Warum die Industrie 4.0-Rhetorik nervt

Das Industrie 4.0-Geblubbere suggeriert die heile Welt der guten, alten Exportnation mit Schmieröl und rauchenden Schloten. Wenn es um die vernetzte Ökonomie geht, wimmelt es von Allgemeinplätzen, Phrasen und Floskeln. Nicht nur Unternehmer sind zunehmend genervt von den liebwertesten “digital-transformatischen” Gichtlingen, die inflationär ihre Netzweisheiten hinausposaunen: “Wir werden mittlerweile fast täglich mit Begriffen wie Industrie 4.0, Big Data, Digitalisierung und Internet der Dinge konfrontiert – ich möchte fast schon sagen: belästigt”, moniert Frank Richter, Vorstandschef der Swiss Global Investment Group bei der Fachtagung “Digitale Ethik” im Kölner Startplatz. Selbsternannte Experten würden sogar schon die exakten Potentiale und die daraus resultierenden Einsparungen kennen, die durch Digitalisierung und Vernetzung entlang der so genannten Wertschöpfungskette erzielt werden.

“So scheinen eben diese Experten vergleichbar mit den Orakeln in der Antike und deren Weissagungen”, so Richter. Wenn es um die vernetzte Ökonomie geht, wimmelt es von Allgemeinplätzen, Phrasen und Floskeln. Wie das für Firmen konkret laufen soll, wird nur sehr oberflächlich oder gar nicht erklärt: “Es ist viel einfacher, möglichst generisch in der Ausdrucksweise und damit gewissermaßen unverbindlich in der Aussage an sich zu bleiben”, kritisiert Richter.

Tote Metaphern

Vieles sei übrigens alter Wein in neuen Schläuchen. “So ist Wissensmanagement vom Wesen her nichts anderes als die Sammlung, das Digitalisieren und schlussendlich die Nutzbarmachung von Daten, um unternehmerische Entscheidungen treffen zu können.” Was unter dem Stichwort Big Data nun anders werden soll, bleibt auf Beispielen wie der Stauwarnung hängen. Es erreicht die Wirtschaft nicht.

Das digitale 4.0-Wortgeklingel erinnert den Marketingspezialisten Michael Zachrau an den römischen Staatsmann Cato mit seinem Ausspruch: “Ceterum censeo Carthaginem esse delendam – im übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss”. Wer ständig die gleichen Begriff herunterleiert, bewirkt bei Entscheidern gar nichts. Alles Geschriebene und Gesagte ist sinnbedürftig. Stattdessen dominieren tote Maschinen-Metaphern, bemerkt Christine Künzel in der aktuellen brandeins-Ausgabe mit dem Schwerpunkt Maschinen. Wir schalten unser Denken aus, wenn wir die Hitparade der Powerpoint-Dauerrednern lesen. “Wow, wie originell ist das denn, die Wirtschaft als Maschine zu beschreiben”, betont Künzel. Es sind Ingenieurs-Storys, die auf dem technischen Niveau von 1900 stehen geblieben sind.

Maschinen-Rhetorik mit Rundlauf-Akten

Das Industrie 4.0-Geblubbere zählt dazu. Es suggeriert die heile Welt der guten, alten Exportnation mit Schmieröl und rauchenden Schloten. Es soll Sicherheit, Kontinuität und Leistungsstärke demonstrieren wie in den Wirtschaftswunder-Zeiten: “Ja gut, es wird ein bisschen digitalisiert, aber sonst bleibt alles beim Alten – eine Fabrik mit Fließband und Internetanschluss, festen Arbeitszeiten und einer dazugehörigen festen Lebensplanung bis zur Rente”, schreibt Wolf Lotter zur Maschinen-Thematik von brandeins. Der Name sei Programm. Er rüttelt nicht auf, sondern begleitet uns in das Gestern: “Industrie 4.0, ein Schritt nach vorn, zwei zurück.” Die vermeintlich vierte industrielle Revolution sei die erste, die auf Geheiß von Politikern und Verbänden stattfinden soll. Über den Status von Rundlauf-Akten, die zwischen den drei beteiligten Bundesministerien zirkulieren, wird das großspurig verkündete Projekt nicht hinauskommen.

Statt hausbackene Definitionen aus dem Industriezeitalter zu verwenden, wären Überraschungen vonnöten, um neues Denken zu befördern. Wenn man mit Versionsnummern hausieren geht, wäre Wissen 1.0 ein Ausrufezeichen, um zu dokumentieren, dass wir seit 1980 statistisch gesehen gar keine Industrienation mehr sind. Knapp 25 Prozent der Beschäftigten arbeiten noch in der Industrie, Mitte der Sechzigerjahre waren es 49,2 Prozent. Seitdem geht es bergab. “Gleichzeitig hat sich die Produktivität mehr als versechsfacht. Das versteht man klarer, wenn man weiß, dass die in der Statistik der Industrie zugeschlagenen Beschäftigten Wissensarbeiter sind, Ingenieure, Entwickler, Automatisierungs- und Prozessexperten”, erläutert Lotter. Was wir also brauchen, sind kreative Köpfe und keine Maschinen-Prediger. Unser ökonomisches Verständnis oder Missverständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge hängt zum großen Teil von unserer Art des Sprechens ab.

Leblose Begriffskaskaden befördern Entscheider in Politik und Wirtschaft ins tatenlose Koma. Als Avantgarde der digitalen Leerformeln bewährt sich gerade Verkehrsminister Alexander Dobrindt in einem The European-Gastbeitrag:

Die Digitalisierung revolutioniert Wirtschaft und Gesellschaft in einem disruptiven Prozess, diese historische Transformationsphase schreibt die Wirtschaftsgeschichte industrialisierter- Volkswirtschaften neu. Ob Deutschland Innovationsland bleibt oder Stagnationsland wird, hängt davon ab, ob wir unsere Innovationsführerschaft im digitalen Zeitalter behaupten. Das gelingt, wenn wir die Stärken der sozialen Marktwirtschaft einsetzen und drei Aufgaben angehen: schnelle Netze, Wettbewerb und Vernetzung.

Silicon Valley-Storymaker versus IT-Gipfel

Wer so etwas liest, braucht kein Valium gegen Schlafstörungen. Storymaker, die uns die Bits und Bytes nicht mit dem Charme von Rechenschiebern vermitteln, findet man kaum in Deutschland. Es sind die seltenen Gastauftritte von den Tech-Bombenlegern aus dem Silicon Valley, die uns den Erzählstoff für die Next Economy bieten. Dazu zählt der Periscope-Mitgründer Kayvon Beykpour, dem in Hamburg die mediale Schickeria zu Füßen lag. TV-Journalist und Blogger Richard Gutjahr überlegte gar einen Moment im Livestreaming-Interview mit Beykpour, ob er nicht auf die Seite des Startup-Unternehmens wechseln sollte, da selbst im Journalismus die Impulse nicht mehr von Häusern wie Springer oder Burda kommen, sondern von den Programmierern in Kalifornien.

Wie man das ändern kann, wollen wir – also die netzökonomischen Käsekuchen-Fans – in aller Offenheit auf der Next Economy Open #NEO15 Anfang November in Bonn diskutieren – gut eine Woche vor dem IT-Gipfel in Berlin, wo sich Männer in dunklen Anzügen mit Kanzlerin Merkel treffen und im Industrie 4.0-Technokraten-Modus über die Zukunft fabulieren. Wir benötigen einen anderen Erzählstoff für die vernetzte Wirtschaft. Wir brauchen mehr Growth Hacker.

Dieser Artikel erschien zuerst auf TheEuropean.

 


Image (adapted) „Server“ by NeuPaddy (CC0 Public Domain)

 

ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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2 comments

  1. Es fehlt in Deutschland zunehmend an den hellen genialen Technik Köpfen mit Visionen.
    Es wird immer noch auf möglichst billige manuelle Arbeit gesetzt, also ein Zurück in Richtung letztes Jahrhundert.

    Das wird sich sehr schnell als Ballast erweisen, solche Firmen sind in einigen Jahrzehnten wertlos.

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