PROF. SILBERZUNGE: Peter Kruse – die deutsche Stimme des Web?

Church of Kruse

„Die Lawine ist nicht mehr aufzuhalten und donnert bereits zu Tal. Überzeugungsarbeit, und da bin ich sehr relaxt, ist da eigentlich nicht notwendig: Und bist du nicht willig, so brauch ich … Geduld.“ Standing Ovations im riesigen Friedrichsstadtpalast. Die zum deutschen Blogger-Kongress re:publica versammelten Praktikanten, Studenten, NGO-Jobber, Software-Entwickler und Digitalen Bohemiens bejubeln den Vortrag eines Bremer Unternehmensberaters: „What’s Next – Wie die Netzwerke Wirtschaft und Gesellschaft revolutionieren“. Danach überall begeisterte Kommentare im Social Web: grandios, rockt das Haus. Netzwerk-Gospel in der Church of Kruse. Mein Lieblings-Tweet ist von Anna Log: „Wenn ich das richtig verstehe, erklärt Peter Kruse hier Buddhismus anhand des Web 2.0.“
In den letzten paar Monaten hat Peter Kruse eine Leerstelle besetzt: Er ist die Stimme des Deutschen Web in den bürgerlichen Medien geworden: Frankfurter Rundschau, SZ, ZDF. Vorher gab es da eigentlich nur den Journalisten Mario Sixtus und den Werber Sascha Lobo. Das sind zwar hochintelligente Leute mit viel Web-Erfahrung, aber sie positionieren sich schon rein optisch als schräge Nischen-Kunstfiguren: Sixtus bis vor kurzem als „Der Elektrische Reporter“ mit einem selbstironischen NeueDeutscheWelle-Retro-Styling, und Lobo dauerhaft maskiert als Berliner Asi-Bierpunk.
Nun gibt es also für das aufgeschlossene Bildungsbürgertum einen dritten farbigen Charakter: „Professor Peter Kruse“, mit weißem Vollbart statt rotem Irokesen. Prompt war er mit den beiden anderen beim ZDF-Nachtstudio eingeladen und redete den erstaunlich gehemmt wirkenden Lobo locker an die Wand. Wie die beiden Jüngeren hat er Humor, redet und denkt sehr schnell und nutzt den Rückenwind der Web-Kulturrevolution, die schon deshalb alle so nervös macht, weil es eigentlich eben keine Großen Männer gibt, an denen man diese Geschichte festmachen kann. Da möchte man wenigstens einen Welterklärer. Und Kruse macht das ja sehr charmant. Ein brillanter Performer im Stil der angenehmeren Megachurch-Evangelisten.
Den Aufstieg zum Professor Internet vollzog der 55jährige Kruse erstaunlich schnell: Seit 2008 steht eine gut gemachte YouTube-Interview-Serie zu Themen rund um Change Management ins Netz, mit Abrufzahlen zwischen 8000 und 18000. In Folge 6 äußerte sich Kruse erstmals zum Web 2.0 – übrigens eher skeptisch und wenig informiert, er rief nach dem Semantic Web als Gegenmittel gegen die Trivialität der Massen. Erst seit 2009 positioniert er sich sehr gezielt als Internet-Autorität und Web 2.0-Versteher: Er gab Interviews für das Politik 2.0-Buch Reboot D, in der FR und in der SZ. Es folgten der Auftritt im ZDF, der Triumph auf der re:publica und am letzten Wochenende ein ausgesprochen unfairer Verriss in der FAZ, der die Kruse-Gemeinde empörte und weiter zusammenschweißte. Kein Zweifel: Den Mann werden wir noch öfter sehen.

Godzilla vs. King Kong
 
Vor ein paar Monaten kritisierte Kruse die Internet-Kritik des großen Frank Schirrmacher in der SZ recht vollmundig: „erstaunlicher Denkfehler“, „Einseitigkeit der Perspektive“, „outet sich als fremdelnder Netzwerk-Besucher“ … „Da kann man schon mal ein wenig überfordert sein, nicht wahr, Herr Schirrmacher?“ (Daneben bietet dieses Interview auch die bisher klarste Zusammenfassung der Kruse’schen Kernsätze.)
Das war ein geschickter Schachzug. Godzilla Schirri, der von King Kruse noch nie etwas gehört hatte, nahm unwillig zur Kenntnis, dass da jetzt noch ein zweiter Monsterbürger aufgestanden war, der den Deutschen das Netz erklären will. Die Rache des FAZ-Imperiums ließ nicht auf sich warten. Man schickte den Kulturkritiker Edo Reents, um diesem aufgeblasenen Gegen-Guru mit einer Polemik die warme Luft herauszulassen. Völlig legitim eigentlich, aber der Artikel arbeitete dann auf fast schon bösartige Weise mit schlecht recherchierten Unterstellungen: Da wurde suggeriert, Kruse stelle sich als erfolgreichen Unternehmensberater dar, aber viele der angeblichen Kunden hätte noch gar nichts von ihm gehört, und sein vollmundig angepriesenes Sozialforschungs-Tool „nextexpertizer“ sei sowieso unseriöser Unsinn. Das ist alles sehr oberflächlich ausgebreitet und zitiert werden durchwegs recht zweifelhafte „Experten“. (Ein weiteres Argument, sich über den bestehenden Untergang des papiergebundenen „Qualitätsjournalismus“ nicht weiter zu grämen.)
Beide Vorwürfe stimmen jedenfalls nicht. (Hier eine ausführliche Widerlegung.) Kruses Firma nextpractice inszeniert seit 2002 durchaus erfolgreich Vernetzungs-Erlebnisse mit 500 Laptops für Kunden wie z.B. Metro, Obi, Otto, Daimler und die Bertelsmann Stiftung. Es geht da um Change Management-Beratung und Mitarbeiter-Motivation. Wenn das gelegentlich ein wenig oberflächlich daherkommt, liegt das an der Branche selbst: Managementberatung dieser Art ist halt so. Nextpractice macht da vergleichsweise einen eher soliden und ernsthaften Eindruck. Das Personalmagazin wählte Kruse 2009 zum dritten Mal in Folge in die Liste der „40 führenden Köpfe im deutschen Personalwesen“. Das macht ihn nicht zu einer richtig großen Nummer, aber ganz sicher zu einem gut etablierten Profi.
Und das computergestützte, qualitative Interview-Verfahren „nextexpertizer“, das Kruse jetzt auch als Werkzeug für große gesellschaftliche Trend-Studien einsetzen will, beruht auf einem erprobten, wissenschaftlich anerkannten Verfahren: dem „Repertory Grid“ des US-Psychologen George A. Kelly.Der Link dorthin findet sich zwar nicht auf der Webseite von nextpractice, aber auf der Wikipedia-Seite zu Kruse, die offenbar vom Kruse-Team geschrieben wurde.

Journalistisch ist das Vorgehen der FAZ also unter aller Kritik. Trotzdem: Der erste große Kruse-Verriss war unausweichlich. Wenn es nicht Reents gewesen wäre, hätte es eben ein anderer gemacht. Wenn sich jemand so selbstgewiss und durchdrungen von der eigenen Welterklärungs-Botschaft als öffentliche Figur ins Rampenlicht stellt, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Gegenrechnung aufmacht. Und Kruse gibt sich schon ein paar Blößen.
What’s Next – A Matter Of Fact in A World Of Values
 
„Was hat Reents da nur geritten?“, fragte Kruse auf Twitter, ohne dabei besonders irritiert zu wirken. So schwer zu beantworten ist das eigentlich nicht, auch wenn man mal die Schirrmacher-Fehde ausklammert. Tatsächlich gerät jeder in ziemlich nebliges Terrain, der harte Fakten und Hintergründe zu Kruse und seinen Ideen sucht.
Die nextpractice.de-Website atmet visuell und sprachlich noch ganz den Ungeist der unseligenen Bubble-Jahre: Hochglanz-Flash-Animationen eingebettet in technoides Dunkelgrau, eine Art Slideshow aus Fotos von Horst Köhler, gemischtrassigen jungen Menschen und perfekt designter Loft-Architektur, animierte Werbeslogans, Testimonials begeisterter Kunden, die Präsentation der Referenzprojekte immer ein wenig zu überschwenglich und zu verschwommen. Und die Sprache ist entsetzliches PR-Chinesisch: „nextpractice verbindet modernste Forschungserkenntnisse mit umfangreicher Beratungserfahrung zu innovativen Lösungsansätzen. Ein Team aus 40 Psychologen und Informatikern um Prof. Dr. Peter Kruse entwickelt maßgeschneiderte Interventionsansätze zur Entscheidungsunterstützung sowie zur Förderung und Nutzung kollektiver Intelligenz.“
Das klingt alles nicht nach Web 2.0, sondern nach Management-Theorie 1.0, Stand 1999. Jedenfalls ist es das genaue Gegenteil der „menschlichen Stimme“, die das berühmte Cluetrain-Manifest, das Kruse gern zitiert, auch und gerade von Unternehmen einfordert (hier ist die beste deutsche Übersetzung). Dass ist seltsam: Gerade dass er bei öffentlichen Auftritten diese authentische Stimme findet, macht ja gerade seinen Erfolg aus. Wer ihn als Redner bei der Econ-Agentur bucht, bekommt auf jeden Fall etwas fürs Geld.
Die Methode
Wenn man sich fragt, wo hinter Kruses geschliffener Rhetorik der substanzielle Kern steckt, dann ist die Antwort: Am ehesten in der „qualitativen“ Methode seiner Repertory Grid-Interviews, über die die FAZ sich zu Unrecht lustig machte. Die peinlichste Stelle des Artikels ist da, wo Reents den Begriff „qualitativ“ mißversteht und nur als weiteren Beleg für Kruses Größenwahn interpretiert. Tatsächlich wird „qualitativ“ in der Sozialforschung im Gegensatz zu „quantitativ“ verstanden: also Forschung, die nicht auf der statistischen Auswertung möglichst großer standardisierter Messreihen beruht, sondern auf komplexeren sprachlichen Informationen, die man erst interpretieren muss, um ihre Bedeutung freizulegen.
Das Interessante an Kruses Grid-Interviews ist, dass sie „halbstandardisiert“ sind: Sie sollen das je individuelle Begriffsfeld erschließen, mit dem die Leute einen Ausschnitt ihrer Welt ordnen. Zum Beispiel ihr Verhältnis zum Internet, oder zu Autos, oder zur eigenen Firma. Eine Untersuchung besteht dann aus 100 oder 200 von solchen relativ aufwändigen Interviews, in denen Begriffspaare und Bewertungen systematisch abgefragt werden, ohne den Leuten schon vorher etwas in den Mund zu legen. Resultat sind semantische Räume, die man mit Hilfe der nextexpertizer-Software nach allen möglichen Gesichtspunkten betrachten und auch zu kollektiven Räumen zusammenblenden kann.
Diese Computerumsetzung des Kelly’schen Grid-Verfahrens wurde, wie es scheint, von dem verstorbenen Psychologen Arne Raeithel entwickelt, mit dem Kruse Mitte der 1990er Jahre wissenschaftlich zusammenarbeitete. Irgendwann um 2000 herum scheint er dann mit seinen Geschäftspartnern daraus das nextexpertizer-Tool mit dem attraktiven Infografik-Design entwickelt zu haben. (Es gibt in Oldenburg noch eine andere Version.)
Inhaltlich ist das ernstzunehmen. Mit mir selbst wurde mal ein solches Interview gemacht. Vermutlich ging es sogar in die Studie über „Digital Visitors“ und „Digital Residents“ ein, die Kruse bei der re:publica präsentierte. Das dauerte fast eine Dreiviertelstunde. Das Prinzip ist eigentlich simpel, aber es erzeugt jedenfalls sehr viel komplexere und authentischere Ergebnisse als die üblichen Fragebogen-Aktionen.
Die relativ kleine Zahl von Interviews, die man so machen kann, ist bei der Arbeit in Unternehmen kein Problem. Schwieriger ist es, daraus wissenschaftliche Aussagen über tiefgründige Umbrüche in der ganzen Gesellschaft abzulesen, wie es Kruses gerade gegründetes Institut tun soll. Das trägt den volltönenden Namen „What’s Next? – International Institute for Cultural Understanding and Participation (II-CUP)“ und soll künftig „unter CC-Lizenz“ die ganze Gesellschaft mit den Resultaten eines „Gesellschafts-Monitoring“ versorgen, „zu relevanten Schwerpunktthemen wie Arbeit, Bildung, Gesundheit, Ernährung, Mobilität, Umweltschutz etc.“
De facto ist das derzeit eine Website, die Kruses Studien-Resultate zu großen gesellschaftlichen Themen in Form von Video-Statements verbreitet – mündlich ist er bei weitem am besten. Ich frage mich allerdings, was da künftig dann unter CC veröffentlicht werden wird: Das müssten ja die kompletten Daten und Auswertungsgrafiken der Grids sein. Hochinteressant, aber bisher habe ich solches Material noch nirgends gesehen. Bisher ist man für die Auswertung immer auf den Meister angewiesen, der einmal beiläufig sagte, dass es außer ihm selbst höchstens noch eine andere Person bei nextpractice gebe, die diese Muster erkennen und interpretieren könne.
Limbisches System
  Ich mag Kruse, aber ein leichtes Unbehagen bleibt. Nicht wegen seiner Beraterfirma und auch nicht, weil er sich selbst recht bewusst inszeniert. Der insgesamt eher amateurhafte deutsche Web 2.0-Diskurs kann ein paar Profis als Frontleute gut gebrauchen, sofern sie den Cluetrain-Kriterien genügen. Seine Werte teile ich. Mein Problem ist das, was er da mit Professoren-Nimbus als wissenschaftlich-theoretisches Fundament präsentiert.
Wenn Kruse über das Netz redet, tut er es nicht aus dem Blickwinkel des sauertöpfischen Zaungasts der 2.0-Party, wie er es Schirrmacher vorwirft. Eher aus der freischwebenden Perspektive eines entspannten Überfliegers, der das bunte Gewirr da unten aus 1000 Meter Höhe betrachtet. Was uns da unten groß und wichtig erscheint, wird von da oben plötzlich nichtig und klein. Was die Web 2.0-Aktivisten und Entwickler jeden Tag in unzähligen Blogs diskutieren, alle die vielfältigen und widersprüchlichen Praktiken, alle die komplizierten Technologien und Applikationen, alle die verwirrenden politischen und ideologischen Fragen. Alles ist Netzwerk, alles ist Emergenz, alles fließt.
Da verfließt aber auch sehr leicht die Abgrenzung zur wirklich windigen „Zukunftsforschung“. Kruse muss aufpassen, dass er nicht zum Horx 2.0 wird. Auch der exakt gleichaltrige Matthias Horx hat ja 1997 ein erfolgreiches „Zukunftsinstitut“ gegründet, auch er redet natürlich vom Schmetterlingsflügeleffekt, von emergenten Systemen und der Netzwerkgesellschaft. (Das Web 2.0 hat er bislang gottseidank ausgelassen, wahrscheinlich wird dort zuwenig Geld verdient.)
Nun ist Kruse anders als Horx ja kein Ex-Feuilletonist. Er hat ja tatsächlich „sehr viele Jahre auf der Schnittfläche zwischen Experimentalpsychologie und Neurophysiologie gearbeitet„, wie er gleich zu Beginn des re:publica-Vortrags sagte. Da zeigte er Folien zum „limbischen System“ im Gehirn und verwies ständig auf irgendwie hochkomplexe Zusammenhänge der System- und Netzwerktheorie. Aber wie hart ist das wirklich, was er da vorträgt? Ein paar ausgeliehene Metaphern sind ok, pseudo-wissenschaftlicher Quark nicht.
Kruse ist 2001 Honorarprofessor für Organisationspsychologie im heimatlichen Bremen geworden, weil er zu dem Zeitpunkt schon erfolgreicher Unternehmer und Consultant war.Da lag seine ‚harte‘ Wissenschaftler-Zeit als experimenteller Psychologe schon ungefähr 5 Jahre zurück. Die intellektuellen Grundlagen seiner Managementtheorie liegen nicht in der harten Psychologie und in der Hirnforschung, wie er suggeriert, sondern eher in Ansätzen der „systemischen Therapie“ die seit Anfang der 1990er im Umfeld des „Radikalen Konstruktivismus“ recht bunt blühen (etwa hier).
Geistesgeschichtlich ist das sehr interessant: Um 1990 gab es eine ganze Reihe von hochabstrakten naturwissenschaftlichen Theorien, die man zuerst interdiziplnär verallgemeinerte und dann zu einer wolkigen Mixtur aus Philosophie und Therapie mit New Age-Einschlag verwurstete: Chaosforschung, Synergetik, „kollektive Intelligenz“ … All das findet sich auch bei Kruse wieder, und es bleibt so vage, dass man schlicht nicht sagen kann, was genau dahinter steckt.
Es scheint, dass Anfang der 90er Jahre sich im Raum Bremen/Oldenburg/Hamburg rund um die Forschergruppe „Interdisziplinäre Kognitionsforschung“ ein Wissenschaftler-Biotop gebildet hat, in dem alle Versatzstücke der Kruse’schen Metatheorie bereits im Umlauf waren, einschließlich Psychotherapie und Computerlinguistik. Auch der Psychologie-Privatdozent Raeithel, der erste Entwickler der Grid-Software, gehörte dazu. Das waren offenbar Leute, die in den 1970er Jahren eigentlich eher von weichen, linkshumanistischen Positionen herkamen und sich dann den harten Naturgegebenheiten zuwandten: dem Hirn und dem Markt.
Die Rede vom „limbischen System“ übernimmt Kruse von Gerhard Roth, dem Oberhaupt der Bremer Schule der Hirnforschung, der auch ständig mit Hirn/Kognition kurzschlüssig kulturelle Phänomene erklärt. Hier lässt sich gut zeigen, was mich stört: Erstens ist das „limbische System“ als harte wissenschaftliche Theorie offenbar seit etwa 2000 obsolet. Und zweitens: Wozu braucht Kruse das limbische System überhaupt für seine sprachlich-semantischen Analysen von Werten (was ist das eigentlich?) Da bieten sich viel eher die strukturalistischen Textanalysemethoden an, die auf Jakobson und Greimas zurückgehen. Mit einem psycho-physiologischen „Unbewussten“ (was immer das ist) hat das, anders als Kruse sagt, erst einmal gar nichts zu tun.
Kruse hat sich ein selbstbezügliches, recht abstraktes Begriffsnetz geschaffen, bei dem nirgends klar ist, auf was es sich wissenschaftlich-theoretisch genau bezieht. Es gibt ja interessante Theorien von „Netzwerk“, „Emergenz“, sogar von „kollektiver Intelligenz“, es gibt gute Bücher darüber, aber wenn Kruse hier selbst ein fundiertes Konzept hat, hat er es jedenfalls bis jetzt nirgends beschrieben. Er schreibt überhaupt wenig, jedenfalls nichts, was über seine mündliche Change-Rhetorik hinausgeht.
Ist das ein Problem? Ja. Der Diskurs über das Web hat intellektuelle Härte nötig. Das Web ist ein sehr komplexes, schwer greifbares Gebilde aus Strom, Schaltungen, Menschen, Sprache und Code. Es bietet sich an als Objekt für wirre Diskurse und Pseudotheorien aller Art. Wenn jemand ausdrücklich als Professor auftritt und über die intellektuellen Mittel verfügt, das aufzuklären, muss er es tun. Hier ist Kruse ein ausgiebiger Griff zu Ockhams Rasiermesser dringend zu empfehlen.
Die Stimme
Kruse selbst hat gar nicht sehr viel mit dem Web zu tun, in dessen Namen er spricht. Seine Software ist ja keine Web-Software, seine Netzwerke schaltet er seit 2002 vor Ort aus 500 Laptops zusammen. Seine Netzwerk-Resonanz-Ideen projiziert er lediglich auf das Web, um sie dort dann unverändert wiederzufinden. Er ist kein „Resident“: Er lässt Videos veröffentlichen und seit einem Jahr hat er einen Twitter-Account, den er nur für Aphorismen und Link-Empfehlungen nutzt. Er folgt den wichtigsten Enterprise 2.0-Twitterern, aber ich habe noch nie eine Spur der ganzen ausgedehnten Enterprise 2.0-Diskussion bei ihm gefunden.
Es ist also nicht so sehr das Was, es ist das Wie. Vor allem anderen ist Kruse ein brillanter Redner. Er ist The Voice. Was macht ihn so charismatisch?
– Er bedient das Klischee des „unkonventionellen weißhaarigen Genies“, das zurückgeht auf den Zunge zeigenden Einstein der 1950er Jahre. – Er zweifelt so wenig am eigenen Weltbild wie jeder Megachurch-Evangelist. Er spricht jederzeit druckreif und zugleich im Konversationston. Er ist sich völlig sicher, aber nie klingt es papieren oder professoral. – Er wirkt nie auf penetrante Weise eitel. Er posiert nicht, er ist einfach so: eine geborene Rampensau. Diese perfekte Mischung von Ego und Understatement ist ausgesprochen selten und beeindruckend. – Er hat ein ausgezeichnetes Gefühl für aphoristische Bonmots – das waren die Stellen, an denen das re:publica-Plenum regelmäßig jubelte. – Er ist enthusiastisch. Er meint zweifellos alles ernst, was er sagt. – Und er sagt nie unbequeme Dinge. In einer Umbruchszeit verbreitet er eine Atmosphäre von Souveränität und Fortschrittsoptimismus, an der wir unsicheren Erdenbürger gern teilhaben. Sein Aufstieg begann nicht von ungefähr nach dem Platzen der Bubble, seitdem alle wissen, dass es mit den alten Sicherheiten vorbei ist.
Das alles sind Merkmale, die auch die ideale Stimme des Web ausmachen. Kruse klingt wie das Web, wie die kollektive Stimme des anspruchsvollen Teils der Blogosphäre. Aber wenn er diese Sprecherrolle gegenüber dem Mainstream wirklich aufüllen will, muss er noch sein ganzes Auftreten radikal cluetrainisieren. Das braucht vor allem Offenheit, den Verzicht auf konventionelles Marketing, die echte Verlagerung des eigenen Denkens und Kommunizierens ins Web. Wenn er das tut, bin ich gern mal zu Gast in der Church of Kruse. Solange er das nicht macht, bleibt er ein Bauchredner.

befasst sich als selbständiger Forscher und Berater mit Wissensarbeit, Informationsflüssen und Lernprozessen in der Google-Galaxis. Er erforscht und entwirft konkrete Lösungen für digitale WissensarbeiterInnen (Enterprise 2.0, e-Learning) und publiziert dazu in englischer und deutscher Sprache.


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50 comments

  1. Ob Kruse nun der Horx 2.0 oder der Beckenbauer des Internet ist, ist mir egal. Er bringt die Dinge auf den Punkt. Er erklärt komplexe Zusammenhänge so, dass ich sie verstehen kann. Und er tut es mit einer Leidenschaft, die begeistert. Es gibt viel zu wenig Kruses!

  2. Lieber Herr @Wittkewitz – Das ist doch Ansichtssache. Derjenige der mir die Antworten gibt, ist für mich der, der die komplexen Zusammenhänge verstanden hat.

  3. „Der insgesamt eher amateurhafte deutsche Web 2.0-Diskurs kann ein paar Profis als Frontleute gut gebrauchen, sofern sie den Cluetrain-Kriterien genügen.“

    Hier stimme ich Dir voll und ganz zu. Ich finde das die Sprecher-Rollen des massenmedialen Diskurses äußerst schlecht besetzt sind. Kruse bringt gar nichts auf den Punkt, sondern erzählt der Webgemeinde was sie gerne hören möchte und erntet dafür Applaus und Zustimmung.
    Zumindest war das mein Eindruck nachdem ich einige Vorträge von ihm gehört habe. Umbruch, Revolution und Macht der Netze. „Ihr würdet Euch wünschen wir wären politikverdrossen.“ Aha. Klingt toll, klingt aber auch mehr nach Hoffnung als nach Befund (obwohl die Aussagen häufig im Gewand des Befundes daherkommen). Das Kruse so präsent sein kann ist kein Zufall. Der Diskurs schreit nach einem Experten, der mit wissenschaftlichen Autorität auftritt. Zwar tritt Kruse mit wissenschaftlichen Nimbus auf, ihm fehlt schlicht und einfach die Expertise wenn es um das Internet geht.

    Lobo und Sixtus haben sich das falsche Image aufgebaut um im massenmedialen Diskurs wirklich ernst genommen zu werden.

    Aber nicht nur bei Honorarprofessor Kruse vermisse ich inhaltliche Substanz. Auf der Seite derjenigen die gerne Kritiker sein möchten sieht es erschreckend öde aus.
    Entweder trifft ihre Kritik den Kern der Problematik gar nicht (siehe Schirrmacher) oder sie beschränkt sich darauf, dass in einem bildungsbürgerlich-pessimistischem Sound der Untergang des Abendlandes beschworen wird (Feuilletons von FAZ bis ZEIT). Dies bringt den Diskurs aber kaum weiter.
    Was ich mir in diesem Diskurs wünschen würde sind ein Befürworter mit Expertise und ein Kritiker mit einer fundierten Kritik.
    Befunde Studien und Literatur zum Thema gibt es doch genug. Ich würde mich freuen wenn diese von den „Sprechern“ wahrgenommen werden würde und eingang in den Diskurs finden würden. Auf mich macht es den Eindruck als würden beide Seiten nur den Erwartungen ihre Klientels entsprechen. Das ist wirklich amateurhaft.

  4. Vor Jahren war es wohl noch möglich, dass Unternehmer die Atrologieberatung steuerlich absetzen konnten. :-)

    Heute es es einfach , da Horx und Kruse „anerkannte Größen “ sind.

    Wie war das noch mit Andersen und dem Märchen : Des Kaisers neue Kleider.

    Und was die Begriffe von quantitativ und qualitativ betrifft.

    Qualitative Marktforschung wird schon seit Jahrzehnten durchgeführt.

    Was da neues sein soll???

    Aber Kruse hat ein gutes Marketing. Unbestritten!

    Fast so gut wie Nestle LC1 Yoghurt

    Wie hieß es einmal bei Danone:

    Wir kriegen Euch alle!

    So ist es auch bei Kruse und Horx.

  5. Nachtrag:

    Kruse-Gemeinde eine sehr treffende Beschreibung!

    Erinnert das nicht ein bißchen an die Gurus und ihre Jünger??

    Hare Krischna Hare Rama :-) :-)

  6. Nachtrag 2

    Stilblütem aus dem Unternehmen nextpractise:

    Aus der erzeugten Matrix lässt sich unmittelbar nach Abschluss eines Interviews ein mehrdimensionaler Bedeutungsraum berechnen (Single-ESA), der die persönliche Sichtweise des Befragten anschaulich und vergleichbar macht. In der Gruppenauswertung wird über speziell entwickelte Algorithmen ein Gesamtbedeutungsraum (Multi-ESA) berechnet, der einen Zugang zu dem intuitiven Bewertungsmuster der befragten Gruppe ermöglicht und vielfältige Detailanalysen zulässt.

  7. Lieber Martin Lindner, Sie haben mich doch schon zu Hause und in der Firma besucht. Sie sind mit ein Grund für mein Interesse an den Entwicklungen des Web 2.0. Rufen Sie mich doch einfach an, wenn Sie weitere Informationen brauchen oder konkreten Klärungsbedarf haben? Mag sein, dass mich die eigene Begeisterung manchmal zu weit trägt, aber der Versuch, das Netz und seine Möglichkeiten zu verstehen,ist mir persönlich wichtig geworden. Nobody is perfect.

  8. „Ich mag Kruse, aber ein leichtes Unbehagen bleibt.“ So geht es mir. Mir fehlen Bildung und Grips, um hinter die Kulissen zu schauen. „Er erklärt komplexe Zusammenhänge so, dass ich sie verstehen kann.“ Das ist mir zu wenig. Ich will, dass die Erklärung auch noch stimmt. Dazu brauche ich Wissenschaftler wie Martin Linder. Und was er geschrieben hat verstehe ich und es wird auch noch belegt.

  9. Mir erscheinen diese Rundumschläge und Ping-Pong-Spiele mit irgendwelchen Klischees angefangen von der FAZ über diesen Beitrag hier bis zu einigen Kommentaren nicht wirklich sinnstiftend. Deshalb meine Frage: Müssen wir diese ermüdenden Profilierungsschlachten hier im Web weiterführen?
    Wär‘ klasse, wir könnten uns wieder konstruktiv und kreativ mit den Veränderungen, die uns alle bewegen, auseinandersetzen. Insofern chapeau vor Menschen wie Professor Kruse, die den Mut haben solche auch zu benennen. Die Resonanz ist ja auf alle Fälle da.

  10. Ein Wagnis: Ist Prof. Kruse einer der Funken, der dem sozialen Netzwerk das „SELBS-BEWUSSTSEIN“ oder das Selbstverständnis gibt? Vergleichbar mit dem Augenblick indem das Kinde, zum ersten mal begreift, dass es sich selber ansieht.

  11. @martin

    ich bin wirklich an erkenntnisgewinn interessiert!

    was ist „harte Psychologie“?

    dein artikel macht auf mich den eindruck, dass du in der form kritisierst die du kritisierst.

  12. Ja, das ist eine sehr gute, sympathische, abwägende und sich klug herantastende Analyse, die Martin Lindner da in Sachen Kruse abliefert. Nur der Teil zur Hirnforschung (der bei Kruse eine größere Rolle spielt) scheint mir in der Kritik etwas unterbelichtet. Die neuere (soziale) Richtung in der Hirnforschung („Social brain“, „Das Gehirn ist ein Beziehungsorgan“ etc.) passt eigentlich sehr gut zum Netzwerkgedanken und zur kollektiven Intelligenz des Web 2.0. Ob Kruse hier Gerhard Roth und Wolf Singer hinter sich lässt, wäre interessant. Es gibt in der Tat erstaunlich wenig „Schriften“ von ihm. Aber schon Jesus… ;-)

    Nein, man sollte die religiösen Vergleiche „Kruse-church“, „Megachurch-Evangelist“ usw. nicht überstrapazieren. Hier wird die Projektion der anderen auf Kruse mit Kruse selbst verwechselt. Das mag ihm schmeicheln, verhindert aber die Wahrnehmung.

    Nicht jedes von einer Rede begeisterte Publikum ist gleich eine Kirche, die einem Heilsbringer bedingungslos in die Wüste folgt. Es ist möglicherweise nur eine verständliche Gegen-Reaktion auf das anhaltende kulturkonservative Internetbashing in den „Leitmedien“.

  13. ob es nun eine soziale hirnforschung gibt oder nicht: das ist völlig wurscht, weil sie hier schlicht nicht benötigt wird. das ist #kultur, wo wir uns hier bewegen, überall da, wo die welt aus #sprache besteht. klar, das hirn ist eh immer da, aber solange man noch nicht ansatzweise verstanden hat (und sich zu verstehen bemüht hat), wie der aufbau von welten-aus-zeichen wirklich funktioniert, hat der rückgriff auf die bio-hardware in der argumentation nichts zu suchen. genausowenig wie spekulationen über urmenschen in der savanne vor 2 mio. jahren, die immer noch als gene in unserem #hirn, usw.

    der epistemologische test: bei jedem kulturbezogenen argument „brain“ streichen und prüfen, ob dann etwas fehlt. es fehlt nie etwas.

    zweitens: es stimmt, das hier beschäftigt sich mit der persona „Professor Peter Kruse“, nicht mit der sympathischen person peter kruse. (ich kenne beide.) das ist schwer klar zu trennen in einer mediengesellschaft und manchmal ein wenig gemein, aber das ist halt so, wenn man den auftritt als exponierte öffentliche figur wählt.

    wahr ist, dass mir die church-of-kruse-gemeinde stärker auf die nerven geht als der meister selbst. das ist tatsächlich ein klein wenig gruslig, wie bereitwillig die schwarm-intelligenz da gelegentlich auf rationalität verzichtet.

    was zu drittens führt: nachträglich würde ich sagen, dass ich das mit der „gezielten strategie“ überbetont habe. tatsächlich wird kruse wohl von der tatsächlich bestehenden leerstelle angesaugt: die mainstreamfähige „stimme des web“ in den medien fehlt ja wirklich. und er wird auch von seiner guru-suchenden gemeinde in eine rolle gedrängt, die er sich nicht so bewusst ausgesucht hat.

  14. Hallo Martin, danke für diesen sehr lesenswerten Text. Danke auch für den Satz „in jedem kulturbezogenen argument “brain” streichen und prüfen, ob dann etwas fehlt. es fehlt nie etwas“ – der spricht mir aus der Seele.

    Ein wenig komisch finde ich aber die grundsätzliche Stoßrichtung des Blogposts: Kruses Positionen werden – da er inzwischen „die Stimme des Deutschen Web in den bürgerlichen Medien“ geworden sei – darauf abgeklopft, ob sie für eine Sprecherrolle „des anspruchsvollen Teils der Blogosphäre“ taugen.

    Ist das nicht ein wenig ungerecht? Ich finde nicht, dass man Kruse als eine solche Stimme bezeichnen kann. Dafür reichen ein FAZ-Verriss und ein ZDF-Auftritt nicht aus. (Der von Dir selbst erwähnte Sascha Lobo zum Beispiel ist Kruse in dieser Hinsicht als Talkshow-Dauergast, Papiermedien-Gastautor und Webillustrierungs-Fotomotiv weit voraus; da sollte man sich von Äußerlichkeiten wie Frisuren nicht ins Bockshorn jagen lassen.)

    Insofern ist Kruse allein von der Netzgemeinde und nicht von den traditionellen Medien zum Sprecher hochgejazzt worden – und muss sich nun anhören, es mangele ihm an einigen Stellen an Substanz, um diese Rolle auszufüllen. Eine kritische Auseinandersetzung mit seinen inhaltlichen Aussagen ohne diesen selbstreferenziell anmutenden Überbau hätte m.E. ebenso seinen Zweck erfüllt.

  15. @peter Mainer: Ibo halte ich nicht für einen Vordenker, auch wenn ich viel von ihm halte und von dem von ihnen verehrten Rafael Capurro habe ich noch nie was gehört, obwohl ich mich brennend für Medienphilosophie interessiere. Clay Shirky, Tim Berners-Lee, Cory Doctorow fallen mir da ein – und noch ein paar andere. Aber kein deutscher.

  16. Es geht in diesem Artikel um „die Stimme des Web“. Ich habe bei den ersten Zeilen sofort an den begnadetsten Redner unserer Zeit gedacht – an Barack Obama. Seine Reden höre ich mir an – von Anfang bis Ende. Sie berühren und begeistern mich. Ich würde mir sehr wünschen, dass mit Peter Kruse ein Revival dieser Redner-Kultur im deutschen Web Einzug hält. Gleichzeitig kann ich die ur-deutsche Angst vor der Verführung durch einen Führer am eigenen Leib nachvollziehen. Es ist also ein gesundes Zeichen, wenn Peter Kruse wie hier kritisch hinterfragt wird. Es sollte nur nicht in Paranois ausarten.

  17. @Thorstena: die bedeutung der öffentlichen persona P.K. ergibts sich ja genau aus der sprecher-rolle und der sprecher-performance, plus vage biografische reputation. sie ergibt sich eben nicht aus K.s thesen, die gar nicht wirklich als thesen verstanden werden, also als etwas, worüber man diskutieren kann und soll. K. löst, vielleicht sogar zum eigenen leidwesen, eben keine diskussionen aus, sondern starke affektive zustimmung oder, als gegenreaktion, ebenso affektive ablehnung. (ich habe versucht, beides zu vermeiden, aber auch mir werden aufgrund des artikels jetzt natürlich ständig ressentiments unterstellt.)

  18. ah ja, und die #megachurchs darf man nicht einfach mit fundamentalistischen sekten gleichsetzen: da gibt es sehr soziale communities, und evangelisten mit einem sehr angenehmen stil. ich dachte eher an solche varianten.

  19. Gut erkannt, gut abgewogen und gut geschrieben! Kruse ist ein unterhaltsamer und kluger Schaumschläger. Klug und unterhaltsam, aber ein Schaumschläger. Ein Schaumschläger, aber klug und unterhaltsam.

  20. Das ist mal Qualitätsjournalismus, wie er sein sollte.
    Ich habe mich in fast allen Argumenten wiedergefunden, und viel neues zum Thema erfahren. Danke dafür.
    Was mich an dem FAZ-Artikel vor allem gestört hatte, war nicht dessen Haltung, ja nicht mal die Polemik, sondern die Schlampigkeit in der Recherche, was ja in der Rubrik „Digitales Denken“ keine Seltenheit ist.
    Ich frage mich, ob es nicht besser wäre, die Antiinternetschülerzeitung der FAZ einfach schreiben zu lassen, und höchstens noch als Stichwortgeber für eigene Überlegungen zu verwenden. Dass Kruse die Leerstelle so leicht besetzen konnte, ohne wirklich durch harte wissenschafliche Fakten überzeugen zu müssen, liegt sicher auch am schwachen geistigen Fundament der anderen Konfession.

  21. Im Rahmen der hier angemahnten „Cluetrainisierung“ hat Peter Kruse auf dem What’s Next-Blog aufgerufen, Fragen zu stellen, die er dann in Blogposts beantworten will.

    http://blog.whatsnext.de/2010/05/fragen-an-peter-kruse/

    meine wichtigsten fragen stehen ja eigentlich hier drin, aber weil ich darum gebten wurde, habe ich die 11 fragen, die mich gerade am meisten interessieren, dort explizit gestellt. (allerdings ist die hälfte davon vermutlich für die breitere öffentlichkeit nicht soo interessant.)

  22. Fakt ist: das Web ist da. Es wird zwar immer noch gerne als „neues Medium“ betitelt, aber in Wirklichkeit ist es längst in der Mitte der allermeisten Alltage angekommen.
    Fakt ist auch: das Web verändert. Quasi alles. Es ist der größte partizipativ und ohne „Meta-Masterplan“ vom Menschen je geschaffene Kulturraum. Es ist eine gewaltige Kulturleistung an sich und immer mehr das Abbild/ Zerrbild selbiger in sich.
    Fakt ist auch: Menschen hängen am Status Quo, streben grundsätzlich in Richtung Stabilisierung ihrer Systeme. Und jetzt kommt dieses freche Web und malt hinter alles trotzdem ständig aufs Neue Fragezeichen, beschleunigt, „überrollt die Ängstlichen…
    Somit ist es dann auch nicht weiter überraschend, wenn vor allem Menschen in Status Quo-Machtpositionen etwas komisch wird und sie sich hilfesuchend nach Rettungsankern, Welterklärern oder schlicht Beratern umsehen.
    Fakt ist dann aber auch: was für eine Scheisse ist das denn bitte, wenn sich genau diese „Beschreiber des Wandels“ mitten in diesem phänomenalen Medium im Namen der Wissenschaft eine Profilneurose nach der anderen um die Ohren knallen und wie bockige Kinder lange Postings zur Untermauerung der eigenen oder Bombardierung der anderen Position abfeuern.
    Diese „wissenschaftliche“ Auseinandersetzung hat absolut keinen Mehrwert. Es werden hier weder neue Wahrheiten ans Tageslicht kommen noch wird irgendetwas davon die Sommerpause überleben noch die Webwelt auch nur einen Millimeter nach vorne bringen. Es geht um gekränkte Eitelkeiten, Recht haben und besser wissen, die alten maskulinen Mechanismen zum Machterhalt.
    Da finde ich Kruse´s Vorgehen, sich in seinem Blog den Fragen zu stellen geradezu erfrischend. Es zeigt, dass er wirklich grundsätzlich etwas verstanden hat und darüber hinaus auch gewillt ist es anzuwenden: zuhören UND sich trauen, mutig und offen zu sein. Und ja, wer aus dem Sessel aufsteht kann auch stolpern aber so ist das eben in diesen „neuen“ Zeiten. Und wer einem aus dem eigenen Aufstehen und damit evtl. verbundenen Stolpern einen Strick drehen will, hat leider noch nichts begriffen. Auch wenn sich das aus dem eigenen Sessel alles so schön einfach beschreiben lässt. In der Bewegung wirds da schon deutlich schwieriger.
    Und das ist es auch was es zu tun gilt wie ich finde, raus gehen und machen, Dinge anpacken und mit der Hilfe dieses „neuen“ Mediums die Welt verändern. Es gibt viel zu tun und dazu gehört diese Debatte hier sicherlich nicht prioritär.

  23. Ich finde es auch immer wieder spannend, klug, gewinnbringend, mutig und teilweise eben auch gewagt im Sinne von nicht gesichert, was Peter Kruse zu sagen hat. Klar ist er auch eitel, aber im Gegensatz zu anderen geht es ihm wirklich um Erkenntnis und Wahrheitssuche, sonst würde er nicht immer wieder einen derart riskanten Kurs segeln. Das und nichts sonst ist der Grund, warum er dieses Kabbelwasser souverän überstehen wird. Daran werden auch die leicht durchschaubaren Hetzkampagnen armer Gestalten ohne jedes Charisma nichts ändern.

  24. Ich denke es ist zum einen richtig, die Emergenz eines neuen, mehr oder weniger mächtigen Funktionssystems in Form einer Gegenöffentlichkeit festzustellen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die (politische) Beteiligung im Internet u.a. stark von der Bildung der NutzerInnen abhängt. Interaktivität findet häufig auch als Ausdruck einer Konsum- und Funkultur statt. („Schau mal das geile Youbtube Video“). Fun gehört auch dazu, sicherlich, ist aber auch eine – z.T. unbewusste – Strategie der Kulturindustrie, die neoliberalen Zumutungen, bzw. die schrittweise Zerstörung des Sozialstaats auszublenden. Hierin trifft sich der konsumistische Imperativ der gobalen Medienunternehmen mit den Kapitalinteressen der zu immer grösseren Konglomeraten fusionierenden Unternehmen. Wenn Jenkins von einer Converged Culture zwischen Unternehmen, Staat, Bürger und Konsumenten spricht, dann klingt dies für mich nach aufgehen der Lebenswelt im System. Ich denke, dass angesichts von Veröffentlichung des Privaten gerade die Rückgewinnung von autonomer, nicht-mediatisierter Lebenswelt eben auch zentral ist. Erst Intimität und Privatheit ermöglichen politische Öffentlichkeit.

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