Taking Charge – von dem Versuch den Regenwald zu vernetzen

Der Fortschritt macht selbst vor den entlegensten Orten der Welt keinen Halt mehr. Jetzt soll auch der brasilianische Regenwald ans Netz gehen.

Denken Leute an den brasilianischen Regenwald, dann assoziiert man damit zivilisationsfreie Gegenden, undurchdringlichen Urwald und den reißenden Amazonas. Man denkt an menschenleere Gebiete. Völlig abgeschnitten, von der industrialisierten Welt. Höchstens bewohnt von ein paar Ureinwohnern, die seit Jahrhunderten kaum bis gar nicht am technologischen Fortschritt unserer Gesellschaft teilnehmen. Wenig interessant für die Technikindustrie oder anderen Marktteilnehmern.

Es gibt aber auch Menschen, die das anders sehen und die glauben, dass auch der brasilianische Regenwald mit seinen vergleichsweise kleinen Gemeinden, ein gewisses Potenzial in sich trägt, um am technologischen Fortschritt partizipieren zu können. Einer dieser Menschen ist Jeffrey Mansfield, ein Master-Student an der Harvard University Graduate School of Design, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die rund 500.000 Indigos und zahlreichen weiteren Bevölkerungsgruppen im Amazonasgebiet mit Hilfe von aktuellen Innovationen stärker zu vernetzen.

Mansfield ist Teil der Luz Portátil Brasil Initiative, die versucht die Bevölkerung mit solarbetriebenen Netzteilen auszustatten, die fähig sind android-basierte Smartphones in weniger als drei Stunden komplett zu laden. Der Harvard-Student selbst, hat das damit in Verbindung stehende Projekt „Taking Charge“ ins Leben gerufen, dass zu den Solar-Pads außerdem digitale Toolkits, eine Handvoll Apps und eine Betriebsanleitung für die Nutzung sinnvoller Applikationen mitliefern soll. Derzeit sammelt er Spenden für dieses Erweiterungspaket auf der Crowdfunding-Plattform Kickstarter.

„Taking Charge“ hat einen interessanten Ansatz. Jeffrey Mansfield glaubt nämlich, dass das Smartphone die Antwort seiner Generation auf das Schweizer Taschenmesser ist. In einem Gespräch mit dem US-amerikanischen Netzthemen-Blog Mashable, meint er: „A smartphone is a digital multi-tool with a plurality of uses; uses that store information, facilitate communication, and allow citizens to create and take charge of their own representation and development […].The smartphone is our generation’s answer to the Swiss Army Knife“.

Um seiner Vision Auftrieb zu verleihen, hat Mansfield gleich ein paar clevere Apps mitgeliefert, die die Einwohner davon überzeugen sollen, wie nützlich das „Digitale Schweizer Taschenmesser“ sein kann. So wird in der geplanten Taking-Charge-Gebrauchsanleitung, den Bewohnern beispielsweise erklärt, wie man mithilfe von Kite-Mapping-Apps Wasserstände und Flussläufe beobachten kann, um die Gezeiten und die Strömungen des Amazonas besser beurteilen zu können. Dabei werden Smartphones an einen Drachen befestigt, die dann wiederrum aus gewisser Höhe Bilder schießen. Anschließend kann man mit der jeweiligen App, diese Bilder simple zu einem Ganzen zusammenführen. Eine nützliche Technologie, um detailgenaue Karten der Umgebung selber extrem kostengünstig zu produzieren.

Mit im Sortiment ist auch ein Arten-Katalog, der die regionale Flora und Fauna aufzeigt. Die Crowdsourcing-App bietet eine Kollektion von geo-markierten Bildern, die die Vielfalt der hiesigen Bio-Diversität informativ zusammenführt. Ein echter Wissensspeicher also, der sich ständig erweitern und nicht zuletzt auch als Unterrichtsmaterial für die bildungsarmen Regionen herhalten kann. Um Perspektiven aufzuzeigen, soll Taking-Charge auch Geschichten lokaler Unternehmer vorstellen, die den Nutzern zeigen, wie Smartphones und die Solar-Pads dazu beitragen, nachhaltige Geschäftsmodelle zu realisieren. So wird unter anderem ein Imker berichten, wie er die Technologie in seinem Konzept erfolgreich integriert hat.

Bleibt die Frage, ob und wie stark das Amazonasgebiet überhaupt flächendeckend Internetsignale empfangen kann? Mansfield antwortet darauf mit seinen eigenen Erfahrungen. Auf seinen Reisen mit Luz Portátil Brasil durch den brasilianischen Regenwald, war er erstaunt, wie gut ausgestattet die Region mit 3G und GSM inzwischen ist: „Some of the further villages remain out of 3G range, but within reasonable distance to GSM range […].While I was there on the river, I didn’t feel disconnected from the world. I was actually able to send emails and post on Facebook“.

Tatsächlich werden derzeit große Anstrengungen unternommen, um das Areal rund um den Amazonas stärker an den Rest der Welt zu binden. Im September hat beispielsweise Ericsson im Rahmen des Extreme Project Brazil zwei Signalmasten gespendet, die insgesamt 25 Millionen Amazonas-Bewohner mit 3G ausstatten sollen. Man möchte dadurch den Menschen einen besseren Zugang zur Bildung und zum Gesundheitsmanagement geben. Für viele war vorher der Kontakt zur Außenwelt höchstens über ein Post-Boot hergestellt.

Diese Entwicklung kommt Jeffrey Mansfield sehr gelegen. Denn neben seinen Vorteilen, die er der Amazonas-Bevölkerung im Rahmen des Taking-Charge-Projektes bieten möchte, ist es ihm außerdem ein sehnlichster Wunsch, den Menschen dort auch politisch mehr Möglichkeiten zu bieten. Der Zugang zum Internet soll den Regenwald-Bewohnern auch eine Stimme geben, wenn man über die Probleme ihrer Region spricht. Dazu sagt er ferner: „Interlocutors, foreigners and outsiders continue to speak for the region and its inhabitants on issues ranging from energy, agriculture, biodiversity and conservation. Largely missing from this global conversation is the voice of the people that actually live in the forest“.

Da Jeffrey Mansfield selber gehörlos ist, dürfte der Wunsch nach Kommunikation und das Bedürfnis der Bevölkerung gehört zu werden, für ihn sicherlich umso nachvollziehbarer sein. Er selbst sagt dazu in seinem Projektvideo: „Now, imagine for a moment what it’s like to have someone else speak for you. The reality is part of the deaf experience, as we use interpretors, family members and advocates to voice our concerns, needs, issues and opinions – not too different from the inhabitants of the Amazon“.

Die Segnungen der digitalen Welt, könnten nun also auch bald die entlegensten Orte der Erde erreicht haben. Die Vorstellung des isolierten Regenwalds wäre dann passe. Wie stark dieser Fortschritt dann wirklich Kultur und Wohlstand stiftet, wie es die Visionäre meinen, bleibt jedoch abzuwarten. Denn wie der deutsche Ministerpräsident a.D. und Unternehmensberater Björn Engholm schon sagte: „Es ist nicht sicher, ob es besser wird, wenn es anders wird; aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll“.


 


schreibt seit 2011 für die Netzpiloten und war von 2012 bis 2013 Projektleiter des Online-Magazins. Zur Zeit ist er Redakteur beim t3n-Magazin und war zuletzt als Silicon-Valley-Korrespondent in den USA tätig.


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2 comments

  1. Lieber Herr Weck!
    Das Wort ‚taubstumm‘ ist ganz fehl am Platz im Bericht ueber Jeffrey Mansfield. Warum muss die Sprechunfaehigkeit angegeben werden?! Genuegt nicht das Wort ‚deaf‘ allein? Man benutzt anderswo nur ‚deaf‘, nicht ‚deaf-mute‘. Wir bezeichnen Hoerende, die nicht gebaerden koennen, auch nicht ‚hoerend-stumm‘. Darob weg mit dem Wort ’stumm‘, egal ob man spricht oder nicht. Kommunizieren geht auch ohne Sprechen, viel besser so in den Amazonas. Taube Menschen haben keine Kommunikationsprobleme dort im Vergleich zu Hoerenden.

    Bitte vermeide fortan das diskriminierende Wort ’stumm‘ oder ‚tubstumm‘, weil es vollkommen unnuetz ist!

    Hartmut
    „Ich bin taub, aber nicht meine Ohren“

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