Typisch Berlin: Selbst Diebe sind schneller und netter als die Verwaltung

Ein geübter Handgriff – und weg ist das Portemonnaie. Doch wie kommt man in Berlin an einen neuen Personalausweis, während in den Ämtern das Chaos regiert? Es ist Freitagnacht gegen zwei Uhr. Ich bin auf dem Heimweg von einer Party, müde und leicht beschwipst stehe ich an der Haltestelle. Während ich auf die Bahn warte, lese ich ein bißchen im Internet – ich hätte es dem Taschendieb kaum leichter machen können. Ich bemerke, wie jemand schräg hinter mir in meine Umhängetasche greift und drehe mich erschrocken um, zu langsam, um zu verstehen. Wer ist der junge Mann, und wieso hat er meinen Regenschirm in der Hand? Er ist scheinbar ebenso erstaunt wie ich, drückt mir den Schirm wieder in die Hand und läuft davon. Ich stehe verdattert da. Was war das? Dann dämmert es mir langsam. Ich krame in der Tasche: tatsächlich, das Portemonnaie ist weg. Ich versuche noch ein paar Schritte in die Richtung, die der Mann eingeschlagen hat – aber vergeblich, er ist natürlich längst verschwunden. Und ich bin einfach nur genervt.

Wie vertrackt die Lage wirklich ist, wird mir erst später klar. Wo ich früher wie selbstverständlich mit EC-Karte gezahlt habe, muss ich jetzt Bargeld abzählen und hoffen, dass ich lange genug damit auskomme. Das Geld musste ich mir natürlich auch erst einmal leihen. Wie sich nämlich bald herausstellt, stellt meine Hausbank selbst langjährigen Kunden kein Bargeld zur Verfügung, wenn sich diese nicht mit einem gültigen Lichtbilddokument ausweisen können. Einen abgelaufenen Reisepass kann man bei so etwas leider nicht anerkennen, auch nicht ausnahmsweise. Das Problem: Es sind nur noch wenige Tage bis Weihnachten. Und in den Bürgerämtern ist die Hölle los.

In Berlin gehen die Uhren anders

In Deutschland gilt das so genannte Personalausweisgesetz. Laut diesem bin ich ich rein technisch verpflichtet, einen Personalausweis vorzeigen zu können. Rein technisch müsste man mir deshalb zumindest einen vorläufigen Ausweis ausstellen. Das ist in Berlin leider nicht so einfach: Neben dem ganzen LaGeSo-Chaos, das mittlerweile deutschlandweit bekannt ist, gibt noch viel alltäglichere Baustellen, an die sich alle längst gewöhnt haben. Zum Beispiel, dass Amtsgänge hier schon mal mehrere Wochen dauern können. Oft genug werden Leute einfach wieder nach Hause geschickt.

Die Stadt hat versucht, zumindest ein klein wenig Ordnung in die Sache zu bringen, indem man über das Internet Termine zum Buchen anbietet. Der neueste Coup: eine Gruppe Hacker programmiert einen Bot, der direkt alle Termine wegbucht und sie anschließend verkauft. Und Berlin tut was? Gar nichts, denn Berlin ist bereits längst kollabiert. Alle wissen das. Niemand von denen, die hier auch leben, reißt mehr Witze darüber. Die Zeiten sind längst vorbei.

An der Tür zum Bürgeramt werde ich das erste Mal aufgehalten: sie ist geschlossen. Ein Blick auf die Öffnungszeiten verraten mir, dass es eigentlich noch mindestens fünf Stunden geöffnet sein müsste. Eine Tür weiter störe ich den Pförtner, der gerade in sein Handy schielt. Er teilt mir mit, dass die Behörde eine neue Software bekommt – bis das alles eingerichtet ist, dauert das eben.

Der Perso – noch zeitgemäß?

Nun ist die Erstellung eines identitätsbestätigenden offiziellen Dokuments an sich keine vollkommen schlechte Idee – aber viele Länder sind damit schon deutlich weiter als Deutschland. Die unsinnige, weil aufwendige und teure Trennung zwischen Reisepass und Personalausweis mal ausgenommen, erinnert sich sicher so mancher an die datenschutztechnischen Bedenken, die mit dem neuen Personalausweis in Chipkartenform aufkamen. Und wozu überhaupt die zwingende Meldepflicht? Für vielreisende EU-Bürger ist die Praxis eher ein Hindernis als eine Weiterentwicklung, erst recht, wenn die Ämter mit der Arbeit kaum hinterherkommen.

Mittlerweile haben Länder wie Dänemark, Island, Norwegen und Großbritannien auch den Personalausweis abgeschafft – und wundersamerweise stolpere ich bei meiner Recherche über keinerlei chaotische Zustandsberichte. Nicht mal die USA, die sich sonst behördlich nicht unbedingt als Vorbild präsentieren, wenn man sich deren Gesundheits- und Wahlsystem in Erinnerung ruft, dienen hier als adäquates Gegenbeispiel – hier kann man mit einem simplen Führerschein oder seiner Social Security Card so ziemlich überall hin. Und sogar in der als spießig verrufenen Schweiz kann man problemlos nur mit Vorlage eines Reisepasses arbeiten. Nach Schengen sollte das vielleicht das nächste anzustrebende Ziel sein, denn die technischen Voraussetzungen sind eigentlich längst vorhanden.

Frisch laminiert

Zwei Tage später stehe ich wieder vor dem Bürgeramt in einer Schlange, die um den halben Häuserblock reicht. Mittlerweile ist der 23. Dezember, und alle sind noch etwas abgehetzter als sonst. Es geht nur mühsam voran, die Stimmung ist gereizt. Nach fast zwei Stunden Wartezeit halte ich endlich einen Zettel mit einer Wartenummer in der Hand, sogar mit Uhrzeitangabe: in zwei Stunden und 12 Minuten ist ein Slot frei. Ich kann bis dahin andere Sachen erledigen. Immerhin, es gibt ein System, und es funktioniert. Exakt nach Ablauf der Wartezeit stehe ich wieder in der Behörde und schaue auf die Anzeigetafel, die mich kurz darauf zu einem Bearbeitungsplatz zitiert. Der mir zugeteilte Sachbearbeiter ist erstaunlich entspannt, von der ermüdenden Genervtheit, die draußen im Flur hängt, scheint er hier drin nichts mitzubekommen. Sein System funktioniert. Er stellt mir einen vorläufigen Personalausweis aus. Für einen ‚richtigen‘ Ausweis muss ich trotzdem noch einmal wiederkommen. Er kann mir einen Termin anbieten, den ich nicht erst kaufen muss. Allerdings: erst für Ende Februar.

Nachtrag: Am Silvestertag gehe ich zum Briefkasten. In ihm befindet sich ein fest verpacktes Päckchen. Ich rupfe es auf – das Portemonnaie ist zurück, und mit ihm sämtliche Karten und auch mein Personalausweis.

Auf dem Umschlag befindet sich kein Absender, daher bleibt mein Dank, bis auf diesen Artikel, leider ungehört. Ich lebe also in einer Stadt, in der man sein Zeug schneller von den Dieben selbst zurückbekommt, als dass sich die offiziellen Stellen kümmern können. Dieses Ende ist auch wieder ziemlich typisch für diese merkwürdige Stadt. Es funktioniert nicht, aber es geht, irgendwie.


Teaser & Image „Erika Mustermann“ (adapted) by Lumu (CC0 Public Domain)


ist freischaffende Autorin und Redakteurin bei den Netzpiloten. Sie ist Historikerin, Anglistin, Kinonerd, Podcasterin und Hörspielsprecherin. Seit das erste Modem ins Elternhaus einzog, treibt sie sich in allen möglichen Ecken des Internets herum. Sie twittert als @keksmadam und bloggt bei Die Gretchenfrage. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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