Was uns Schachspieler über Intelligenz und Sachkompetenz beibringen können

Sind Experten intelligenter als Nicht-Experten – oder arbeiten sie nur härter?  Und warum erreichen manche Leute ein hohes Kompetenz-Niveau, wohingegen andere nur auf dem Stand von Amateuren bleiben? Das sind einige der Fragen, die Wissenschaftler im Bereich der Kognitionswissenschaft schon seit über einem Jahrhundert zu beantworten versuchen. Jetzt haben unsere Forschungen über Schachspieler bei der Entwirrung dieses Problems Pionierarbeit geleistet.

Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, der Weg zum Experten in Fachbereichen wie Musik und wissenschaftlicher Forschung sei lediglich eine Sache des „furchtbar großen … Arbeitsaufwands“, um den amerikanischen Gewinner einer olympischen Goldmedaille Jesse Owens zu zitieren. Die anmutende Idee, ein jeder von uns könne durch geflissentliche Übung, Engagement und Entsagung großartige Ergebnisse erzielen, ist tief in unserer Kultur verwurzelt. Malcolm Gladwell stellt in seiner berühmten Fachmonographie „Outliers“ die These auf, dass man mit 10.000 Stunden Übung auf geradezu jedem Gebiet Expertise erlangen kann. Schließlich brachte auch Rocky, die Persönlichkeit aus den berühmten Boxfilmen, Stunden über Stunden mit Training zu, um furchteinflößende Gegner niederzuringen – schlussendlich mit Erfolg.

Andere Wissenschaftler sind hingegen davon überzeugt, dass die Menge an Übung allein individuelle Unterschiede bezüglich der Fachkompetenz nicht aufwiegen kann. Sie sind der Auffassung, dass übergeordnete kognitive Fähigkeiten wie etwa grundlegende Intelligenz oder Erinnerungsvermögen eine fundamentale Rolle spielen, wenn man in seinem Fachgebiet ein Höchstmaß an Expertise erlangen möchte.

Um die Bedeutung von kognitiven Fähigkeiten für Fachkompetenz auszuwerten, haben wir kürzlich zwei Reviews der wissenschaftlichen Fachliteratur über die Bedeutung von kognitiven Fähigkeiten zur Erlangung von Perfektion im Schachspiel durchgeführt. Wir haben das Schachspiel deshalb dafür ausgewählt, weil es eines von wenigen Bereichen ist, das eine quantitative und zuverlässige Maßeinheit für die Leistungsfähigkeit hat (nämlich das Elo-Rating). Aus diesem Grund ist es ein individuelles Areal zur Untersuchung der Aneignung von Fachkompetenz und Expertise.

Tatsächlich hat die Untersuchung der Merkfähigkeit und Situationseinschätzung von Schachspielern zu unserem Verständnis von Expertise auf vielen Gebieten beigetragen, wie etwa Musik und Computerprogrammieren. Laut dem Nobelpreisträger Herbert Simon ist die Tragweite des Schachspiels für die Kognitionswissenschaft vergleichbar mit der Tragweite der Drosophila (Obstfliege) im Fachbereich der Genetik durchaus vergleichbar.

Eindeutige Ergebnisse

Wir haben den Versuch unternommen, zwei einfache Fragen im Bereich des Schachspiels zu beantworten. Erstens: Ist intensives Üben die einzige Voraussetzung dafür, um ein Schach-Profi zu werden? Oder muss man überdurchschnittlich intelligent sein, um dorthin zu gelangen? Zweitens: Sind Schachspieler intelligenter als Nicht-Schachspieler? Die Antworten sind über das Schachspiel hinaus von Bedeutung und befassen sich mit fundamentalen Fragestellungen der Psychologie und Pädagogik.

Das erste Review, in der Zeitschrift Intelligence publiziert, umfasst 19 Studien mit über 1.700 Teilnehmern. Für diesen Zeitschriftenartikel sind wir der Frage nach sämtlichen Resultaten in puncto Erledigung kognitiver Aufgaben durch einen Schachspieler nachgegangen.

Wir berechneten die Gesamtheit an Wechselbeziehungen zwischen Schachfähigkeiten und vier kognitiven Fähigkeiten: Transfervermögen (die Fähigkeit, neue Probleme zu lösen und sich an neue Situationen anzupassen), Ausführungsgeschwindigkeit (beispielsweise die Reaktionszeit), Kurzzeitgedächtnis und Auffassungsvermögen (Anpassung von Sachkenntnis und Fähigkeiten durch die Erfahrung, wie etwa Vokabelverständnis und Leseverstehen). Die Ergebnisse machten deutlich, dass Schachfähigkeiten in signifikantem Zusammenhang mit sämtlichen Maßstäben von kognitiven Fähigkeiten stehen. Kurzum: Je ‚intelligenter‘ der Spieler, desto höher ist sein Niveau im Schachspiel.

Im zweiten Review  (unter Beteiligung von fast 500 Teilnehmern), ebenfalls in der Zeitschrift Intelligence publiziert, haben wir sämtliche Studien miteinbezogen, in denen ein Vergleich der Fähigkeiten, kognitive Aufgaben zu lösen, von Schachspielern und Nicht-Schachspielern vorgenommen werden. Daraufhin haben wir den Gesamtunterschied zwischen Schachspielern und Nicht-Schachspielern berechnet. Schachspieler schnitten bezüglich der kognitiven Fähigkeiten, wie etwa Ausführungsgeschwindigkeit, Planung, Transfervermögen und Erinnerungsvermögen gegenüber Studienteilnehmer, die kein Schach spielten, überdurchschnittlich gut ab.

Anlage vs. Umfeld?

Unsere Ergebnisse sprechen für die Hypothese, dass kognitive Fähigkeiten eine bedeutende Voraussetzung für die Erlangung von Schachspielfertigkeiten sind. Natürlich müssen wir bezüglich der Ausrichtung des Kausalzusammenhangs Vorsicht walten lassen. Es wäre denkbar, dass sich intelligente Menschen mehr zu intelligenten Aktivitäten wie dem Schachspiel hingezogen fühlen, als dies bei der Durchschnittsbevölkerung der Fall ist, oder dass sie schlichtweg schneller lernen.

Aber es ist ebenso möglich, dass die Übung von kognitiv fordernden Aufgaben Leute intelligenter macht. Jedoch erscheint diese letzte Möglichkeit unwahrscheinlicher, zumal neuere Forschungen keinen Kausalzusammenhang zwischen dem Schachunterricht und kognitiven Fähigkeiten ergeben haben. Interessanterweise wurde dasselbe Fehlen eines Zusammenhangs auch in Bezug auf Musikunterricht konstatiert.

Während Übung eine notwendige Komponente für ein erfolgreiches Abschneiden im Schachspiel und auf anderen Gebieten bleibt, ist es schlichtweg nicht ausreichend, um an die Spitze zu kommen. Wenn Individuen mit überdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten bessere Chancen haben, Schachprofi zu werden, ist es naheliegend, dass selbiges auch für andere Gebiete wie etwa Musik, Berufe und Wissenschaft gilt. Übung hilft uns dabei, besser zu werden, aber unsere Verbesserungen sind strengstens an unsere kognitiven Fähigkeiten gebunden. Traurigerweise reicht der gute Wille nicht aus.

Dieser Artikel erschien zuerst auf „The Conversation“ unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Image (adapted) „Dame“ by PIRO4D (CC0 Public Domain)


The Conversation

ist Professor für Entscheidungen und Expertise an der University of Liverpool. Er forscht hauptsächlich in den Bereichen Kompetenz- und Talentpsychologie, die er auch studiert hat auf dem Feld der Brettspiele, Business, Sport u.a.m.


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