Einen digitalen EU-Binnenmarkt gibt es nicht

Von EU-Kommissar Günther Oettinger hat man zwar von Anfang an nicht viel erwartet, aber doch einige Hoffnung an ihn geknüpft. Eines seiner Projekte ist es, den digitalen europäischen Binnenmarkt voranzutreiben. Die absurde Situation in Europa heute ist unter anderem, dass es einfacher ist, sich irgendeinen Gegenstand aus Hongkong zu bestellen, als ein digitales Angebot aus dem Nachbarland zu nutzen. Wir sind ein in 28 Enklaven zersplitterter Kontinent. Es herrscht eine aberwitzige Situation: In der digitalen Welt haben wir Grenzen oder errichten neue, die wir im Analogen schon seit Jahrzehnten eingerissen haben.

Mr. Ansip, tear down this wall

Der fehlende digitale Binnenmarkt in Europa ist aber nicht einfach nur ein Wunsch der netflixenden Avantgarde oder ein feuchter Traum der eGovernment-Industrie. Die existierende Zersplitterung kostet uns Milliarden Euros und verhindert wirtschaftliches Potential. Tausende Arbeitsplätze und mögliche Wertschöpfung passieren deswegen nicht.

Das ist ein ernst zu nehmendes Problem. Start-Ups haben einen immensen Nachteil in Europa, denn sie können nicht aus dem Stand einen großen Markt erreichen, wie es ein Rivale in den USA kann, der unmittelbar einen ganzen Kontinent anspricht. Auch nach Überwindung der sprachlichen Hürde bleiben immer noch 28 unterschiedliche winzige Länder zu erobern – ein Aufwand der nicht lohnt. Start-Ups versuchen lieber den Sprung ins Silicon Valley.

Auch andere Freiheiten leiden darunter: Unsere nationalen Ausweissysteme sind nicht zueinander kompatibel, Gesundheitskarten, Gewerberegister und eGovernment-Dienste sind jenseits unserer Grenzen wertlos. Es ist, als hätte der europäische Gedanke den Sprung vom Fax ins Internet nicht geschafft. Dabei wäre es ein geniales Leuchtturmprojekt, diesen Kontinent digital genauso zu vereinen wie analog.

Muss es erst noch schlimmer werden?

Widerstand gegen mehr Binnemarkt-Harmonisierung kommt aus verschiedenen Ecken. Die Verwerterlobby wehrt sich mit Händen und Füßen gegen ein Aufweichen des Territorialprinzips ihrer Lizenzsysteme und Hollywood ist zu blöd, selbst Druck auszuüben, um gleich 28 Länder in einem Rutsch bedienen zu können. Das liegt in erster Linie an der auch 2016 noch sonderbaren Existenz des Systems des linearen Fernsehens. So lange es dieses gibt, bleiben die Unterhaltungslizenzen wirtschaftlich gesehen nach wie vor im alten Konstrukt eben lukrativer.

Dem Starrsinn der Europäer ist es außerdem zu verdanken, dass wir außer ein paar Ausnahmen kaum europaweite Fernsehsender haben. Potpourri statt Wettbewerbsfähigkeit: Was für französische Winzer gilt, gilt leider auch für die europäische Filmindustrie, also wehrt man sich gegen Veränderung.

Nicht nur tut sich trotz (oder wegen) Oettinger wenig beim digitalen EU-Binnenmarkt, es passieren sogar ausgerechnet gegenläufige Entwicklungen. Wir haben zwar keinen digitalen EU-Binnenmarkt, aber die Einschnitte in die Presse- und Meinungsfreiheit, die nun “Recht auf Vergessenwerden” genannt werden, finden bald europaweit Anwendung. Diese Zensur, zusammen mit zunehmender digitaler Überwachung und Vorratsdatenspeicherung, werden sich viel schneller digital europaweit durchsetzen als irgendwelche echten Vorteile für die Bürger.

Die windelweichen Regeln zur Netzneutralität haben auch nicht viel Chancen, immerhin ist der Kontinent von Oligopolen alter Staatskonzerne geplagt (die so eng mit unseren Regierungen verstrickt sind, dass eine unbefangene Regulierung nicht stattfindet), echte Innovation beim Ausbau von Breitbandinternet ist also genauso fern wie eine in diesem Zusammenhang als vergleichbar wünschenswert anzusprechende Harmonisierung beim Zug- oder Energienetz.

Digitale Schlagbäume

Interessante Beispiele, warum im Hintergrund aber dennoch Marktzwänge zu Harmonisierung führen könnten, gibt es durchaus. Amazon hat mit Sicherheit schon ein einheitliches Dot-EU-Angebot in der Schublade. Denn was braucht so ein Handelsriese denn schon umstellen, es muss ja lediglich die Sprache der Oberfläche und die Vorauswahl an Produkten angepasst werden.

Eine Konsolidierung bei den Fernsehsendern ist ebenso wenig utopisch. Ob Bertelsmann, Sky, Mediaset, Vivendi oder Pro7Sat1, der europäische Fernsehdschungel ist längst von wenigen großen Konzernen dominiert, denen eine digitale Harmonisierung langfristig eher zu Gute kommt. Entsprechender Wählerdruck vorausgesetzt, würde dies auch zu einer Öffnung der staatlichen Rundfunksysteme führen. Es macht in den meisten Fällen keinen Sinn, dass deren Angebote online wie offline nicht jenseits der Landesgrenzen funktionieren können oder sollen, immerhin sind diese auch meist noch durch Steuern (England) oder Zwangsabgaben (Deutschland) finanziert, für die die Zahler auch im Urlaub etwas haben möchten.

Wir sind Lichtjahre davon entfernt, annähernd so etwas wie einen digitalen EU-Binnenmarkt zu haben. Einige Entwicklungen bringen diesen schleichend zwar voran, aber in der Regel nicht dort, wo es notwendig und sinnvoll wäre. Die Komplexität digitaler Politik und Wirtschaft erweisen sich als fast unüberwindlich. Der lange Kampf um die europäische Datenschutzgrundverordnung zeigt, dass es bei Internetregulierung fast genauso wenig Konsens gibt wie in der Migrationspolitik. Das Ergebnis beim Datenschutz ist sehr fragwürdig – manche nennen es eine Katastrophe. Die in Kürze startende Kampagne der Europaabgeordneten Julia Reda zur Abschaffung des Geoblocking ist ein gutes Signal, aber wird, denke ich zumindest, genauso erfolglos sein wie ihr Papier zur Urheberrechtsreform.


Image „Barrier“ by HolgersFotografie (CC0 Public Domain)


ist ehemaliger Geschäftsführer des Internet & Gesellschaft Collaboratory. Aktuell ist er Gastdozent an der Willy Brandt School of Public Policy, und berät verschiedene Organisationen in digitalpolitischen Fragen. Privat betreibt er eine Vielzahl von Onlineportalen über interessante Filmgenres.


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