Das unerbittliche Gedächtnis des WWW

In der WoZ, der „Wochenzeitung„, habe ich einen ausgezeichneten Artikel gelesen über die langfristige Speicherung von Informationen im Internet, insbesondere bei Google, und was das für die Nutzer und unsere Gesellschaft als Ganzes für Folgen haben kann.

Eine mit Einzelheiten vollgestopfte Welt

Unter dem Titel „Googles gnadenloses Gedächtnis“ wird der Leserin, dem Leser geradezu ein Lehrstück über Erinnerung und Vergessen geboten. Am Beispiel von Ireneo Funes, dem Protagonisten einer Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges, wird aufgezeigt, dass ein perfektes Erinnerungsvermögen, das Funes als Folge eines Reitunfalls erlangt, mehr Fluch denn Segen sein muss. Ohne Vergessen ist Denken nur schwer möglich, denn „Denken heisst, Unterschiede vergessen, heisst verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgepfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten.“

Google stellt im Grossen eine mit Einzelheiten vollgestopfte Welt dar, die nicht vergessen kann. Dies musste Andrew Feldmar, ein Psychoptherapeut aus Vancouver bei seiner Einreise in die USA erfahren. Er hatte in einem wissenschaftlichen Artikel 2001 geschrieben, in früheren Jahren LSD probiert zu haben. Bei seiner Einreise in die USA fünf Jahre später googelte ein Grenzbeamter seinen Namen, worauf er auf den erwähnten Artikel stiess. Da Feldmar gegenüber dem Beamten seine Aussage im Artikel bestätigte, wurde ihm beschieden, er gelte hiermit als Drogenkonsument und dürfe deshalb nicht in die USA einreisen. Auch später war ihm die Einreise in die USA nur mit einer Sondergenehmigung möglich…

Tatoos auf unserer digitalen Haut

Sobald wir am Internet teilnehmen, hinterlassen wir digitale Spuren, die sich dank geschickter Verknüpfung von Logindaten, Cookies und IP-Adressen und dank der ungeheuren Datenspeichermöglichkeiten, etwa von Google, zu Profilen zusammenbauen lassen, die uns selbst und unseren digitalen Gewohnheiten in erschreckender Weise entsprechen. Indem wir am Internet teilnehmen, „verlieren wir sozusagen die Verfügungsgewalt über uns selbst“, die Vergangenheit „ritzt sich wie ein Tattoo in unsere digitale Haut“. So lasse sich aufgrund der gespeicherten Verbindungsdaten der letzten drei Monate das Online-Verhalten eines Nutzers mit mindestens achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit voraussagen (gemäss dem Netzwerktheoretiker Albert Laszlo Barabasi in einer Studie in der Zeitschrift „Science“).

Erinnern und Vergessen

Während früher das Vergessen einfach und das Erinnern aufwendig war, verhält es sich heute umgekehrt: Das Tattoo der Vergangenheit auf unserer digitalen Haut lässt sich kaum mehr entfernen. Wir sind so verwundbarer einer möglichen Überwachung gegenüber. Unsere Worte und Taten sind archiviert und in der digitalen Öffentlichkeit voraussichtlich über Generationen hinweg verfügbar. In vorauseilender Wachsamkeit üben wir dadurch womöglich Selbstzensur; wir überlegen uns zweimal, was wir sagen und was wir tun. „Dann beginnt die Zersetzung der Demokratie von innen.“

Vergessen ist eine Gnade. Es schafft freien Platz im Kopf, ist ein Mittel gegen Informationsüberflutung. Und indem wir vergessen, erlangen wir Fähigkeiten – und Intelligenz. Denn erst wenn wir Einzelheiten verknüpfen, weglassen, abstrahieren, beginnen wir zu verstehen. Erst dadurch schaffen wir Raum für Zusammenhänge.

Deshalb und angesichts der inzwischen allgegenwärtigen Erinnerungsmaschinen, genannt Internet, plädiert der Autor des Artikels  für eine Kunst des Vergessens, die in die juristische Debatte über Privatsphäre, Urheberrechte und Datenschutz in der digi­talen Öffentlichkeit einfliessen muss. Auch sollen digitale Daten technisch mit einem Verfalldatum versehen werden können. Ziel ist, dass sich der Mensch nicht immer mehr der Maschine anpasst, sondern dass die Maschine ein Werkzeug in der Hand des Menschen bleibt.

Den klugen Artikel von Eduard Kaeser möchte ich zur Lektüre wärmstens empfehlen. Er ist in der „Wochenzeitung“ erschienen und hier zu finden: „Googles gnadenloses Gedächtnis“ von Eduard Kaeser.

Bildnachweis: imagefactory

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4 comments

  1. Guter Artikel. Aber die Frage bleibt, wie können wir damit umgehen? Ein Verfallsdatum für Daten halte ich für undurchsetzbar. Ich glaube eher, dass die Menge der Daten, die sich übereinander ablagern, für deren allmähliche Zersetzung sorgen. Letztendlich müssen wir Nutzer umlernen und toleranter gegenüber Transparenz werden.

  2. Eduard Kaeser berichtet in seinem Artikel, dass die Möglichkeit diskutiert wird, auf technischer Ebene die Informationen mit Verfalldatum zu versehen beziehungsweise sie altern zu lassen, was offenbar durchaus lösbar ist. Es wäre dann weniger eine Frage der Durchsetzbarkeit denn ein Entscheid des Urhebers der Information.

    Toleranter werden gegenüber der digitalen Transparenz von uns Nutzern? Ja, warum nicht? Aber nur, wenn damit kein Schabernack getrieben wird. Und das halte ich unter den heutigen Bedingungen für illusionär.

  3. Seh ich überhaupt kein Problem > semantic web + zB Software wie Pivot von (ehhm, ja …) Microsoft. Die Datenmengen werden von Programmen verwaltet, gesichtet, geordnet + sind abrufbar nach Parametern, die der User über eine Maske eingeben kann > http://goo.gl/fMY5 (Gary Flake: „Is Pivot a turning point for web exploration?“ auf YouTube) Bin sicher, auch andere arbeiten an solchen Lösungen.

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