This is not a Rückblick

Das Digitale offenbart eine politische und moralische Systemkrise. Die Verweigerer der digitalen Entwicklung beschimpfen uns aus Hilflosigkeit als Taliban und Maoisten. Wir sollten diese Versuche, uns Digitale zu diskreditieren ignorieren und uns auf die wichtigen gesellschaftlichen Fragen konzentrieren. Die re:publica lebt meiner Meinung nach immer davon, dass erstens vor Ort spontane Eindrücke von neuen Projekten, Ideen oder spannenden Personen gesammelt werden können, die in dieser Form online zu nachzuvollziehen sind. Zugleich geht es aber zweitens immer darum, langfristige Trends zu diskutieren und eine persönliche Landkarte der wichtigsten Eindrücke zu erstellen, die dann doch zumindest 12 Monate Gültigkeit behalten sollte. Bei einem Rückblick (nicht nur auf die #rp15 sondern auch die netzpolitischen Debatten der letzten Wochen) und zugleich einem Blick nach vorn stellen sich mir die folgenden fünf Fragen für die Zukunft der Digitalisierung in Deutschland.

Frage 1: Wie sollen wir in der Welt der zwei Geschwindigkeiten agieren?

Auf der einen Seite gibt es hierzulande die alternde Offline-Gesellschaft (ich werde bald 50 und kann mir diese Begrifflichkeit erlauben), die sich hartnäckig der digitalen Neuerung gegenüber verweigert, auf der anderen Seite gibt es den netzaffinen Teil der Gesellschaft, der begeistert von den Neuerungen berichtet, jedoch die Offliner nicht zu überzeugen vermag. Wir Begeisterten sollten uns Gedanken darüber machen, ob wir zukünftig wieder ein Klassentreffen veranstalten wollen oder uns mit einem Sandkasten zufrieden geben sollten (dazu später mehr).

Was haben wir digitalen Enthusiasten uns den Mund fusselig geredet; Kommunikation, Kollaboration und Teilen machen Spaß, Digitales erleichtert die Arbeit, eBooks sind praktisch und helfen dem Verlagswesen aus der Krise, Open Gov ermöglicht mehr Partizipation, Open Data löst gesellschaftliche Probleme, soziale Medien bedeuten Empathie, die Online-Welt überwindet das anachronistische Meatspace-Modell nationaler Grenzen, usw. Allein: Was haben wir damit erreicht? Wir werden als „Taliban“ und „Maoisten“ diskreditiert.

Mein Vorschlag: Schenkt Denjenigen, die kein Interesse an neuen Sichtweisen haben und engagierte Innovatoren mit diesen menschenverachtenden Extremisten vergleichen, keine weitere Beachtung mehr. Wir sollten sie nicht zum Jagen tragen oder zum Glück zwingen. Zusammenarbeit und das Eintreten für eigene Positionen ist eine Frage der Haltung. Und eine positive Haltung zur Offenheit und Zusammenarbeit kann man nicht erzwingen. Ich habe jedenfalls keine Lust, zum x-ten Male darüber zu diskutieren, ob Google oder Facebook Weltregierungen darstellen, ob das Digitale die Arbeitsweisen verändern wird oder ob wir auch auf den hartnäckigsten digitalen Verweigerer warten sollten. Lasst uns nach vorn schauen und die grießgrämigen Kulturpessimisten weiter in ihren Totholzprodukten über den Untergang des Abendlandes räsonieren.

Berlin - digitale Insel im analogen Deutschland (Bild: Ole Wintermann)
Berlin – digitale Insel im analogen Deutschland (Bild: Ole Wintermann)

Berlin – digitale Insel im analogen Deutschland

Frage 2: Wie gehen wir mit der Systemkrise um?

Die westlichen Demokratien erlebten, so Ethan Zuckerman in seiner #rp15-Keynote „The System is Broken – and That is the Good News„, eine historisch einmalige Systemkrise durch ein breites in der Bevölkerung messbares Misstrauen gegenüber all den Institutionen, die die Gesellschaft im letzten Jahrhundert so geprägt hätten (Verbände, Unternehmen, Gewerkschaften, Parteien). Daran sei (so meine persönliche Interpretation) nicht das Digitale, die digital Affinen, die Technik, Facebook, Google oder die gesamte Welt Schuld (also immer die Anderen) sondern die Unfähigkeit der Offliner, mit dem Digitalen und seiner Auswirkung auf angestammte Themenfelder und Branchen umzugehen.

Statt zu Wahlen zu gehen, würde die jüngere Generation in politischen Aktivismus und auf die Straße drängen. Dies zeige das hohe politische Engagement, habe jedoch das Problem, dass damit nur selten wirklich gesetzliche Änderungen einhergingen.

Zunehmend digital ermöglichte Transparenz über soziale und finanzielle Ungleichheiten sowie globale Herausforderungen wie dem Klimawandel und die Erfahrung der Egomanie großer Unternehmen im Umgang mit menschlichen Lebensbedingungen (wie z.B. der Deutschen Bank) ließen die Menschen in westlichen Demokratien an den wirtschaftlichen und politischen Akteuren mehr denn je zweifeln. Die Lösung bestünde in einer erhöhten Wirksamkeit der misstrauten Systeme, dem Monitoring der Aktivitäten dieser Systeme durch die Bürger und dem Aufbau dezentraler Systeme mit Hilfe der digitalen Tools (dies ist ein Punkt, auf den auch bereits Nafeez Ahmed hingewiesen hatte).

Passend dazu zeigte Gabriella Coleman in ihrem Vortrag „How Anonymous (narrowly) Evaded the Cyberterrorrism Rhetorical Machine“ die versuchte Diskreditierung der Tätigkeiten einiger Anonymous-Aktivisten durch westlichen Geheimdienste auf. Erst das Bekenntnis der polnischen Parlamentsangeordneten zur Guy Fawkes-Symbolik habe es vermocht, Anonymous aus der Ecke der Terrorristen heraus zu holen, in die die westlichen Geheimdienste sie absichtlich gedrängt hätten. Geheimdienstliche Diskreditierung als Reaktion auf Misstrauen gegenüber Institutionen; von dieser Kombination hören wir in Demokratien leider nicht zum ersten Mal.

Die Antworten der Traditionalisten auf diese Systemkrise lauten Vorratsdatenspeicherung, eine verbesserte Kommunikation der Parteienbotschaften den WählerInnen gegenüber (wir haben es nicht vermocht, unsere Ziele den BürgerInnen zu vermitteln), das Diskreditieren der digitalen Sympathisanten, die Investition in schön anzusehende aber für die Entscheidungsfindung innerhalb von Unternehmen bedeutungslose Facebook-Seiten (gib uns ein Like für unsere neue Hautcreme) oder der Ausschluss von NGOs und politischen Netzaktivisten aus tradierten parlamentarischen Gesetzgebungsprozessen.

Frage 3: Wie sollen wir auf Ideenklau reagieren?

Lasst euch nicht eure tollen Ideen von Männern mit viel Geld wegnehmen“, so ein Sessiongeber auf der #rp15. Es zeigt ein Grundproblem der digitalen Euphorie auf: Die digitalen Enthusiasten und Innovatoren laufen vor, laufen immer wieder gegen Wände, holen sich eine blutige Nase, beuten sich selbst aus – und am Ende folgen die Ängstlichen (mit und ohne viel Geld), sammeln die Erfolge der Innovatoren ein und labeln das Aufgesammelte mit ihrem Namen (Dank an Thomas Herr für sein stimmiges Bild der Pioniere mit den Kugeln in ihren Rücken). Die Aussage, dass Wissen der einzige Rohstoff sei, der mehr werde, wenn man ihn teile ist zugleich richtig und falsch. Richtig ist sie, weil erst Kommunikation und Kollaboration zu einem Erkenntnisfortschritt führt. Falsch ist sie, weil im Moment des Teilens bereits wieder Kräfte aktiv werden, die dieses Wissen abgreifen, begrenzen und horten wollen, um damit ihre Macht abzusichern.

Zwei prominente Innovatoren, Doc Searls und David Weinberger, beschreiben in ihren „New Clues“ genau diese Problematik, indem sie u.a. mit dem Blick auf die risikoscheuen aber im System fest etablierten Nachahmer schreiben: „The Marauders understand the Internet all too well. They view it as theirs to plunder, extracting our data and money from it, thinking that we are the fools.“ Das Dumme ist; innovativ und neugierig zu sein, kann man nicht werden, wenn man nicht so denkt und man kann es nicht abstellen, wenn man es ist. In einer anderen Session über die zukünftige Rolle von Freelancer setze man genau an dieser Stelle an – temporäre Nutzung von Freelancern in Unternehmen, um Innovationen, die das Unternehmen nicht aus Sicht selbst heraus generieren kann, damit quasi „einzukaufen“. Ob dieses Geschäftsmodell für beide Seiten lohnend ist, wird die Zukunft zeigen.

Alte Geschäftsmodelle: Ihr da draußen, wir hier drinnen (Bild: Ole Wintermann)
Alte Geschäftsmodelle: Ihr da draußen, wir hier drinnen (Bild: Ole Wintermann)

Alte Geschäftsmodelle: Ihr da draußen, wir hier drinnen

Frage 4: Wie kann sich eine überwachte Zivilgesellschaft gegen Überwachung zur Wehr setzen?

M. C. McGrath hat in seinem Vortrag mit dem Titel „Watch the Watchers“ den Spieß der Überwachung umgedreht und eine Datenbank derjenigen Experten, die meinen, uns normale Durchschnittsbürger überwachen zu müssen, vorgeführt.

Darüber hinaus aber muss natürlich die Frage gestellt werden, wie sich BürgerInnen in Demokratien dagegen wehren können, dass ihre Kommunikation und ihr Verhalten eventuell gleich durch mehrere Geheimdienste und Spähprogramme überwacht wird. Initiativen wie der #FakeDataDay oder Protestaktionen gegen die Vorratsdatenspeicherung und die umfassende Abschaffung der Netzneutralität zugunsten der Interessen einiger weniger großer Unternehmen sind ein guter Ansatz. Allein: es stellt sich die Frage, wieso diese Aktionen so dermaßen schlecht durch die agierenden politischen Akteure aufgenommen werden.

Alte Geschäftsmodelle: Ihr da draußen, wir hier drinnen (Bild: Ole Wintermann)
Die überwachte Bevölkerung (Bild: Ole Wintermann)

Die überwachte Bevölkerung

In den letzten Wochen haben uns Teile der Medien gerade wieder darüber informiert, dass Teile der deutschen Bundesregierung die deutsche Bevölkerung anscheinend über Monate hinweg angelogen hat. Ach liebe Politiker, und bei der nächsten Wahl fragt ihr euch dann wieder, wieso wieder weniger Menschen zur Wahl gegangen sind. Sollen wir das Spiel noch ernst nehmen? (s.a. Systemkrise)

Frage 5: Vergesst “Digitalisierung”! Welche Rolle spielt Digitalisierung bei interdisziplinären Analysen?

Die digitale Karawane zieht weiter, während die Führungsetagen der Unternehmen damit (vergeblich) glänzen wollen, das Digitale entdeckt zu haben. Im Übrigen ist es (unabhängig von der #rp15) schon spannend zu sehen, wie zentralisierte und hierarchische Führungskonzepte nicht mehr fähig sind, den aktuellsten Entwicklungen in ihren Branchen oder aber der digitalen Disruption und ihrer Auswirkung auf angestammten Absatzmärkte und Rollenverständnisse zu folgen. Das Digitale ist dezentral, hierarchieunabhängig, chaotisch, unkontrollierbar; alles Eigenschaften, die mit dem traditionellen „Führung“verständnis nicht mehr kompatibel sind (Stichwort weiter unten: #Arbeiten40).

Meine Empfehlung: Lasst die politischen und wirtschaftlichen Entscheider dieser Republik mit ihrem Aha- und „Seht mal her, bin ich nicht innovativ„-Selbstbild zurück (wobei selbst höchst bezahlte Auto-Vorstände teils immer noch nicht verstanden haben, was da auf sie zukommt) und lasst uns über die anstehenden weitergehenden Fragen reden.

Wenn Algorithmen und „Roboter“ bis 2030 die Hälfte der menschlichen Jobs übernehmen, sollten wir uns vielleicht heute schon Gedanken über machen über ein technikkompatibles Steuersystem (Dank an Lena-Sophie Müller für diesen Hinweis!). Wenn das Modell der Norm-Arbeitsverhältnisse in der digitalisierten Welt ausläuft; wie kann eine Arbeitslosenversicherung aussehen, die dem Rechnung trägt? Wie hoch sind die Einsparpotenziale, die durch Anwendung von digitaler Unterstützung in der Altenpflege (Achtung: Demographischer Wandel!) entstehen werden? Wie sieht eine intelligente Straßeninfrasstrukturplanung aus, die zunehmend Sensoren im Straßenbau einsetzen könnte? Wie muss unser Schulsystem und das System der Weiterbildung in einer Welt des globalisierten (Online-) Arbeitsmarktes ausgestaltet sein? Welche Rolle kann Big Data bei der Bewältigung des Klimawandels und dem Einsparen natürlicher Ressourcen spielen?

Ausblick

Um es ganz klar zusagen: Ich bin ein großer Fan der #rp15 und werde nach Möglichkeit auch in 2016 wieder dabei sein. Nichtsdestotrotz muss man sich Gedanken über das Format machen können.

Die #rp15 scheint aber in einer Art Zwischenwelt angekommen zu sein. Auf der einen Seite ist sie tatsächlich in einem Teil des Mainstreams angekommen (das „Messe“-Feeling kann man mit dem Verbot der Unternehmens-Logos tatsächlich nur kaschieren), auf der anderen Seite bietet sie aber gerade noch beim Thema Netzpolitik mit Personen wie Jillian York und Cory Doctorow die internationalen VIPs an, die einen Benchmark für die Debatte über das Internet darstellen. Das Problem: Die dort gesichteten Staatssekretäre und Ministerinnen sind ihrerseits in ihren Umgebungen die digitalen Ausreißer, so dass nach wie vor keine Schnittstellen zur Mainstream-Politik in der Breite bestehen (http://www.theeuropean.de/alexander-goerlach/10160-digitalpolitik-in-deutschland ). Gleichzeitig aber vermag es der Modus der #rp15 nicht in der Breite in die Tiefe zu gehen (außer eben bei der Netzpolitik). Das ist schade.

Welche Frage könnte sich wohl ein externer Beobachter stellen, der in Sessions geraten ist, in der über die Jakobiner-Mütze als Stierhodensymbol, über die „Schuld“ von Facebook am Aufkommen der #Pegida-Provinzialisten oder den Gegensatz der weiblichen Figur der französischen Revolution versus des männlichen Jesus gesprochen wurde. Sind diese Themen wirklich relevant? Was ist mit dem Klimawandel, den Flüchtlingsthemen, Pandemien, der Zukunft des Gesundheitssystems, der weltweiten Ungleichheit, der der Globalisierung geschuldeten Umweltzerstörung? Diese Themen gehörten eigentlich auf die #Stage1 nicht nur der Veranstaltung sondern auch der Politik in diesem Lande. Bei beiden: Fehlanzeige.

Das „Klassentreffen“ der Bloggergemeinde droht daher ein wenig, zum „Sandkasten“ aus Sicht der tradierten politischen und wirtschaftlichen Akteure zu werden, bei denen man den putzigen Kleinen beim Bauen von Sandburgen zuschaut, milde lächelt und dann zur wirklich wichtigen Tagesordnung wie dem Erhalt der Kohlkekraftwerke, der Herdprämie, und ganz allgemein der politischen Ökonomie einer alternden Gesellschaft übergeht.

Das kann nicht in unserem (digitalen) Interesse liegen.

Dieser Beitrag ist eine modifizierte Fassung dieses Posts in meinem privaten Blog.


Image (adapted) „I Can’t See You…“ by Peter (CC BY-SA 2.0)


 

arbeitet seit 2002 bei der Bertelsmann Stiftung. Zuvor war er an den Universitäten Kiel und Göteborg und bei der Gewerkschaft ver.di tätig. Er baute in den letzten Jahren die internationale Bloggerplattform Futurechallenges.org auf, bloggt privat auf Globaler-Wandel.eu, ist Co-Founder der Menschenrechtsplattform Irrepressiblevoices.org (http://irrepressiblevoices.org/) und engagiert sich im virtuellen Think Tank Collaboratory. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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2 comments

  1. Ich habe diesen Artikel lange in den Lesezeichen gehabt und bin erst jetzt dazu gekommen ihn zu lesen. Aber es hat sich gelohnt, soviel selbstverliebte Arroganz über den Rest der Gesellschaft findet man selbst in den Weiten des Internets nur äußerst selten.

    1. Da muss man sich ja fast schon bedanken, dass Sie sich für dieses Kommentar die Zeit genommen haben. Eine begründte Kritik wäre angemessener gewesen, aber es ging sicherlich recht schnell.

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