Brave New 1984

Es sind die zwei Bücher, die so ziemlich jeder gelesen haben wird, der irgendwann mal irgendwas mit Anglistik zu tun haben wird: „1984“ und „Brave New World“. Schöne Stücke, beide. Beides Dystopien, die von einer dunklen Zukunft ausgehen, in der Mensch Sein ungleich schwer geworden ist. Doch trotz dieser Gemeinsamkeiten sind es zwei Werke, die man kaum gegeneinander ausspielen kann.

Wenn ihr Angst vorm großen Bruder habt…

Genau das ist jedoch der Eindruck, den man bekommen kann, schaut man sich die politische Diskussion an. Die Überwachungskritiker warnen, dass „1984“ im Jahr 2010 viel näher ist als es 1984 war, wenn Online-Durchsuchung, SWIFT-Abkommen und die sich am Horizont aufbrauende Vorratsdatenspeicherung 2.0 den Bürger gläsern machen. Dem widersprechen die anderen, wie der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU), das wolle ja niemand.

Wenn andere von „1984“ sprechen, schwenke ich zu „Brave New World“

Der rhetorische Move, der dann folgt, ist noch nicht alt und wird in ähnlicher Form so oft gehört in letzter Zeit, dass man glauben kann, irgendjemand hätte ihn als Style Guide für Redenschreiber festgelegt. Er heißt: schnell rüberschwenken zu „Brave New World“ und Google, Facebook, Apple angreifen. Die Seite verlagern, würde der Fußballtaktiker sagen. Klar trifft da nicht alles zu – Google schafft kein Kastensystem und möchte bestimmt nicht die natürliche Fortpflanzung abschaffen. Aber „Brave New World“ kennt nur eine einzige Regierung, und das mit der „Weltregierung Google/Facebook/Apple/irgendwas“ findet sich immer wieder in den Diskussionen um die Datensammlerei der Unternehmen. Friedliche, langfristige Ausbreitung des Konsums hilft dabei, die eigene Machtposition zu stärken – auch hier wie in „Brave New World“. Und wenn negative Gefühle hochschwappen, rudert man halt schnell in seinen AGBs zurück – so als würde man seinem Volk Soma geben, damit es ruhig bleibt.

 

… packen wir schnell „Brave New World“ aus.

Das alles ist nicht dumm, besonders nicht in seiner gemäßigten Form. Google arbeitet nicht an einer Weltregierung wie der Staat in „Brave New World“, sondern an der Maximierung des eigenen Gewinns – aber das bedeutet nicht, dass man seine Praktiken nicht hinterfragen sollte, und die gewachsene Sensibilität für das Thema Datenschutz auf Seiten der Politik ist eindeutig zu begrüßen. Deutschland wird andererseits nicht zum totalitären Polizeistaat, wenn die Verbindungsdaten aller Bürger auf Vorrat gespeichert werden – dazu gibt es nach wie vor zu viele Gesetze und demokratisch gewählte Regierungen in diesem Land. Aber genauso falsch wäre es zu verkennen, dass wir einen Schritt in Richtung „1984“ tun, wenn wir jedem Bürger unabhängig eines konkreten Verdachts über die Schulter schauen.

Dem liegt eine interessante Frage zu Grunde: Welche Dystropie ist eigentlich die wahrscheinlichere? Werden wir eher von „1984“ überrollt, in dem unser Privatleben permanent den Zugriffen der Öffentlichkeit ausgesetzt ist, oder begeben wir uns eher freiwillig in die „Brave New World“, weil sie ja so schön und vielversprechend ist? Damit verknüpft ist die ganz praktische Frage, wie man sich selber positioniert, bei welchen Anwendungen man auf welche Dienste und Technologien setzt, und wie wir einen verantwortungsvollen Umgang damit erreichen und an andere weitergeben können. Eines aber dürfte klar sein: Keine der Dystropien ist erstrebenswert. Wer vor „Brave New World“ warnt, darf nicht auf „1984“ bauen. Der Schwenk zu den anderen, vor denen man sich fürchten muss, ist daher vor allem eines: ein mediales Manöver, um von den Widersprüchen in der eigenen Argumentation abzulenken.

ist Medienwissenschaftler und beobachtet als Autor („Grundkurs Gutes Webdesign“) und Berater den digitalen Wandel. Seine Themenschwerpunkte sind User Experience, anwenderfreundliches Design und digitale Strategien. Er schreibt regelmäßig für Fachmedien wie das t3n Magazin, die Netzpiloten oder Screenguide. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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