Vom Recht auf Vergessenwerden profitieren die Mächtigen

Zuerst verstanden viele, auch Medien, die Nachricht als eine gute: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat befunden, dass Suchmaschinen den Nutzern bestimmte Dokumente nicht den Internetsuchern anzeigen dürfen, wenn dort benannte Personen dem widersprechen. Doch nach ein paar Tagen Nachdenken „kommt nun der Kater„, meint die „Zeit“. Die Nachwirkungen könnten einige Zeit anhalten.

Unter der Maxime des Datenschutzes schreibt das EuGH vor, dass Suchmaschinen nach Aufforderung mit Namen verbundene Suchergebnisse nicht mehr präsentieren dürfen, wenn die der betreffenden Person missfallen. Kommen die Suchmaschinen dem Veto nicht nach, ist Beschwerde beim Datenschützer möglich, anschließend der Gang vor die Gerichte.

Das Urteil hat eine Menge Konsequenzen, ist aber mit seinen schwammigen Formulierungen nicht zielweisend. So nimmt es Informationen für „ausschließlich journalistische Zwecke“ aus, definiert den Begriff aber nicht, obwohl Journalist keine geschützte Berufsbezeichnung ist und die Tätigkeit durch Bloggen und „YouTuben“ inzwischen wohl weitgehender zu interpretieren ist. Forschungsinteressen genießen keine akademischen Freiheiten. „Personen der Zeitgeschichte“ können sich auch nicht wehren, aber wer zählt zu diesem Kreis? Es ist nicht einmal definiert, was „inadäquate, irrelevante oder nicht länger relevante“ Informationen sein sollen, die dem Vergessen anheimfallen dürfen.

Wie soll ein Suchmaschinenbetreiber den Anforderungen nachkommen?

Die Frage ist schon, wie ein Suchmaschinenbetreiber den Anforderungen nachkommen soll. Der Einfachheit halber alle positiv bescheiden und Links entfernen? Gar keine Suche nach Namen erlauben? Wie Journalisten und Personen der Zeitgeschichte klassifizieren? In jedem Fall wäre eine Menge Informationen im Internet ohne bestimmte Namen nicht mehr oder nur noch sehr schwer zu finden. Für die große Masse der Nutzer wäre das Internet auf jeden Fall weit weniger frei. Nicht weniger schlimm ist, dass Datenkraken wie Google nun auch noch zu Zensurämtern werden.

Wikipedia-Gründer Jimmy Wales fragt: „Wann wird ein europäisches Gericht verlangen, dass Wikipedia einen Artikel mit wahren Informationen zensiert, weil er einem Individuum nicht gefällt?

Die Frage ist auch, wer denn künftig sein „Recht auf Vergessenwerden“ durchsetzen wird. „Sünden“ der Vergangenheit möchte jeder tilgen, besonders gerne möchten das jene Personen, deren Karrieren durch ihre Taten von gestern einen Knick bekommen haben oder könnten. Mark Stephens, britischer Anwalt und Aufsichtsratsvorsitzender der University of East London, prophezeit im „Guardian“: „Die Individuen mit der Motivation und den Ressourcen, Beschwerden einzubringen, werden wahrscheinlich jene politischen und unternehmerischen Eliten sein, über die das öffentliche Interesse ungehinderte Suchergebnisse einfordern sollte.

Es geht nicht um Vergessen, Daten werden nicht gelöscht. Informationen werden nicht mehr zugänglich.

Sascha Lobo hat in seinem Blog auf „Spiegel Online“ festgestellt, dass dieses EuGH-Urteil nur an der Oberfläche von Datenschutz kratzt.

Die Probleme liegen auf einer übergeordneten Ebene und betreffen die gesamte digitale Sphäre, Digitalkonzerne, Geheimdienste, Staaten. Die Zusammenführung und Auswertung von persönlichen Daten, insbesondere Metadaten, sind ein neuer Machtfaktor von nie gekannter Tiefe… Ein substanzieller Fortschritt hin zu mehr Datensouveränität müsste sich auf diese den Nutzern verborgene Datenverarbeitung beziehen. Und nicht nur auf die Auffindbarkeit der Ergebnisse für die Öffentlichkeit. In der Datenpolitik geht es um Macht. Und Macht hat, wer Metadaten hat – unabhängig davon, ob sie der Öffentlichkeit zugänglich sind oder nicht.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf OSB-Alliance.de.


Image (adapted) „Never Forget by 616“ by MsSaraKelly (CC BY 2.0)


ist freiberuflicher Journalist und Pressefotograf in Kelheim. Der Diplom-Soziologe und gelernter Journalist war einst Redakteur bei der "Computerzeitung" und leitender Redakteur bei der "Computerwoche". Seit Ende der 90er Jahre ist er auf neue Open-Initiativen und Open-Source-Software spezialisiert. Schmitz engagiert sich aktiv in der Open Source Business Alliance. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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