Neuland reloaded: Führung, Netzwerke und „Der Spiegel“

Unsere Gesellschaft verpasst die Chancen der digitalen Selbstorganisation zugunsten der alter Ordnung. // von Ole Wintermann

Neuland (Bild: Frank Vincentz [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons)

In diesen Tagen kann man, wenn man sich die Verlautbarungen von Politik und Wirtschaft zur sogenannten Industrie 4.0 (wo sind bloß die Industrie 1.0, 2.0, 3.0 verblieben?) anschaut, den Eindruck bekommen, dass Internet sei als #Neuland tatsächlich, und nicht nur im übertragenen Sinne, erst im letzten Jahr entdeckt worden. Stolz verkünden die Lenker von Unternehmen und Staat nun, sie hätten dieses Neuland entdeckt und dieses Neuland berge unglaubliche Potenziale.


Warum ist das wichtig? Die Digitalisierung unserer Gesellschaft ermöglicht auch neue Formen von Ordnung und Organisation.

  • Das Internet als gesellschaftlicher Raum wird immer noch von den alten Eliten bestimmt und geführt.

  • Unsere Gesellschaft verpasst die sich durch die Digitalisierung ergebenden Veränderungen umzusetzen.

  • Neue Innovationen sind bei althergebrachten Denk- und Lösungsansätzen nur schwer möglich.


Ein Blick auf Google Trends zeigt schnell, dass wir momentan das Entdecken dieses neuen Landes durch den deutschen Mainstream beobachten können. Die von Google angegebenen Zahlen zeigen aber deutlich, dass das Thema vor sieben bis acht Jahren bereits deutlich stärker im deutschen Web nachgefragt worden war (von wem bloß?).

Wie dieses Neuland vor dem Erfassungszeitraum durch Google denn so aussah, schildert uns Felix Schwenzel auf den Seiten der Deutschen Welle unter der Überschrift „Das Internet als Wille und Vorstellung“. Er lässt die Zeit im Netz seit Mitte der 1990er Jahre Revue passieren. Ich empfehle diese Zeitreise, um sich immer wieder vor Augen zu führen, wie jung (in Kategorien des Metaspaces) und zugleich alt (in Kategorien der Netz-Zeit) das Internet bereits ist.

Aus einer eher plattformbezogenen Sicht analysiert David Terrar die letzten 20 Jahre des Internets in seinem Beitrag „20 Years of a World Gone Digital„. Immer wieder erstaunt mich dabei, wie jung eigentlich die Plattformen sind, die uns alle heute weltweit verbinden.

Erste Gehversuche im Neuland

Vergleicht man den Text von Felix Schwenzel mit dem aktuellen Versuch der CSU, Begriffe des Neulandes in den Meatspace zu übersetzen, so zeigt sich, dass die Kompetenzschere an dieser Stelle noch extrem weit geöffnet ist. Vielleicht hat sich die CSU aber auch nur von einer PR-Agentur schlecht beraten lassen. Wer weiß. Vorratsdatenspeicherung, also die anlasslose Massenüberwachung der Kommunikation in einer Demokratie, in dieser paternalistischen Weise dem verschreckten Bürger als proaktive Spurensicherung zu verkaufen, erweckt aber auch den (vielleicht falschen?) Eindruck, die digitale Unwissenheit solle ausgenutzt werden, um entsprechende Überwachungsmethoden ohne viel Widerstand der BürgerInnen umsetzen zu können.

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Dass dieses Ausnutzen der digitalen Unwissenheit hierzulande Methode zu haben scheint, ist inzwischen auch jenseits des Atlantiks bekannt. So schreibt Jeff Jarvis, dass er das technophobe Vorgehen des Print-SPIEGELs inzwischen sogar für gefährlich halte. Der Aussage kann man sich angesichts des Titels der aktuellen Ausgabe, die bereits von der „Weltregierung“ aus dem Silicon Valley spricht, nur anschließen. Aber keine Sorge, liebe Politik, der typische Zuschauer der #Tagessschau ist nicht der typische Leser des Blogs von Jeff Jarvis.

Benötigt #Neuland Führung?

Vielleicht ist es aber auch dieser traditionelle, elitäre, deutsche Ansatz, das Entdecken und Interpretieren von gesellschaftlichen neuen Trends nur den kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Eliten zuzutrauen, der sich mit seinem paternalistischem Charakter schlecht an die digitalen Zeiten anpassen kann und die eigenen Anpassungsprobleme als gesamtgesellschaftliche Anpassungsprobleme missinterpretiert?

Symptomatisch dafür steht eine aktuelle Studie des „Forum Gute Führung„, die sich mit – natürlich – Führung befasst hat. Sie kommt u.a. zu den folgenden Ergebnissen:

  • „Selbst organisierende Netzwerke sind das favorisierte Zukunftsmodell“,

  • „Hierarchisch steuerndem Management wird mehrheitlich eine Absage erteilt“ und

  • „Motivation wird an Selbstbestimmung und Wertschätzung gekoppelt“.

Für diese Studie und das Herausarbeiten dieser Kernaussagen wurden 400 Menschen befragt. Darunter befanden sich 400 „Führungskräfte“ und 0 „Geführte“. Schaut man sich auf Basis dieser Methode die Aussagen an, reibt man sich verwundert die Augen; wer soll denn in einem selbstorganisierten Netzwerk, das Hierarchie ablehnt, „geführt“ werden? #FindedenFehler

Netzwerke statt Herdenführung zur Lösung von Aufgaben

Wie denn ein solches netzwerkbasiertes Vorgehen im Neuland aussehen könnte, beschreibt sehr schön Curtis Ogden in seinem durch biologische, neurowissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Dimension angereicherten Beitrag „Strengthening the Network Within„:

  • Bringe Leute an Orten zusammen, an denen sie vertrauensvoll ihre Ideen teilen können.

  • Sorge für „Übersetzer“ in den Meatspaces, damit die erarbeiteten Lösungen anschlussfähig sind.

  • Achte darauf, dass bisher aus Netzwerkprozessen Ausgeschlossene einbezogen werden.

  • Vermeide jede Art von sozialer oder demographischer Verzerrung der Netzwerkteilnehmer.

  • Baue Brücke und keine Gräben.

  • Produziere Gegen-Narrative zu ausschließenden und individualistischen Argumenten.

  • Achte auf die Offenheit verschiedener Netzwerke untereinander.

Schaut man sich jedoch die übliche Struktur, die Entscheidungsfindungen, die Prozesse und Verantwortlichkeiten in traditionellen Institutionen des Meatspaces an, so wird der Veränderungs- und Anpassungsbedarf in digitalen Zeiten deutlich.

Wird sich dieses Land jemals vom Maschinenbau-Selbstverständnis des letzten Jahrtausends und der damit innewohnenden Logik von „Führung“ und planbarer Innovation lösen können?

Vielleicht sollten wir uns aber auch einfach nur über die zusätzlichen Umsatzmöglichkeiten der Beratungsfirmen freuen, bedeuten diese doch auch die Absicherung von Arbeitsplätzen. McKinsey kalkuliert anscheinend genau damit. Nicht anders ist es zu erklären, dass in einer aktuellen Schwerpunkt-Studie der folgende Satz verfasst wurde, der ein Überbleibsel aus der ersten Internet-Blase an den Börsen von vor über 12 Jahren zu sein scheint: „E-commerce sites that connect businesses to consumers are signature examples of the new platform power“.

Und so etwas kann heute noch als Neuheit über das Neuland verkauft werden…


Teaser & Image by Frank Vincentz (CC BY-SA 3.0)


arbeitet seit 2002 bei der Bertelsmann Stiftung. Zuvor war er an den Universitäten Kiel und Göteborg und bei der Gewerkschaft ver.di tätig. Er baute in den letzten Jahren die internationale Bloggerplattform Futurechallenges.org auf, bloggt privat auf Globaler-Wandel.eu, ist Co-Founder der Menschenrechtsplattform Irrepressiblevoices.org (http://irrepressiblevoices.org/) und engagiert sich im virtuellen Think Tank Collaboratory. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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