Deutscher Blick auf Netz und Technologien: Der Mecker-Michel

Unserem Land würde ein bisschen Optimismus guttun. Stattdessen wird alles Neue in Deutschland zunächst kleingeredet. In Deutschland gibt es eine merkwürdige Stimmungslage, wenn es um Netzthemen und neue Technologien geht. Besonders die Berichterstattung gehe in eine Richtung, die viele nicht mehr ertragen können, sagt Sebastian Matthes, Ressortleiter Technik & Wissen der „Wirtschaftswoche“ und designierter Chefredakteur der „Huffington Post Deutschland“. 

Es komme eine neue Idee oder Technik auf den Markt und man findet alles ganz fürchterlich. „Technologie hat in Deutschland einen positiveren Blick verdient“, so Matthes in Deutschlandradio Wissen. Es gebe auch ein negatives Bias der Medien, wenn über Internet-Themen berichtet wird. Deutschland könne einen etwas konstruktiveren Blick auf das Netz und auf das Leben im Netz vertragen. Genau das werde er in seiner neuen Aufgabe bei der „Huffington Post“ versuchen. Google macht vieles richtig Das heißt nicht, alles hochzujubeln. So machen die liebwertesten Google-Gichtlinge im Umgang mit den eigenen „Kunden“ eine Menge falsch. Stichworte: Content-Zensur und AGB-Diktatur. Technologisch macht der Suchmaschinen-Konzern aber auch einen unglaublich guten Job. Etwa bei der Etablierung des Streaming-Dienstes Hangout on Air, mit dem man Videos live ins Internet übertragen kann. Vor gut einem Jahr war das noch ein unglaublicher Kraftakt und es gab Experten, die betrachteten das Livestreaming von Video- oder Audio-Beiträgen als Königsdisziplin der Datenübertragung im Netz. Die Bedenkenträger in Deutschland zerreden das Ganze entweder medienrechtlich oder mosern an der Einfachheit der Anwendung herum. Wer so etwas nicht selber zusammenbastelt, sei kein würdiger Vertreter der Podcast- oder Videozunft. Völlig unterschätzt wird die bahnbrechende Veränderung durch die Graswurzel-TV-Bewegung. „Technologisch beginnt der Wandel mit der Atomisierung der Distributionskosten. Das Betreiben eines Blogs kostet im Gegensatz zum Druck einer Zeitung praktisch kein Geld mehr. Die Aufnahme und Bereitstellung eines Podcasts ist kaum mit den Betriebskosten eines Radiosenders zu vergleichen. Nur im Fernsehen hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die Distributionskosten unbezahlbar seien“, schreibt Nikolai Longolius in seinem Buch „Web-TV – AV-Streaming im Internet“. Auch diese Bastion wird niedergerissen. In einem „Focus“-Gastbeitrag hat Andreas Graap von Webschorle.de kompakt die Vorteile von Liveübertragungen via Hangout on Air zusammengefasst: „Fernsehen und Rundfunk arbeiten bei Live-Übertragungen mit schwerer Maschinerie: Ein oder gleich mehrere Übertragungswagen bringen Mitarbeiter mit der notwendigen Technik zum Ort der Liveübertragung. Die Bandbreite reicht von Kleinbus bis Sattelschlepper. Aber der bisher kleinste Übertragungswagen ist der ‚Smart‘, mit dem zum Beispiel die ‚Lokalzeit‘ des WDR von unterwegs Fernsehen macht. Hier laufen Regie, Ton, Kamera und Moderation zusammen und werden per Satellit übertragen. Erstaunlich also, dass all diese Technik heute in ein Smartphone passt.Live-TV mit Handy Vor nicht allzu langer Zeit dachte wohl auch der professionelle Journalismus nicht daran, dass man mit Mobiltelefonen bald eigene Live-Reportagen starten könnte, so Graap. „Heute geht das: Live-Streaming-Dienste wie Hangout on Air haben es vorgemacht, andere werden folgen. Das könnte die Medienlandschaft und insbesondere den TV-Journalismus komplett verändern.“ Die „Huffington Post“ setzt Hangouts intensiv in den TV-Nachrichtensendungen ein, um Zuschauer direkt in die Live-Berichterstattung reinzuholen und mitdiskutieren zu lassen. Bis auf wenige zaghafte Versuche ist davon in Deutschland noch nichts zu sehen. Beim StreamCamp in Köln kann man das übrigens am 16. und 17. November nachholen. Ahnungslos im Jammer-Modus Der deutsche Jammer-Michel beklagt sogar Phänomene, die man noch nicht einmal in Spurenelementen verorten kann, wie etwa die sogenannte Gamification. So warnt ein emeritierter Volkswirtschaftsprofessor gegenüber der „Computerwoche“ vorauseilend vor der Ausbeutungsgefahr, obwohl er sich nicht gerade als Experte für Computerspiele in der Vergangenheit hervorgetan hat. Das Bewusstsein von Ort und Zeit gehe beim Spiel verloren. Man stehe im Wettbewerb mit sich selbst: „Heute schaffe ich mehr als gestern.“ Von dieser verschärften Konkurrenz profitiere in erster Linie der Arbeitgeber. Peng. Ende. Aus. Der Schlaumeier-Michel hat sein Urteil gesprochen – als Blindfisch der Gaming-Szene. Dabei geht es genau um das Gegenteil. „Was die sogenannten Experten wie der VWL-Professor von sich geben, ist eigentlich ein trauriger Indikator für die Lage in Deutschland. Es geht bei Gamification eben nicht darum, noch mehr aus den Mitarbeitern herauszuholen oder Zockergefühle für einen sechzehnstündigen Arbeitstag zu wecken. Es geht darum, Unternehmen besser zu machen im Umgang mit Mitarbeitern und Kunden. Es soll ein Umfeld geschaffen werden, in dem man gerne arbeitet“, erläutert der Gaming-Experte Christoph Deeg im Interview mit Bloggercamp.tv.

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Gamification könne dumme Chefs oder ausbeuterische Unternehmen nicht ändern. Bei solchen Verhältnissen werde es aber auch nicht gelingen, Gamification in die Organisation zu tragen und zu verankern. Auch mit den Bonitätsmodellen ist es nicht möglich, Leute wirklich zu motivieren, wenn der Laden autoritär und schlecht geführt wird. Wenn Führungskräfte Gaming einsetzen und sich dennoch als unangreifbare Gottheiten in Szene setzen, sollte ihnen klar sein, was am Ende eines Computerspiels lauert. „Da kommt der große Endgegner“, bemerkt Deeg. Es gehe nicht um den Einsatz irgendwelcher Tools oder Web-Anwendungen. Es gehe um die Unternehmenskultur, die sich fundamental ändern müsse. „Wer mit Computerspielen sozialisiert wurde, was bei vielen IT-Nachwuchskräften der Fall ist, der erkennt sehr schnell, ob Gamification nur als Blendwerk bei der Mitarbeiterführung eingesetzt wird. Das wird sich auf die Rekrutierung von talentierten Fachleuten eher negativ auswirken“, meint IT-Personalexperte Karsten Berge von SearchConsult. Ähnliches gilt übrigens auch für Aktivitäten im Social Web. Sie bringen die unternehmensinternen Probleme erst so richtig ans Tageslicht. Wer sich öffentlich zum Dialog bekennt, ihn aber im Umgang mit Kunden oder Mitarbeitern ignoriert, zählt schnell zum Fallobst des Netzes.


Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf The European.


Image (adapted) „Internet gratis en el aeropuerto Matecaña, Pereira, gracias a UNE“ by Mario Carvajal (CC BY 2.0)

ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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