Heimarbeit als Energiewende

Pendeln macht dumm. Pendeln macht arm, vor allem bei solchen Ölpreisen. Es verschwendet jedes Jahr Milliardensummen, die wir besser investieren könnten. Leider haben wir eine große Tradition darin, die falschen Töpfe mit Geld zu füllen.

Die Finanzkrise scheint vorbei. Alle Zeichen deuten daraufhin, dass es auch eine Bedeutungskrise war. Zuviel Entscheidungspotential wurde an automatisierte Intelligenz abgegeben. Wir nennen das gern Prozessautomation. So konnten Versicherungen und Banken viele Sachbearbeiter in Software gießen. Die Konsequenz in einer unsicheren Marktsituation war Folgendes: Kaskadenartig expandierten Fehlentscheidungen. MIT-Professor Peter Senge hatte doch die Lernende Organisation auf Rezept verschrieben. Wissen musste auf Teufel komm raus integriert werden. Leider glaubte man damals noch, dass Wissen in Datenbanken und Projektmanagementtools speicherbar sei. Leider glaubt man noch heute, dass mehr Wissen zu besseren Entscheidungen führt. Dabei ist ein heuristisches Vorgehen nach Intuition in unsicheren Zeit immer dem Sammeln von Fakten überlegen. Außerdem ist es deutlich schneller.

Wie die digitale Arbeitswelt unsere Zivilisation rettet

Aber Schnelligkeit ist etwas anderes als Geschwindigkeit. Denn unseren bisherigen Organisationsstrukturen droht das Aus. Keiner kann es sich ökologisch und ökonomisch leisten, enorme Büroräume vorzuhalten, wo die Angestellten effektiver in einer Work-Life-Balance arbeiten und dabei auch noch dem Unternehmen Emissionen einsparen helfen. Weniger Pendler in der Firma und schon kann man Emissionstitel handeln. Noch nicht jetzt, aber in 2020. Der Computer ist das Büro der Zukunft – auch und gerade wenn er ins Telefon hinein wächst.

1. Warum wir das weltweite Netz und viele kleine Zugangsgeräte überall brauchen

Mobilität ist ein Märchen der Vergangenheit.

„Wenn wir unseren Ölverbrauch auf dem aktuellen Niveau befriedigen wollen, dann müssen wir jetzt schon Quellen nutzen, die viermal so groß sind wie die Vorkommen in Saudi Arabien“, sagt Matthew Simmons ehemaliger Berater der US-Regierung in Sachen Energiepolitik. Wenn wir bedenken, dass in Europa und Amerika zwischen 700 und 800 Menschen pro Tausend Einwohner ein Auto besitzen und in China nur 19 oder in Indien nur 8, dann sind unsere Zukunftsaussichten gelinde gesagt illusorisch. Und die Experten denken bei Zukunft an eine Zeit nach 2020!

Es gibt Rettung. Wir müssen sofort die Abermillionen gefahrenen Kilometer sein lassen, die jeder Mitarbeiter jeden Morgen und Nachmittag zur Arbeit und nach Hause pendelt. So könnten wir uns noch einige Dekaden lang das lebenswichtige Öl leisten. Wofür? Über 90% der chemischen Industrie basiert auf Erdöl: Pharmaunternehmen, Gebrauchsgüter, Plastikherstellung und vieles mehr.

Home-Offices – also die Arbeit im trauten Heim – ist keine alternative Form der Gestaltung innovativer Arbeitsumgebungen sondern ein Akt des Überlebens unserer modernen Zivilisation. Wir können es uns in 15 Jahren finanziell und ökologisch gar nicht mehr erlauben, die riesigen Bürotürme zu beheizen während zuhause die eigene Heizung acht Stunden lang viele unbewohnte Zimmer bei konstant 20 Grad Celsius vorhält.

Es geht hier nicht um Schreckensszenarien von Ökospinnern sondern um rationale Erwägungen. Zum Glück wurde rechtzeitig ein Mittel erfunden, um den enormen Bedarf an Kommunikation einer arbeitsteiligen Arbeitswelt ohne den Verbrauch enormer fossiler Ressourcen zu realisieren: das Internet. Videokonferenzen, E-Mail, Chat und das Verfügbarmachen des eigenen Desktops für Kollegen, die einige Zeitzonen entfernt sitzen, ist aktuell das einzige Szenario, wie eine globalisierte Wirtschaft denkbar ist. Denn auf absehbare Zeit werden wir es uns nicht mehr leisten können, dass irgendwo in der Welt ein armer Teufel sitzt und für uns Geräte zu einem Hungerlohn zusammenbaut. Wegen der extrem teuren Transporte, wird diese Art der Globalisierung sehr schnell ein Ende finden. China? Überlegen Sie mal, was im Rentensystem passiert, wenn 3 Milliarden Senioren von 1,5 Milliarden Kindern finanziert werden müssen. Der asiatische Riese wird 15 Jahren an seinem Sozialsystem implodieren. Brasilien ist da deutlich weiter und reicher an Bodenschätzen. Leider will niemand die Abermilliarden der Brasilianer haben. Außerdem sind sie ein sehr kommunikatives Volk. Das hilft, die persönlichen, sprachlichen und mentalen Barrieren zwischen Menschen abzubauen. Das können wir in Deutschland nicht mit dem 101. Intranetprojekt schulen. Da hilft auch kein Pfadmanagement oder andere innovative Formen der Organisationsentwicklung. Kultur kann man nicht lernen. Sie entsteht nur in Abwesenheit von Angst.

2. Wovon sprechen wir, wenn im Arbeitsalltag Kommunikation stattfindet?

Aktuell laufen den Entscheidern viele Social Media Berater über den Weg. Sie erklären das Zeitalter des Taylorismus für beendet und negieren die Prozessperspektive, die SAP und Business Process Management über uns gebracht haben für gescheitert. An deren Stelle setzen sie ein neues Paradigma des kommunikativen Austauschs. Wenn man das vorhandene interne oder das weltweite Datennetz nur intelligent genug einsetzt, dann helfen sich alle Mitarbeiter gegenseitig in einem riesigen Akt altruistischer Unterstützung. So werden Blogs, Wikis und Microblogging als Massenschöpfungswaffen einer neuen Arbeitswelt angesehen. Die Webkonferenzen sind voller Fachleuten aus der Informatik, BWL und den Sozialwissenschaften, die uns erklären, wie Enterprise 2.0 – also das Arbeitsumfeld im Webzeitalter – eigentlich konstruktiv genutzt werden kann.

Aber was kann das Netz wirklich? Zuerst haben wir jeden Brief im Posteingang abgefangen, gescannt und dann per virtuellem Postkorb auf den Bildschirm der Sachbearbeiter gezaubert. Dann haben wir diese Abbilder der Korrespondenz mit Metadaten aufgeladen und mit ihrer Hilfe Prozesse definiert, die das Bearbeiten halbautomatisch erledigten. Riesige Datenbanken wurden mit Konvoluten über Kundenprojekte, Teillösungen und stundenlangen Debriefingsitzungen gefüttert um in einem Fanal des Wissensmanagements alles und jeden an das Firmenwissen anzuschließen. Schließlich und endlich sahen wir ein, dass Wissen in Datenbanken schneller schlecht wird als Rohmilch im Hochsommer. Dann traten die Damen und Herren mit Social Software auf den Plan und erzählten uns, was wir sowieso schon ahnten: Wir haben teure Wissenssilos. Wir haben kein Kontextwissen, um das gespeicherte Wissen mehrfach zu nutzen. Und wir sind zu langsam.

Wir alle aber wissen, dass das eigentliche Problem darin liegt, dass wir keine Zeit mehr haben. Selbst wenn wir unseren Kollegen mit Blogs, Wikis und twitter helfen wollten, wer sollte in der Zwischenzeit unsere eigentliche Arbeit erledigen? Denn die Gewinnsteigerungen der letzten Jahre beruhten schlicht darauf, dass dieselbe Arbeit, die noch in den Neunzigern mit 40 Leuten geschafft wurde, nun mit 18 Kollegen geleistet werden muss. Da ist der tägliche Kampf gegen Warenwirtschaftssysteme, E-Mail und das Intranet noch gar nicht eingerechnet. Und dabei leisten wir uns noch immer zwei Stunden am Tag An- und Abreise von und zur Arbeit. Wo ist da auch nur der Ansatz zu einer Work-Life-Balance? Das Lied der inneren Kündigung wird auch mit Tischfußball und Yoga morgens in der Kantine nicht lieblicher.

Um wirklich im Team zu arbeiten, reicht nicht ein jour fix am Mittwochnachmittag. Um erfolgreich neue Märkte zu erobern, hilft es auch nicht, einfach mal die Suchmaschinen von twitter oder Google danach zu durchforsten, was die anderen so tun. 1998 wurde im cluetrain manifesto postuliert, dass Märkte Gespräche seien. Wer also vor gar nicht allzu langer Zeit, diese Gespräche aus der Firma und in die Firma gekappt hatte durch eine straffes Zeitmanagement, der braucht heute keine neuen basisdemokratischen Social Software Tools einzuführen. Verängstigte Mitarbeiter werden in keiner Weise offenen Dialog mit ihren Kollegen führen. Und da sie das intern nicht tun, werden sie auch mit den Kunden und Partnern ihres Unternehmens genauso wenig offen sein.

3. Unternehmenskultur ändert sich in Jahrzehnten kaum. Keiner hat eine Lösung im Schreibtisch.

Wissenschaftler wie Dr. Gerd Gigerenzer laufen durch die Republik und verkünden das Zeitalter der Intuition. Ein Zuviel an Information hindert uns an den richtigen Entscheidungen. Ein Zuviel an Nachdenken hindert uns ebenso. Ist das so? Vor dem Siegeszug der Systemtheorie gab es eine vielversprechende Idee in der Dialogphilosophie: das Zwischen. Es ist ein freier Ort, der nötig ist, damit sich Ich und Du begegnen können. Wer ihn kontrollieren will, zerstört ihn. Von erfolgreichen Startups können wir eines lernen. Schnelle Iterationen sind besser als gründliche Prüfungen. Wer die kritische Masse von 20-30 Menschen in einer Abteilung überschreitet muss Gruppenbildung aktiv unterstützen. Das geht am schnellsten über Gestaltungsspielräume. Was soll die Gruppe gestalten? Als Erstes die Schnittstelle zur Umwelt.

Nochmal: Das erfordert eine Kultur, die nicht auf Angst und Gehorsam basiert. Dann werden die inneren Kündigungen abnehmen. Wir kennen die Effizienzdiskussion aus der Energiedebatte. Haben wir sie schon in Bezug auf die Milliarden ungehobener Euros diskutiert, die in den Mitarbeitern schlummern, die angstfrei einfach mal ihre Meinung sagen und damit neue Wege ebnen. Haben erfahrene Mitarbeiter genug Gestaltungsspielraum? Die wahren Schätze sind auf demselben Flur wie wir. Nutzen sie internes Storytelling mit unabhängigen Kräften – in der Not auch anonym.
Oder lassen Sie den Menschen mit Avataren und anonymen Kommentaren im Intranet die Chance zu sagen, was wichtig ist. Es mag zunächst seltsam anmuten, aber dieser Schutz liefert wahre Perlen ins Firmennetz. Haben Sie Geduld.

Die Manager müssen mit dem Meckern den Anfang machen. Nach dem Meckern beginnt die konstruktive Phase, dann kommt das Besondere: Mitarbeiter übernehmen Verantwortung wo es vorher nur ein Schwarzer-Peter-Spiel gab. Vertrauen entsteht nur, wenn in Grenzsituationen keiner gekündigt wird. Vertrauen kann Leute zu Leistungen beflügeln, die sie nie mit Belohnung erreichen würden. Das Web ist nur eine permanente Telefonkonferenz mit allen Mitarbeitern über alle Themen – nicht mehr und nicht weniger. Und es rettet unsere Natur, wenn der Strom mit Wind oder Sonne produziert wird. Und es rettet unsere zerberstenden Familiensituationen.

Photo: clarita

Crosspost von multiasking.net.

Dieser Text erschien zuerst in Ruisinger D.: Online Relations, 2. Auflage, Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart, 2011,

  ist seit 1999 als Freier Autor und Freier Journalist tätig für nationale und internationale Zeitungen und Magazine, Online-Publikationen sowie Radio- und TV-Sender. (Redaktionsleiter Netzpiloten.de von 2009 bis 2012)


Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: , ,

3 comments

  1. Bisher hatte ich bei meiner wunderbaren Möglichkeit im Home Office zu arbeiten in erster Linie die enorme Zeitersparnis im Sinn, die Ruhe und die Möglichkeit auf den schattigen Gartenstuhl zu wechseln.
    Der Energiefaktor ist natürlich ebenfalls von Gewicht. Allerhand Vorteile, die wirklich in deutlich häufiger zum Einsatz kommen sollten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert