Blumenkübel statt Online-Handel

Den liebwertesten Gichtlingen des deutschen Einzelhandels dämmert so langsam, dass Amazon wie ein Staubsauger die Umsätze aus allen Handelssparten saugt. Nur wenigen Firmen gelingt es bislang, sich darauf einzustellen.

Jeff Bezos (Bild: Steve Jurvetson [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons)

In der aktuellen Ausgabe von „Focus“ gibt es auf Seite 102 den Digital Readiness Index mit dem Schwerpunkt Handel zu bewundern. Entwickelt wurde er vom Unternehmensberater Karl-Heinz Land, dessen Firma auch noch Neuland heißt – die Namensgebung wurde allerdings nicht mit der Kanzlerin abgesprochen. Land stellt auf Facebook folgende Fragen:

Wie steht es um die digitale Fitness des deutschen Handels? Ist es Zufall, dass Praktiker und ProMarkt zu den Schlusslichtern zählen? Kann es sein, dass es eine Korrelation zwischen Umsatz, Profitabilität und der Bewertung im Digital Readiness Index von Neuland gibt? Gefährden Unwissen und Ignoranz von Managern deutsche Unternehmen? Zahlen die Mitarbeiter von Praktiker, ProMarkt, Schlecker und Karstadt den Preis dafür? Was meint Ihr?

Amazon saugt alles weg

Auch den liebwertesten Gichtlingen des deutschen Einzelhandels dämmert so langsam, dass Amazon wie ein Staubsauger die Umsätze aus allen Handelssparten wegsaugt, wie es Kai Hudetz, Geschäftsführer des Kölner Instituts für Handelsforschung gegenüber „Focus“ ausdrückt. „Noch 2011 hatten viele deutsche Händler gehofft, dass sich das Internet hierzulande nicht so negativ auf ihre Umsätze auswirken werde wie etwa in den USA (Gleiches trällerten ja die Verleger, gs). Spätestens der Erfolg des Modehändlers Zalando hat sie wachgerüttelt. Alle großen Handelsunternehmen arbeiten inzwischen an Digitalstrategien“, schreibt „Focus“-Redakteur Holger Schmidt.

Der Neuland-Index zeigt allerdings, dass das bislang nur wenigen Firmen gelingt. 85 Kriterien lässt Neuland-Chef Land in den Index einfließen, um zu prüfen, ob ein Unternehmen schon in der digitalen Welt angekommen ist. Einige Faktoren erwähnt Holger Schmidt: „Existieren Apps für mobile Geräte? Wie ist der Kontakt zu den Kunden in sozialen Medien wie Facebook? Funktioniert der Onlineshop? Taucht das Unternehmen in den Suchmaschinen weit oben auf – und reagiert es schnell auf Kundenanfragen?

Kunden erwarten im Netz schnellere Lieferung, bessere Beratung und personalisierte Informationen. Kein umständliches Herumsuchen, keine komplizierten Shop-Systeme, schnelle Bestellung, einfache Handhabung. Und was ich an Amazon so interessant finde: Alles aus einer Hand. Das hat der Hamburger Trendforscher Professor Peter Wippermann im ichsagmal-Interview so schön auf den Punkt gebracht: Amazon taucht in den deutschen Handelsstatistiken gar nicht auf. Der Online-Händler entzieht sich der Branchen-Segmentierung:

Das hängt damit zusammen, dass es eben ein ganz anderes System ist. Amazon geht nicht über Branchen, sondern es geht über die individuell massenhafte Beziehung zu Kunden“, betont Wippermann. Deshalb halte ich das im „Focus“ erwähnte Argument von Hudetz für nicht stichhaltig: „40 Prozent der Online-Bestellungen beim Media-Markt werden in einer Filiale abgeholt. Diese Verknüpfung kann Amazon nicht bieten.

Stationäre Vollsortimenter werden verzichtbar

Das mag ja für Elektronikmärkte wie Media-Markt mit einer nicht überzeugenden Online-Präsenz der Fall sein. Diese Verknüpfung ist mir allerdings völlig wurscht, weil ich keine Lust habe, mich durch die Stadt mit dem Auto zu quälen, um eine Bestellung bei einem Filialisten abzuholen. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Wer Filialen vorweisen kann, sollte seinen Allerwertesten zu den Kunden bewegen und Waren vorbeibringen.

Das klassische Ladengeschäft muss nicht mehr Teil des Distributionsnetzes sein. Als Konsument möchte ich nur die allernötigsten Artikel an Ort und Stelle mitnehmen. Was darüber hinausgeht, soll mir nach Hause gebracht werden. Statt weit zu fahren, damit ich zu einem großen Sortiment komme, werde ich zu einem Showroom gehen, wo man mir das ganze Sortiment zeigt – echt oder virtuell“, sagt Moshe Rappaport, IBM-Experte für Technologie- und Innovationstrends.

Böser Beratungsklau

Es müssten nicht mehr alle Artikel im Laden vorrätig sein. Es reiche vollkommen aus, alles zeigen zu können. Nicht mehr das Produkt steht im Vordergrund, sondern der Service. Bislang passiert genau das Gegenteil. Auf die Ausdünnung der Innenstädte, wo ganze Shop-Gruppen wie Musikgeschäfte, Videotheken, Buchläden oder Elektronik-Filialen verschwinden oder ein kümmerliches Dasein fristen, reagieren die Funktionäre des Handels mit Kundenbeschimpfung und protestieren gegen den Beratungsklau via Smartphone und Co.: Ins Geschäft gehen, Produkt scannen und im Internet das günstigste Angebot einkaufen. Wo käme man da hin? Wie wäre es mit einem großen Warnschild mit einem übergroßen Mobilfunkgerät mit der Aufschrift „In diesem Geschäft muss ich aus bleiben“ oder so ähnlich. Das wäre doch die richtige Jägerzaun-Abschottungsvariante, die man auf der Verlagsseite mit dem Leistungsschutzrecht realisiert hat. Die Einzelhändler in St. Tönis klebten die Schaufenster ihrer Geschäfte aus Protest sogar mit schwarzer Folie zu, damit „ihre“ Kunden mal erleben, was das böse Internet so alles bewirken kann.

Von den Vorzügen durchbräunter „Beraterinnen“

Die Fußgängerzone der niederrheinischen Metropole mit ihren rund 50 „Fachgeschäften“ dürfte ungefähr so groß sein wie die Verkaufsmeile in Bonn-Duisdorf. Dort werde ich kompetent bedient von fünf Friseuren, vier Bäckereien, sechs Optikern, vier Döner-Grillmeistern und der üblichen Zahl an Telefon-Inkompetenz-hier-können-Sie-nicht-kündigen-Zentren. Nicht zu vergessen die unverzichtbaren Sonnenstudios mit ihren ganzjährig gut durchbräunten Beraterinnen, den obligatorischen Nagel-Fußpflege-Haarverlängerungs-Tempeln und Massage-Salons mit den Verkaufsschildern „Ohne Erotik“.

Was für eine Fachberatung bietet denn das Verkaufspersonal in den Fußgängerzonen-Läden? Wirkliche Profiberatung finde ich eher in Foren, YouTube-Filmen und bei den Kundenbewertungen im Netz, wenn sie nicht von irgendwelchen blöden Agenturen gefälscht werden. Preisvergleiche über spezielle Apps sollten für Verkäufer eher ein Ansporn sein für besseren Service und nicht mit Smartphone-Verboten beantwortet werden.

Virtuelle Assistenten optimieren den Einkauf

Deshalb ist auch die Anbieter-Diktatur von Markenartiklern und Fachhändlern ein hoffnungsloses Unterfangen, die wegen der „Beratungsintensität“ ihrer Produkte den Onlinehandel unterbinden wollen. Beratung bekomme ich über virtuelle persönliche Assistenten, die meine Einkäufe optimieren, Produkte und Dienstleistungen bewerten und über die Expertisen anderer Kunden informieren. Unternehmen, die mit ihren vernetzt organisierten Kunden nicht mithalten können, verschwinden vom Markt. Auch in St. Tönis.

Der stationäre Handel muss das aber nicht unbedingt begreifen. Die ehrbaren Blumenkübel-Kaufleute könnten ja den 6. August zu einem jährlichen Anti-Internet-Berners-Lee-Protest-Tag ausrufen. An diesem Tag ging nämlich vor 22 Jahren die erste Website online.

Mehr zu Themen des Netzes und dem digitalen Wandel gibt es auch vom European-Kolumnisten Lars Mensel in seinem aktuellen Artikel „Facebook im Wahlkampf: „Begeisterung kann man sich nicht kaufen“„.


Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf The European.


Teaserimage by Visitor7 (CC BY-SA 3.0)


Image by Steve Jurvetson (CC BY-SA 2.0)


ist Diplom-Volkswirt, lebt in Bonn und ist Wirtschaftsjournalist, Kolumnist, Moderator und Blogger. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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