche Weise erklären sich die grundlegenden Umwälzungen der letzten Jahrzehnte in dem Buch.
Um den Leser nicht zu langweilen und dem Zweifel vorzubeugen, dass die Welt nicht mit ein paar Pfeilen zu erklären ist, sind die kausalen Begriffsketten etwas unübersichtlich auf eine Seite gedrängt. Sie ergeben ein feinmaschiges Netz, das den Eindruck einer handfesten, aber komplexen Theorie erzeugt.
Frage ich mich also: Wie einfach darf die Vereinfachung sein?

Einfacher geht’s nicht

Genis Carreras aus London macht es sich extrem einfach. Mit ein paar prägnant reduzierten Symbolen veranschaulicht er die Bedeutung ganzer philosophischer Konzepte. Auf die Frage, die über Jahrtausende, seit dem Sündenfall in der Bibel, Menschen beschäftigt: „Was ist der Freie Wille?“, antwortet Carreras mit kleinen blauen und weißen Dreiecken.


Bildquelle: http://www.geniscarreras.com/philosophy.html
© Genis Carreras


Bildquelle: http://www.geniscarreras.com/philosophy.html
© Genis Carreras


Bildquelle: http://www.geniscarreras.com/philosophy.html
© Genis Carreras

Mir drängt sich die naive Kinderfrage auf, die meist nicht Dinge vereinfacht, sondern eine nicht enden wollende Lawine von weiteren Fragen auslöst: „Warum?“

Die Ideologie der Reduktion

„Just for fun“, würde vielleicht der junge Katalanische Grafiker sagen, der mit seinen geometrischen Figuren den Stock Taylor Benson Graphic Design Award 2011 gewann.
Als im Klassenkampf noch kein Gedanke an eine Spaßgesellschaft verloren wurde, stellte Gerd Arntz in seinem Holzdruck „Arbeitslose“ schwarzweiss die Dekadenz des Großbürgertums wartenden Arbeitslosen gegenüber. Eine Reduzierung der Welt auf Proletarier und Großbürgerliche ganz im Sinne des sozialistischen Zeichners. Dass der damaligen Gesellschaft auch andere Bevölkerungsschichten angehörten, lässt sich nur vermuten.
Die Reduktion der Wirklichkeit geht also Hand in Hand mit einem Zwecke oder einer Ideologie. Während bestimmte Dinge weggelassen werden, finden andere in den Zeichnungen besondere Aufmerksamkeit.

Dass geometrische Figuren uns die Welt erklären, ist so alt wie die Höhlenmalerei der Chauvet-Höhle in den französischen Alpen. Im Internetzeitalter scheinen sie aber eine neue Bedeutung zu bekommen. Infographics erleben einen Boom wie nie zuvor. Man beachte, dass auch auf netzpiloten.de die interessantesten Infographics präsentiert werden. Ist das eine Antwort auf die wachsende Komplexität im Netz?

Die Komplexität des Internets

Die Komplexität unserer Realität hält Einzug ins Internet. Die Zeiten, in denen eine Suchmaschine eine Suchmaschine ist, sind vorbei. Google Plus, Facebook & Co. integrieren jede erdenkliche Funktionalität, um die Nutzer zu binden. Sie bilden Systeme, um einen Begriff von Niklas Luhmann zu verwenden, in denen ich mich wie im Alltag routiniert zurecht finden kann. Sie reduzieren das Wirrwarr im Internet auf ein Maß, mit dem ich zurecht komme.
Ich habe gelernt, Nachrichten zu verschicken, Kommentare zu schreiben und zu zeigen, dass mir etwas gefällt. Schon vor Jahren zeigten Online Studien, dass die Internet-Nutzung in hohem Maße habitualisiert ist. Es werden gezielt einzelne Adressen aufgerufen. Um die Komplexität des Internets zu reduzieren, legen sich Nutzer ihr individuelles „Koordinatensystem“ für das Netz zurecht. Dennoch finde ich, die Politik mal ausgenommen, nirgendwo so viele Vereinfachungen für komplizierte Sachverhalte wie im Internet.

Google-Fetisch


Bildquelle: http://firstfloorunder.com/2011/02/typodesign_strips-michael-jackson/
© H-57

Ob ebooks über das schnelle Geld oder Infografics, die mit wenigen Strichen die Biographie berühmter Persönlichkeiten nachzeichnen, im Internet hat sich ein weiterer, einzigartiger Nutzen der Komplexitätsreduzierung entwickelt.
Sogenannter Spam sammelt sich in virtuellen Bergen an. Der Internetmüll hat nur einen Zweck: Backlinks, die bei Google zu einer lukrativen Positionierung führen. Durch das Teilen und Verteilen von Infographics im Web wird mit jeder Grafik ein Link gesetzt.
Wie bei einem Fetisch im Sinne von Karl Marx verlieren Infographics ihren eigentlich Sinn. Ihr Zweck, komplexe Themen überzeugend zu visualisieren, wird allein auf den Tauschwert reduziert, der mit der „Google-Währung“ Backlinks gemessen wird. Die Frage, wer profitiert von einer Komplexitätsreduktion bezieht sich also nicht mehr auf den Inhalt, sondern auf die Infographic als Objekt an sich.

Fazit

Es bleibt, der Mensch versucht, sich zurecht zu finden. In der Realität wie im Internet verringern Systeme Komplexität. Wichtig bleibt die Frage: Wer zieht daraus den größten Nutzen?
Vereinfachte Darstellungen komplexer Sachverhalte sind schön und gut, doch zu fragen bleibt, zu welchem Zweck sie erstellt worden sind – sowie, was die Bilder weglassen und was sie betonen.

  gestaltet Videoclips für Bücher auf litclip.de. Zudem schreibt er Drehbücher und journalistische Texte. Sein Studium absolvierte er in den Medienwissenschaften, der Soziologie und der Filmdramaturgie.


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